Kleine Geschichte der Gentrifizierung – oder wie ein Stadtteil sein menschliches Antlitz verlor.

Februar 1987. Dresden, ach Dresden. Einem jeden von uns blutet das Herz beim Gedanken daran, dass wir die Stadt vielleicht schon in wenigen Wochen wieder verlassen müssen. Wann hat man je einen Ort von solch erhabener Schönheit gesehen? Das heißt, eigentlich ist die Stadt ja weniger schön mit all ihren noch immer sichtbaren Kriegswunden und -narben, als dass man ihre einstige Schönheit noch immer erahnen kann, und an manchen Stellen schwingt sie sich zu voller Blüte auf. Im Zwinger zum Beispiel, ja, ich erinnere mich noch gut an unseren Besuch dort im letzten Juni. Tschemuschin, unser damaliger Alter und ein echter Schlächter, hatte uns – damals noch blutige Grünschnäbel kurz nach dem Grundwehrdienst – die halbe Nacht lang traktiert: antreten, Liegestütze, die Nationalhymne singen, hinlegen, wieder antreten… und so weiter. Und dazwischen mit Schlägen und Tritten nicht gespart. Der Teufel soll in holen, den alten Drecksack. Am nächsten Tag sind wir jedenfalls völlig ramponiert zu dem Ausflug aufgebrochen, auf den wir uns alle so gefreut hatten – fest entschlossen, uns das von keinem verfluchten Tschemuschin der Welt verderben zu lassen. Der Zwinger war beeindruckend, besonders die Inschrift dieses Teufelskerls Hanutin, des Minenräumers, die auch über 40 Jahre später noch in der Zwinger- und auch an der Schlossmauer erkennbar ist.
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Doch auf dem Weg dorthin offenbarten sich uns in einem Anflug von grausamem Realismus die Schattenseiten der Stadt. Ein Viertel unweit unseres Städtchens, fast scheint es von Gott und aller Welt vergessen: dreckig, die Häuser schwarz von Ruß und Abgasen, manche kriegsversehrt, vor sich hinmodernd oder bereits ruinös, nur teilweise noch bewohnt. Tschemuschin lachte grimmig, als er unsere betroffenen Blicke angesichts all des Verfalls sah, an dem wir mit der Straßenbahn vorbeiholperten. Es war unser erster richtiger Ausflug aus der Kaserne gewesen und irgendwie hatten wir mit so viel offensichtlichem Elend in einem Land, das bei uns daheim für seine Fortschrittlichkeit bewundert wurde, nicht gerechnet. „Soll eh alles bald weg“, hatte Tschemuschin, der verwitterte Mittdreißiger, abfällig hinter seiner Zigarette hervorgenuschelt. „Wird mal ein echtes Sternenstädtchen, alles neu und sauber. Aber nicht für so kleine Verlierer wie euch. Da kommen die Anständigen hin, die Fleißigen, die, die dem Vaterland Ehre machen.“

Was Tschemuschin, die anderen und auch ich damals nicht wussten: Das Viertel, die Neustadt, am nördlichen Elbufer gelegen, wird nicht fallen zumindest nicht sofort. Und es gibt auch noch Menschen, die dort wohnen. Sie wird nicht fallen, weil sich viele dieser Bewohner dagegen organisieren werden. Sie werden auf die Barrikaden gehen, um ihre Heimat vor dem Abriss zu retten – und damit auch ein Stück Kultur- und Lebensraum. Die Neustadt ist für sie ein Refugium, in dem sie sich vergleichsweise frei bewegen können, wo in verfallenen Hinterhöfen kreative Impulse Raum finden, sich zu entfalten, wo sich verräucherte Kneipen, Ateliers und Wohnungen auf wundersame Weise in abrissreifen Häusern halten. Viele junge Familien wohnen dort, Studenten, Künstler, die junge Intelligenz, aber auch gesellschaftlich Ausgestoßene, Penner. Omelnitschenko, Unterleutnant und der Zugführer unseres achten Panzerausbildungszuges unserer vierten Kompanie des ersten Bataillons, hat mir nach einem seiner mehr oder weniger legalen Ausflüge in eine bei sowjetischen Offizieren beliebte Bar im besagten Viertel in lebendigen Farben davon erzählt. Omelnitschenko ist in Ordnung, man kann im vertrauen. Einer der wenigen hier aus dem Offizierskorps. Hat mir sogar versprochen, mich mal dorthin mitzunehmen, sollte ich nach der Ausbildung in Dresden stationiert werden und meine Balken erhalten. In der Neustadt, so schilderte nun Omelnitschenko, herrsche quasi Anarchie. Dort lebe jeder, wie es ihm gefiel, und ein allseits bekannter Wirt weise jedem, der nachfragte, den Weg in eine Kommunalka in einem besonders verfallenen Haus, in der freie Liebe praktiziert werde – jeder mit jedem. Der gute Jaschka Omelnitschenko, kaum zwei Jahre älter als ich, hat mich geneckt und ausgelacht, weil ich ganz rote Ohren bekommen hatte. Nun ja, ich gestehe, wir Kursanten haben hier nach einem halben Jahr auf dem Trockenen alle ein ziemliches Defizit in Sachen Liebe entwickelt – und anderthalb weitere Jahre noch vor uns!

So ist das also mit dem hässlichen Dresden: Die Neustadt, eine Enklave wie aus einer anderen Welt. Und deren Bewohner, deren harter Kern der Kampf um Wohn- und Lebensraum und um freie Entfaltung zusammengeschweißt hat. Wahrscheinlich wissen sie ganz genau, dass die sozialistisch-futuristischen Neubauten, die hier geplant sind, nicht für sie gedacht sind. Aber vielleicht können sie sich auch einfach gar nicht vorstellen, in solch beengten Verhältnissen, in einem mit dem Lineal gezogenen, tristen Trabanten, zu hausen? 10000 Menschen leben noch in der ausblutenden Neustadt. Immer mehr ziehen weg. Würden die Neubaupläne verwirklicht, würden es plötzlich Zigtausende sein, die sich dieselbe Fläche teilen müssten, zu teureren, für viele unerschwinglichen Mieten. Der Kampf dieser Menschen um ihr Stückchen Heimat und sei sie auch in einem noch so desolaten Zustand, und die vielen Geschichten und Mythen, die sich in unseren Reihen um das angeblich freizügige Leben dort ranken, faszinieren mich auf eine Weise, die schwer zu erklären ist. Bei uns daheim kenne ich niemanden, der mit derartigem Verve um ein paar alte Bauten kämpfen und sich dafür auch noch mit der Staatsmacht anlegen würde. Denn das werden sie. Zunächst mit Erfolg.

Jahre später.

Die Neustadt wurde nicht abgerissen, stattdessen kam die Wiedervereinigung. Unsere Truppen jagten die Deutschen zum Teufel, gut, dass ich das nicht mehr miterleben musste. Aber im Prinzip fand ich es richtig so. Fast 50 Jahre waren doch wirklich genug. Zumal ich von Jaschka wusste, dass wir einfachen Jungs vielen Deutschen einfach nur leidtaten. Und nichts könnte schlimmer sein als bemitleidet zu werden. Dabei konnten einem eigentlich die Deutschen leidtun: zu Befehlsempfängern degradiert im eigenen Lande und der Willkür einer fremden Macht vollends ausgeliefert. Das änderte sich nun schlagartig. Und die logische Konsequenz für uns konnte nur lauten: Abzug. Und überhaupt hatten wir ja alsbald bei uns daheim mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen.

Aber was wurde aus der modrigen Neustadt, die mich so fasziniert hatte? Sie wurde zum Sanierungsgebiet. Es gab also erst mal kaum neue Häuser, sondern die alten, eigentlich so herrlichen Gründerzeitbauten wurden aufwendig saniert, manche abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Die Neustadt füllte sich langsam wieder mit Leben. In den folgenden 30 Jahren wird sich die Zahl ihrer Bewohner fast verdoppeln. Doch die Menschen, die damals so gekämpft haben, haben den Kampf trotzdem verloren. Sie kämpften ja nicht nur um den Erhalt der Bausubstanz, sondern vorrangig um ihre Lebensphilosophien und Träume, um das, was sie in all den Jahren der Nichtbeachtung durch den Staat mit eigenen Händen geschaffen hatten. Das waren vor allem soziale Errungenschaften: Arbeitslosentreffs, trockene Wohnungen für Familien und alte Menschen, Räume für Kunstschaffende, Kinderspielplätze, Straßenfeste – alles Dinge, die der Gemeinschaft dienten, nicht dem Einzelnen. Von alledem ist heute kaum etwas geblieben. Die Häuser sind neu und schick – aber sie gehören nicht mehr den Menschen, sondern raffgierigen Kapitalisten – so wie fast alles andere auch. Raum für freie Entfaltung gibt es kaum noch. Die Menschen treten sich gegenseitig auf die Füße, und der einstige Geist von Freiheitlichkeit, Aufmüpfigkeit und Solidargedanke ist im Grunde hinweggeblasen, niedergewalzt von der Planierraupe des Kapitalismus. Längst ist sich in der Neustadt jeder selbst der Nächste. Anders als damals hat das Viertel heute den Ruf eines Party- und Amüsierviertels weg. Die Straßen sind gesäumt von Kneipen, ein Club reiht sich an den nächsten, schließt der eine, öffnet ein anderer. Und die Betreiber rühmen sich gar des Monsters, das da erschaffen wurde, ja sie wetteifern förmlich um den Status des Wegbereiters dieser „neuen Neustadt“. Und sie sehen sich – und das ist das eigentlich Groteske dabei – in der Tradition ausgerechnet jener, für deren Träume sie im Grunde zum Totengräber wurden. Es ist ein seltsames Klima, wenn man durch die Straßen geht: ein Viertel, das in sich selbst verliebt ist für etwas, das es längst nicht mehr ist, das nur noch als Tagebucheintrag in den Aufzeichnungen der Altvorderen existiert, als gerahmtes Kalenderblatt in der Stadtteilchronik des hiesigen Museums.

Bei uns daheim gibt es ein schönes Sprichwort: „Alle sind Leute, doch längst nicht alle auch Menschen.“ Damals, als ich kurz vor meiner Entlassung aus der Armee im Herbst 1988 mit Jaschka durch die Neustadt lief, traf ich fast ausschließlich Menschen. Gute, herzliche Menschen, denen die Gemeinschaft am Herzen lag. Die meisten waren arme Künstler, Querdenker oder hart arbeitende Leute, aber alle anständig und ehrlich und tief mit ihrem Viertel verwurzelt. Mit dem wenigen, was sie hatten, versuchten sie es zu verschönern, bunt zu machen. Sie halfen einander gegenseitig dabei und versetzten auf diese Weise ganze Häuser wieder in einen bewohnbaren Zustand. Manchmal versteckten sie auch Unsere, wenn manche sich unerlaubt aus der Kaserne gestohlen hatten, um ein wenig Spaß zu haben, und ihnen die Schasskommandos auf den Fersen waren. Sie haben mein Bild von den Deutschen tiefgreifend verändert. Zum Positiven.

Wenn ich heute durch die Straßen der Neustadt gehe, ist nichts von der alten Faszination geblieben. Ich sehe ein Viertel wie so viele andere: protzig, geschäftig, übervölkert, eng, schmutzig und nur ganz vereinzelt noch trotzig – und wenn, dann an den falschen Stellen. Aufmüpfigkeit äußert sich allenfalls noch im Herumgelunger auf Straßen und Gehwegen, in den Grafitti an den Hauswänden, weniger in geistiger Beweglichkeit und solidarischer Initiative. Stattdessen hat der Profit das Ruder übernommen. Längst ist es wichtiger geworden, dass der eigene Laden läuft, sich selbst darzustellen, als dass die Nachbarn in ihren Wohnungen ruhig schlafen können. Schmutz und Lärm aus unzähligen Clubs und Restaurants verlangen den Bewohnern immer mehr Nervenstärke und Kompromissbereitschaft ab. Viele der Menschen, die damals für den Erhalt eines Gemeinwesens kämpften, sind lange schon fort. Geflohen vor dem Moloch, den die Entourage der Modernisierung und Erneuerung erschuf – auch gern als Gentrifizierung bezeichnet. Die alten Idealisten von damals – sie waren machtlos gegen die gewaltige Sogkraft des Geldes und gegen das Besitzdenken, sie passten sich an oder warfen schließlich ernüchtert das Handtuch.

„Auf der Wiese der Hoffnung weiden viele Narren“… noch so ein altes russisches Sprichwort. Sie haben wirklich geglaubt, sie könnten die Neustadt retten und die weitere Entwicklung des Viertels dauerhaft im Sinne des Gemeinwesens gestalten. Und scheiterten, nachdem die DDR Geschichte war und andere den neuen Zeitgeist für sich arbeiten ließen. Sie brauchten gar nicht viel dafür zu tun. Fast schon ein – wenn auch trauriges – Musterbeispiel für die Systematik des Kapitalismus, das jedem sowjetischen Sachbuch über den Marxismus-Leninismus zur Ehre gereicht hätte.

So viel dazu, wie der Lauf der Dinge sich manchmal auf unschöne Weise verselbständigt. Wirklich schändlich aber ist der teils schmutzige Kampf um die verbliebenen Ressourcen im fast totgespielten Viertel. Mit dem Tempo, mit dem die letzten Freiflächen mit Wohnhäusern vollgestopft werden, wächst auch das Gerangel um Vorrechte, Besitzansprüche und Deutungshoheiten. Wer war zuerst da? Bewohner oder Kneipen? Es ist verlockend, auf den Neustadt-Express aufzuspringen, der mit so originell klingenden Attributen wie „alternativ“ und „Szeneviertel“ mit Werten für sich wirbt, die längst an den Rand gedrängt wurden vom routinierten Alltag eines Handels- und Geschäftsviertels. Wohnungen werden immer teurer – und die Clubs immer lauter, um sich gegen die wachsende Konkurrenz durchzusetzen. Was ironischerweise immer seltener gelingt. Ihre Gäste kommen oft von außerhalb und treiben die Einheimischen nachts mit Gegröhle und Gelächter und am nächsten Morgen durch ihre zahlreichen Hinterlassenschaften in Straßen und Höfen in den Wahnsinn. Die Clubs selbst wiederum rauben den Anwohnern mit allnächtlichem Bass-Gedröhn den Schlaf. Es ist mir ein Rätsel, warum so viele Leute das mehr oder weniger klaglos über sich ergehen lassen. Zu Zeiten unseres guten alten Leonid Iljitsch wären solche Chaoten im Arbeitslager gelandet. Doch wer sich in der Neustadt beschwert, der sieht sich sofortigen Überprüfungen auf „Stallgeruch“ ausgesetzt: Wieso ziehst DU hierher, wenn’s dir hier bei UNS nicht gefällt? Wenn DIR egal ist, was WIR hier geschaffen haben? Da wird von „Kulturschutz“ gefaselt, wo eigentlich der Schutz der eigenen Geschäftsinteressen gemeint ist, die möglichst unbehelligt bleiben sollen von den berechtigten Interessen der Anwohner. Und wenn wir schon dabei sind: Ja, die Bewohner waren zuerst da! Als ich in die Neustadt kam 1988, da gab es eine Handvoll Kneipen, die ohne die Menschen im Viertel aufgeschmissen gewesen wären, und ansonsten einfach Menschen, die hier lebten und versuchten, das Beste draus zu machen. MITEINANDER, nicht gegeneinander. Heute dagegen sind den Kneipiers die Anwohner meist herzlich egal, interessant ist vielmehr, dass die hauptsächlich auswärtigen Gäste genug Platz zum Parken haben und die Musik möglichst bis fünf Uhr morgens auf voller Lautstärke laufen kann, damit die Bude voll bleibt und der Rubel rollt.

 

Um ehrlich zu sein: Die Leute, die hier heute wohnen, haben mein Deutschen-Bild erneut nachhaltig erschüttert. Diesmal zum Negativen Ich dachte immer, die Deutschen wären ein kluges, kultiviertes Volk. Aber das Geld und der Profit haben sie zu willenlosen Sklaven gemacht, die fast ausschließlich an sich selbst und das eigene Fortkommen denken. Kaum irgendwo lässt sich das anschaulicher beobachten wie in der Dresdner Neustadt.

Drei Jahre nachdem ich aus Deutschland nach Hause zurückkehrte, putschten die Reformisten um Boris Jelzin gegen die Kommunisten. Eines ihrer Hautquartiere lag nur ein paar Hundert Kilometer südlich von Sewerouralsk, in Swerdlowsk, dem heutigen Jekaterinburg. Vor sechs Jahren bin ich mit der Frau in einen Vorort Jekaterinburgs gezogen, um im Alter doch etwas näher an den medizinischen Versorgungszentren und bei den Kindern zu sein, von denen zwei schon seit Langem in Jekaterinburg leben. Sadovny hat etwas mehr als 3000 Einwohner. Es gibt im Zentrum einen kleinen Boulevard mit einigen netten Geschäften, Cafés. Wenn ich mit meiner Frau abends ausgehe, dann kehren wir in Ninotschkas kleiner Wirtschaft an der Baltym ein. Im Grunde ist hier auch 25 Jahre nach dem Ende des Kommunismus noch alles wie eh und je, nur die neuen Häuser hinter dem Teich zeugen von der Veränderung. Viele neureiche Jekaterinburger bauen sich hier draußen im Grünen ihre Wochenendsitze. Aber das ist nicht vergleichbar mit den Eintwicklungen in Dresden, der Stadt, in der ich zwei Jahre meiner Jugend zubrachte. Als ich nun von einem Besuch, auf den ich mich gefreut hatte wie ein kleines Kind und den ich im Großen und Ganzen auch sehr genossen habe, wurde mir eines klar: wie glücklich ich in meiner kleinen, dörflichen Welt doch bin, wo sich die Menschen gegenseitig achten, einander helfen und sich vor allem als Menschen betrachten, nicht als Kaufkraftfaktor.

Aus einer wolfslosen Zeit.

Gestern herrschte große Aufregung in unserem Dresdner Städtchen (so nennen wir unsere Kasernen) – die erste große Übung des Jahres! Die Schlange der LKW, die uns abholten, war so lang, dass sogar die breite Straße vor der Kaserne, die Fischer-Allee heißt, stundenlang gesperrt werden musste. Wird die Deutschen geärgert haben, weil das hier oben die Hauptverbindung zur Autobahn ist. Naja, neu war das nicht. Wir kennen das schon aus dem letzten Jahr. Dafür konnten unsere Grünschnäbel vor lauter Aufregung nachts kaum schlafen. Obwohl das wahrscheinlich auch Korsakows Sonderbehandlung zu verdanken war: Zwei der „balkenlosen“ ließ er die ganze Nacht Wache stehen – zur Vorbereitung, wie er sagt.  Fünf andere mussten unsere Stiefel, Kragen und Koppel auf Hochglanz bringen. Am Morgen hatten sie blaue Ringe unter den blutunterlaufenen Augen, und Korsakow kassierte auch noch ihre Marschverpflegung ein – zur Abhärtung, wie er sagt. Mir tun sie leid, obwohl ich das auch alles durchhabe. Aus einer wolfslosen Zeit. weiterlesen

Von Medien und Vertrauen

Heute Morgen in der Kurilka: Eingenebelt in die vertrauten Rauchschwaden und geschützt durch die bröckelige Mauer der Panzerhalle, neben der wir hinter einem selbst gezimmerten Bretterverschlag auf ausgedienten Ural-Reifen sitzen, kommt das Gespräch im Flüsterton auf ein allgegenwertiges Thema: Den heutigen Medien könne man nicht mehr vertrauen, meint Korsakow, der es mit seinen 23 Lenzen immerhin schon zu drei ausgefallenen Zähnen und einem Ausbilderposten und damit zu einigem Einfluss geschafft hat – dafür, dass er vor der Armee in der Küche der Dorfkolchose das Essen ausgegeben hatte. Von Medien und Vertrauen weiterlesen

Zwischen Nostalgie und Demütigung: die ehemalige sowjetische Mittelschicht und die Wiedervereinigung

Wohnung für Fähnriche in Forst Zinna.
Wohnung für Fähnriche in Forst Zinna.
Zeigt man ehemaligen Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte, die einst in der DDR ihren Dienst versahen, Bilder vom heutigen Zustand der noch erhaltenen, aber vielfach dem Verfall preisgegebenen früheren Liegenschaften, ist die Reaktion häufig dieselbe: „Grausam!“ sagt Wladimir aus Polotzk (Weißrussland), als er die Ruinen der Kasernenanlage in Ribnitz-Damgarten sieht – und bedankt sich zynisch beim „Friedensnobelpreisträger“. Gemeint ist damit Michail Gorbatschow, der einst als KPdSU-Chef mit Hans-Dietrich-Genscher die Verträge zur deutschen Einheit aushandelte. Andere werden noch deutlicher und werfen den Deutschen vor, „keine Kultur“ zu haben. „In unseren Zeiten waren all diese Kasernen top gepflegt. Erst nahmen die Deutschen sie uns weg, und nun lassen sie sie einfach verfallen, dabei heißt es doch immer, sie seien so reich, gebildet und zivilisatorisch hoch stehend“, schimpft Zhanna, ebenfalls aus Weißrussland. Es schwingt Wut darin mit, und auch ein Hauch einer nie überwundenen Demütigung. Beide sind heute um die 60. Sie kennen die Sowjetunion noch zu Zeiten scheinbarer Blüte, weil ihnen die ersten Anzeichen des Zerfalls und seine strukturbedingten Hintergründe verschwiegen wurden – den Zusammenbruch 1991 erlebten sie entsprechend unvorbereitet, als einschneidende Zäsur. In den postsowjetischen Gebieten sind sie eine langsam aussterbende Generation. Und das scheinen sie auch genau zu wissen.

Auf Kriegsschuld und Pump gebautes Wirtschaftswunder

In den 60er- und 70er-Jahren befanden sich Gesellschaft und Wirtschaft in der sowjetischen Heimat bereits in einem Zustand tiefster Stagnation – das wohl herausragendste Merkmal der insgesamt 18 Jahre währenden Brezhnew-Ära. Zwar setzte „Väterchen Ljonja“ den unter Chruschtschow begonnenen Kurs der Entstalinisierung – wenn auch mit stark verminderter Intensität – fort. Doch vermochte er es eben nicht, Lösungen für eine Situation zu finden, in der das vor allem auf den Reparationsleistungen der DDR gebaute Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre aufgrund des ausbleibenden Nachschubs an moderner, zeitgemäßier Technik zu bröckeln begann. Denn diese Quelle versiegte mit den Jahren. Tausende hochspezialisierte ostdeutsche Wissenschaftler, die nach dem Kriegsende in die UdSSR zwangsdeportiert worden waren, kehrten im Zuge der proforma-Unabhängigkeit der DDR im Jahr 1954 in ihre Heimat zurück – und hinterließen im sowjetischen Kernland klaffende Lücken.
Es sind jene Jahre, in denen die gebürtige Russin Zhanna aus der Brjansker Region in die DDR kommt. Mit ihren Eltern zieht sie 1955 in eine Kaserne im anhaltinischen Hillersleben, besucht die dortige 45. sowjetische Grundschule. Vier Jahre später zieht die Familie weiter nach Oschatz, wo das Mädchen die sowjetische Mittelschule besucht. Fast ihre gesamte Jugend verbringt Zhanna in der DDR – bis es 1965 zurückgeht – zunächst ins russische Woronesch, wo sie die Schule abschließt und Forstwirtschaft studiert, später ins weißrussische Gomel. Bis heute glaubt sie an das fortschrittliche Leben in der Sowjetunion, die heldenhafte sowjetische Armee. Der Westen hat ihnen all das genommen, dessen ist sie sich sicher – und Michail Gorbatschow hat alles für ein paar Milliarden verraten und verkauft. Viele, die damals profitierten und wie Zhanna eine sorglose Jugend in schicken Neubauwohnungen verbrachten, die sich das Militär auf DDR-Rechnung bauen ließ, denken so. Für sie ging mit dem Zusammanbruch 1991 ein Traum kaputt – der Traum eines kommunistischen Lebensideals, das nur für eine verschwindend geringe Zahl von Sowjetbürgern tatsächlich Realität und das im Wesentlichen auf Pump und Kriegswirtschaft gebaut war. Von den Macken des Systems und deren Auswirkungen auf die Versorgungslage in der Gesellschaft waren sie am wenigstens betroffen. Folglich waren gerade von den in der DDR stationierten Armeeangehörigen überdurchschnittlich viele als linientreu und absolut loyal gegenüber der sowjetischen Ideologie einzustufen.

Wettrüsten und Propaganda statt sozialem Wohlstand

Die marxistisch-leninistische Staatsdoktrin mit dem Feindbild Westen, die Armee und mit ihr untrennbar verbunden der Kult um die Errettung der Welt aus dem Faschismus durch den sowjetischen Sieg im Großen Vaterländischen Krieg bildeten den Kitt, der Staat und Gesellschaft auch in wirtschaftlich schweren Zeiten zusammenhalten sollte. Von der Entspannung der außenpolitischen Krisen während der ersten Jahre unter Brezhnew kam beim kleinen Sowjetbürger fast nichts an, denn an der zentral geführten, konkurrenzunfähigen Wirtschaft änderte sich nichts, ebenso wenig wie an der auf ständige Wehrhaftigkeit ausgerichteten, durchmilitärisierten Gesellschaft. Wovon die kleine Zhanna in der DDR freilich nichts mitbekam: Mangel und Verfall machten sich in der UdSSR vor allem im sozialen sowie im Versorgungssektor breit. Während der Anteil der Ausgaben für Bildung und Erziehung am Bruttsozialprodukt in der UdSSR zu Zhannas Grundschulzeit 1956 noch bei fast konkurrenzlosen 4,4 Prozent gelegen hatte (USA: 2,4 Prozent, BRD: 2,2 Prozent, DDR: 3,8 Prozent), war er bereits 1962 auf knapp 3,8 Prozent gesunken. Andere Staaten, allen voran Schweden (6,0) und Norwegen (5,0), aber auch die DDR (4,3) und die CSSR (4,0), hatten die Sowjetunion da längst überflügelt (vergl.: Hedtkamp). Stattdessen waren die Rüstungs- und Militärausgaben auf konstant hohem Niveau geblieben. Auf der Höhe der Ära Brezhnew im Jahr 1979 gab die Sowjetunion immer noch 14 Prozent ihres Bruttosozialproduktes für Rüstung und Militär aus – um ein Drittel mehr als etwa die USA. Entziehen konnte sich dem kaum jemand, schon deshalb nicht, weil viele Millionen Sowjetbürger mittlbar oder unmittelbar in der Rüstungsindustrie oder beim Militär beschäftigt waren. Von klein auf wuchs jeder in seine Rolle als Diener seines Staates hinein. Schwach war der, der dies auch offen zeigte und eingestand – und genau da setzte auch die staatliche Propaganda an.

IMG_0094In den Kasernen in der DDR wurden ab den 60er-Jahren verstärkt bunte Plakate aufgehängt. Wer genau hinschaut, findet sie noch heute in großer Zahl in den Ruinen. Sie erzählten von den vermeintlich „großen Erfolgen“ der sowjetischen Wirtschaft: „2300 Kilometer neue Eisenbahnstrecken fertiggestellt“, oder auch „80-82 Milliarden Eier produziert“ stand darauf. Das alles sollte über einige unangenehme Wahrheiten hinwegtäuschen. Zum Beispiel darüber, dass Mitte der 70er-Jahre die Planungen der sowjetischen Ökonomen aufgrund des wachsenden Rückstandes gegenüber westlichen Industrienationen zunehmend bescheidener ausfielen. So peilte man im Fünfjahresplan von 1976 für das Jahr 1980 gerade einmal 85 Prozent des Nationaleinkommens der USA des Jahres 1975 an. Auch dieses Ziel wurde verfehlt. Den Vorsprung in Sachen Elektronik und Kommunikation hielten die USA 1976 gar für so groß, dass sie in Erwägung zogen, den Exportstopp für kommunistische Zielländer aufzuheben, den man für hochspezielle Computertechnik eingeführt hatte. So also waren die Zeiten, als Zhanna und Wladimir in der DDR lebten.

Die DDR – sowjetische Parallelwelt auf Staatskosten

Wer dazu die Gelegenheit erhielt, erfuhr in der Tat ein seltenes Privileg. In der Regel fand man in der DDR Verhältnisse vor, die oft Welten von dem entfernt waren, was die Sowjetunion an – häufig noch kriegsgeschädigter – Infrastruktur zu bieten hatte. Die solide Gebäudesubstanz der Kasernen aus der Kaiserzeit, die die sowjetischen Sieger 1945 übernommen hatten, war in den 50er- oder auch in den 70er-Jahren tatsächlich noch in gutem Zustand. Wenn Zhanna oder Wladimir dieselben Gebäude allerdings gegen 1992 noch einmal betreten hätten, wäre ihnen deutlich vor Augen geführt worden, dass der Verfallsprozess längst begonnen hatte, als die Okkupationstruppen noch anwesend waren. Wenngleich viele der Gebäude damals rein baulich gesehen tatsächlich noch zu retten gewesen wären. Investitionen in den Erhalt von Infrastruktur auf fremdem Boden schien im Kreml wenig zielführend angesichts einer Lage, in der selbst Bildungsausgaben gekürzt wurden, um die Rüstung weiter auf hohem Niveau zu halten. Diese Aufgaben betrachtete man vielmehr als Angelegenheit der DDR-Führung, die bis zur Wende für die Kosten der Besatzung aufkommen musste: jährlich zwischen zwei Milliarden zu Beginn und 800 Millionen Mark am Ende – was bis zu 9 Prozent des staatlichen Verteidigungshaushaltes entsprach. Insgesamt schätzen Ökonomen, dass die DDR ab Kriegsende 1945 bis zum Jahr 1953 allein knapp 100 Milliarden Mark (zu damaligen Preisen) und damit 98 Prozent aller gesamtdeutschen Reparationen an die Sowjetunion leistete – die milliardenschwere Truppenpräsenz bis zur Wende 1989/90 ist darin noch nicht abgebildet.

Konversion – Milliardenfass ohne Boden

IMG_5613-swAls die Truppen 1992-1994 aus Deutschland abzogen, ließen sie fast 800 Kasernenanlagen, 47 Flug- und 116 Truppenübungsplätze zurück. Fast alle waren toxisch kontaminiert und mit Munition belastet. Die Beseitigung all dieser überwältigenden Schäden hat den deutschen Steuerzahler in der Vergangenheit unzählige Summen gekostet. Nicht immer haben private Investoren diese Aufgabe dem Staat abgenommen. Allein die Umnutzung und Rekonstruktion der Kasernenanlagen in der Dresdner Albertstadt hat den Freistaat Sachsen und die Stadt Dresden in den vergangenen 20 Jahren mehrere Hundert Millionen Euro gekostet. Und noch immer ist nicht jede Brache verschwunden.
Noch viel stärker betroffen ist das Land Brandenburg, auf dessen Territorium sich ungleich mehr ehemalige sowjetische Liegenschaften sowie der Mammutanteil der Truppenübungsplätze befanden. 96000 Hektar Konversionsfläche (von ursprünglich 230000 Hektar militärisch genutzter Fläche) übernahm das Land 1992 aus dem Vermögen der Bundesregierung, darunter 80 Kasernenkomplexe rings um Berlin, 26 Wohngebiete, 19 Flug- und 60 (!) Truppenübungplätze. Erste Bestandsaufnahmen ergaben damals, dass schon die wichtigsten Maßnahmen zur unmittelbaren Gefahrenabwehr wie Dekontamination und Bestandssicherung 5,5 Milliarden D-Mark kosten würden. Angesichts dieser Summen musste die Umnutzung planvoll und unter den Maßgaben städtebaulicher Entwicklung erfolgen. Das hieß: Renoviert und zivil umgenutzt wurden vor allem jene Kasernenanlagen in attraktiver Lage im Einzugsgebiet Berlin, die ein Potenzial als Wohn- oder Gewerbestandort aufwiesen. Diese konnten zum Teil auch ohne Probleme an private Investoren veräußert werden. Was jedoch zu weit ab vom Schuss lag oder in zu schlechtem Zustand war, verfällt häufig bis heute oder wurde längst abgerissen.

Ehemaliger Luftwaffenstützpunkt Rangsdorf.
Ehemaliger Luftwaffenstützpunkt Rangsdorf.
Lenin vor dem Haus der Offiziere in Wünsdorf. Seit 1994 steht das prachtvolle Gebäude leer.
Lenin vor dem Haus der Offiziere in Wünsdorf. Seit 1994 steht das prachtvolle Gebäude leer.
Ein wahrhaft gigantisches Modellprojekt zur Entwicklung ehemaliger militärischer Liegenschaften ist bis heute die Waldstadt bei Wünsdorf. Seit 1953 abgeschirmtes Städtchen und Schaltzentrale der sowjetischen Besatzungstruppen in Ostdeutschland, lebten hier einst 30000 sowjetische Soldaten und Familien bei 5000 Einheimischen. Über 500 Hektar Fläche wollten hier von militärischer in zivile Infrastruktur umgewandelt werden. Bis heute haben Konversionsbemühungen und Bestandssicherung dort Hunderte Millionen Euro an Landesmitteln verschlungen, hinzu kommen ungezählte Millionen an Bundesmitteln für die Beseitigung von Altlasten. Doch gerade die Waldstadt zeigt, wie sehr man sich mit der zivilen Umnutzung auch verrechnen kann: Viel geringer fiel das Interesse am neu geschaffenen Wohnraum 50 Kilometer vor Berlin aus, als ursprünglich gedacht. 30 Prozent der Wohnungen im ehemaligen Oberkommando der Westgruppe blieben leer. Fehlinvestitionen in Höhe von einer halben Milliarde Euro ließen die federführende Landesentwicklungsgesellschaft (LEG) 2001 in die Liquidation taumeln.

Das Beispiel zeigt, wie kostenaufwendig und risikoreich die Umnutzung ehemaliger militärischer Liegenschaften gerade in weniger entwickelten Regionen war und ist. Nichtsdestotrotz zeigt es auch die zahlreichen Bemühungen von Staat, Ländern und Kommunen, die frei gewordene Bausubstanz einer sinnvollen Nachnutzung zuzuführen – und das, obwohl absehbar war, dass die halbe Million Menschen, die diese Gebäude zuvor bevölkert hatten, bei abnehmender Bevölkerungszahl unmöglich zu kompensieren sein würden. Wer sollte denn den Wohnraum beziehen, den sie hinterließen? Zumal gleichzeitig in den Städten und Gemeinden riesige Sanierungswellen zur Wiederherstellung der zu DDR-Zeiten häufig verfallenen Altbausubstanz anrollten.

Wie viel Geld genau seit 1994 in das Mammutprojekt Konversion geflossen ist, hat bislang niemand bilanziert. Allein das Land Brandenburg investierte bis heute mehr als zwei Milliarden Euro in die Entwicklung bzw. Revitalisierung ehemaliger Sowjetischer Liegenschaften. Ein Vielfaches wird nötig sein, um alle verbliebenen Schandflecken zu beseitigen. Im gesamten Osten dürften es viele viele Milliarden gewesen sein. Hinzu kommen die laufenden Kosten für Pflege und Erhalt sowjetischer Ehrenmale und Friedhöfe, auf denen seit der Wende der deutsche Staat sitzen bleibt. Die Regierungen der postsowjetischen Staaten fühlen sich oft selbst für solche Anlagen nicht zuständig, die nicht explizit unter das Gräbergesetz oder die Vereinbarungen der 2+4-Verträge fallen.

Entschädigungen und Aufbauhilfen in zweistelliger Milliardenhöhe

Nicht vergessen werden darf – und das konnte als absolutes Novum in der Geschichte gelten -, dass die Bundesrepublik die ehemalige Besatzungsmacht im Rahmen der 2+4-Verträge für die Aufgabe der seit dem Kriegsende beanspruchten Gebiete großzügig entschädigte. 15 Milliarden Mark flossen sofort. Wohnungsbauprogramme im Wert von weiteren 8,3 Milliarden Mark an mehr als 40 Standorten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sollten zudem helfen, die größte Not der schlagartig heimkehrenden Hunderttausenden Offiziere und Familienangehörigen zu lindern, die daheim nicht selten alle Zelte abgebrochen hatten und nun auf eine Situation trafen, in der die Lage auf dem Wohnungsmarkt auch so schon prekär genug war. Nach dem völligen Zusammenbruch 1991 hatte die Bundesregierung dem wirtschaftlich am Boden liegenden Russland zudem Kredite in Höhe von 24 Milliarden Mark gewährt. Mit 50 Milliarden stand das Land damals bereits allein aus Sowjetzeiten bei der BRD in der Kreide, 15 weitere schuldete es noch der untergegangenen DDR – und damit ebenfalls der BRD. Die Gesamtschuldenlast belief sich damit im Jahr 2001 auf rund 89 Milliarden D-Mark, von denen Deutschland der Russischen Föderation 12 Milliarden (7 Milliarden Euro) erließ.

Unterm Strich bleibt stehen: Die Wiedervereinigung war alles andere als eine „billige“ Angelegenheit für die Deutschen. Im Gegenteil: Sie wird teuer erkauft – und gerade Russland profitiert bis heute von den Folgen und den Kompensationsleistungen Deutschlands. Doch wie erklärt sich vor diesem Hintergrund die Wut von Wladimir, Zhanna und vielen anderen in den postsowjetischen Staaten? Woher kommt der Glaube, Gorbatschow habe das Sowjetimperium damals für „ein paar Milliarden“ zum Fliegenschiss schrumpfen lassen? Zum einen daher, dass die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung in vielen postsowjetischen Staaten bis heute keiner objektiven Betrachtung unterzogen wurde. Gerade Weißrussland ist als letzte Diktatur Europas berühmt-berüchtigt für seine geschlossene Gesellschaft. Die Intelligenz des Landes ist bereits zahlreich ins Ausland abgewandert, lebt in Deutschland, Frankreich oder der Tschechischen Republik. Dies ist besonders tragisch vor dem Hintergrund, dass das Land schon einmal fast seine gesamte Intelligenz verlor, als Stalin während des großen Terrors Tausende ermorden ließ, um auch letzte Widerstände gegen die kommunistische Ideologie auszurotten. Von denen, die bleiben, trauern heute nicht wenige dem untergegangenen Riesenreich nach – so wie Zhanna. Es sind vor allem Menschen, die nach 40 Jahren Sozialismus und dem unmittelbaren Erleben seines wenig rühmlichen Kollapses nach einfachen Erklärungen suchen, die möglichst nicht schmerzlich am eigenen Weltbild kratzen. Erklärungen, die ihnen die zentral gesteuerten heimischen Medien gerne liefern – allerdings in bewährter sowjetischer Tradition. Heute stärker denn je zuvor seit der Wende heißt das: Der Westen ist schuld. Denn dort toben Imperialismus und Faschismus. Das wirklich Erschreckende daran ist, dass viele Menschen wie Zhanna oder Wladimir die Zäsur 1991 lediglich als eine Art vorübergehenden Zustand begreifen. Und die jünsten Ereignisse rings um die Krise in der Ukraine hat diesen Semestern ungeahnten Auftrieb gegeben. Nicht wenige sehnen offen den Tag herbei, an dem das russische Militär die damals verlorenen Gebiete zurückholen und eine alte Stärke wiederhergestellt würde, die im Grunde nie mehr als eine Illusion war.

Bildrechte: J. Jannke

Der Freund aus einer anderen Zeit

Stellen Sie sich vor, da steht jemand unangekündigt in der Tür, den Sie vor langer Zeit flüchtig kannten und den Sie 35 Jahre lang nicht gesehen haben. Bei Heike Geißler stand niemand in der Tür. Von der Vergangenheit eingeholt wurde die 53-jährige Lausitzerin dennoch. Im Februar klingelt plötzlich daheim in einem Ort im Görlitzer Umland das Telefon. Freunde, Kollegen, Nachbarn bestürmen sie: „Du bist in der Zeitung! Ein Mann sucht nach dir!“ Für die seit 35 Jahren verheiratete Frau und zweifache Mutter erst mal ein Schreck.

Freundschaftstreffen auf dem Vorplatz des Hellerauer Festspielhauses, das damals sowjetische Kaserne war. Ganz links: Heike Michel (Geißler) und Michail Gordejew.
Freundschaftstreffen auf dem Vorplatz des Hellerauer Festspielhauses, das damals sowjetische Kaserne war. Ganz links: Heike Michel (Geißler) und Michail Gordejew.

Der Mann, der nach Heike Geißler sucht, heißt Michail Gordejew. Kurilka und auch die Sächsische Zeitung berichteten Ende Februar über das Anliegen des 56-jährigen Russen. Vor fast vier Jahrzehnten war Gordejew als 19-jähriger Wehrpflichtiger der Sowjetarmee nach Dresden gekommen – und dort Heike begegnet, die damals noch ihren Mädchennamen „Michel“ trug. Sein Appell löst eine Welle der Anteilnahme aus. Unzählige Anrufe und E-Mails gehen zum möglichen Verbleib von Heike ein. Der entscheidende Hinweis kommt nach drei Tagen: „Die gesuchte Heike Michel ist meine Frau“, schreibt Joachim Geißler.

Nach dem ersten Schrecken besinnt sich Heike Geißler, will erzählen, wie das damals war mit Mischa aus dem Ural. „Inzwischen weiß es ohnehin fast jeder bei uns, und die Reaktionen sind bislang fast durchweg positiv“, so die 53-Jährige mit einer Stimme, die durchs Telefon als fröhlicher Alt erschallt. Ihr Onkel habe sie angerufen. „Er sagte: Du wirst vom KGB gesucht. Kennst du einen Mischa? Ich wusste sofort, wer gemeint war.“

Noch heute arbeitet Heike Geißler als Physiotherapeutin – jenem Beruf, für den sie im Herbst 1977 ihre Görlitzer Heimat gegen das Schwesternwohnheim der Dresdner Medak eintauscht. 16 ist sie damals. „Dieser Beruf war etwas Besonderes, ganze zwei Stellen waren in Görlitz zu besetzen.“ Heike ist ehrgeizig, eine ausgezeichnete Schülerin. Nur die Besten dürfen Ausbilderin Rosemarie Köstler zu den Freundschaftsbesuchen beim in Hellerau stationierten Sanitätsbataillon der Sowjetarmee begleiten, in dem auch Mischa Gordejew dient und zu dem die Medak eine Patenschaft pflegt. Die sozialistische Welt um sie herum mit ihrer permanenten Wettkampfatmosphäre ist für Heike selbstverständlich. Mit ihren Kommilitoninnen bewirbt sie sich um den Titel „Sozialistisches Studentenkollektiv“. Der erste Preis: eine Fahrt nach Leningrad – für die 17-Jährige, die Russisch lernt, ein Traum. Ihre Gruppe gewinnt, die 500 Mark Fahrtkosten muss sie allerdings selbst zahlen. Sie geht Waggons putzen, um sich ihren Traum zu verwirklichen. „Ich war in der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, das waren alle bei uns“, erzählt sie unbefangen – die Eintrittskarte in die unbekannte Welt sowjetischer Soldaten, von denen es damals fast 10 000 in Dresden und über 500 000 in ganz Ostdeutschland gibt. Heute habe sie auf vieles natürlich eine ganz andere Perspektive. Damals aber sei das ihre Welt gewesen.

Eine aufregende Zeit. „Am spannendsten war der Eintritt in die Kaserne. Wir wurden gründlich gefilzt“, schildert sie jenen Tag im November 1978, als sie Mischa Gordejew in Hellerau das erste Mal auf dem Vorplatz des heutigen Festspielhauses trifft. „Wir gingen durch die Absperrung auf ein paar Soldaten zu, die da aufgereiht standen“, erinnert sie sich. Sie steuert Mischa direkt an, reicht ihm die Hand. „Es war gleich irgendwie Sympathie da, wir hatten Blickkontakt, lächelten uns zu.“

Von der Kaserne bekommt Heike damals nur Kultur- und Speisesaal zu sehen. Überall Flaggen und Banner. Alles läuft unter strenger Beobachtung der Offiziere ab. Trotz der Abschirmung fällt der Schwesternschülerin der wenig ansprechende Alltag der einfachen Soldaten auf. Die Unterbringung sei schlecht gewesen, die jungen Männer hätten keine Freiheiten gehabt. „Wir hatten unser Leben draußen, sie aber hatten nichts. Auch im Alltag ist die Armee stets präsent.“ Soldaten, die sich etwas zuschulden kommen ließen, hätten zur Strafe hart arbeiten müssen. „Bei Wind und Wetter trugen sie immer diese dünne Kleidung und mussten am Güterbahnhof in Klotzsche Kohlen schaufeln.“ Dagegen sei die Teilnahme an Freundschaftsbesuchen Auszeichnung und Höhepunkt gewesen.

Unteroffizier Michail Gordejew mit Garnisonskindern und Kameraden auf dem Exerzierplatz der Hellerauer Kaserne (heute Festspielhaus-Areal).
Unteroffizier Michail Gordejew mit Garnisonskindern und Kameraden auf dem Exerzierplatz der Hellerauer Kaserne (heute Festspielhaus-Areal).
Beim gemeinsamen Essen im Speisesaal nähern sich Heike und Mischa an. „Wir verständigten uns mit Händen und Füßen. Ich konnte ein wenig Russisch, so klappte es.“ Ein paarmal schreiben sie sich und sehen sich bei Freundschaftsbesuchen. „Und“ – fügt die 53-Jährige lebhaft hinzu – „wir haben uns sogar einmal heimlich in der Stadt getroffen, gingen ein wenig spazieren, unterhielten uns.“ Mischa sei höflich gewesen, habe von Dresden geschwärmt, aber nie etwas über seinen Armeealltag erzählt. „Die Russen waren einfach anders als wir, viel disziplinierter, duldsamer.“ Irgendwann aber seien die Besuche weniger geworden, brachen schließlich ganz ab. „Mischa war zuletzt nicht mehr dabei gewesen“, so Geißler.

Damals habe sie nichts hinterfragt, sagt die Görlitzerin. Dass ihre Briefe damals – wie von Mischa vermutet – der Zensur zum Opfer fielen, hält sie für wahrscheinlich, von Mischas vorzeitiger Entlassung erfährt sie damals nicht. Die geplante Reise nach Leningrad ist das Letzte, von dem sie ihrem sowjetischen Freund berichten kann. Dann reißt der Kontakt ab. Als sie 1980 an die Newa reist, öffnet ihr das so manches Auge über das Verhältnis zwischen Deutschen und Sowjets. „Kaum einer kannte dort die DDR oder die Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Damals fing ich an, mir über einiges Gedanken zu machen.“ Von Michail Gordejew sieht und hört Heike nie wieder etwas – bis zum Februar 2015.

Als der 56-Jährige erfährt, dass Heike gefunden ist, ist er überwältigt. So sehr, dass er zunächst tagelang abtaucht. „Ich brauchte erst einmal ein wenig Zeit, um das zu verkraften, hatte nicht und schon gar nicht so schnell damit gerechnet“, entschuldigt sich Gordejew kurz darauf, der mit Frau, zwei Töchtern und den beiden Enkeln nahe der Millionenstadt Jekaterinburg im Ural lebt. Inzwischen haben er und die Freundin von damals Kontaktdaten ausgetauscht. Ob sich 35 Jahre Entfremdung und mehr als 4 000 Kilometer Distanz überbrücken lassen, wird sich zeigen.

Nachtrag der Autorin:
Der Artikel erschien beinahe wortgleich am 29. Mai 2015 in der Lokalausgabe Görlitz der Sächsischen Zeitung. Nach Veröffentlichung des ersten Artikels am 17. Februar 2015 dauerte es keine Woche, bis Heike „Michel“ gefunden war. Die Geschwindigkeit der sich überschlagenden Ereignisse und die Vielzahl an Rückmeldungen waren schier überwältigend. Ein Dankeschön geht an Heike Geißler, der es zunächst schwer fiel, sich noch einmal öffentlich zu jener Episode ihrer Vergangenheit zu äußern. Sie selbst stehe zu diesem Teil ihres Lebens. Die Leute aber, die das Leben damals in der DDR nicht kennenlernten, zeigten bisweilen heute wenig Verständnis dafür. Leute, die die selbständige Physiotherapeutin zu ihren Kunden zählt. Für Geißler – wie für so viele andere – war die sozialistische Lebenswelt in der DDR Alltag, in den sie hineingeboren wurden und den sie verinnerlicht hatten. Leider wird das häufig vergessen in einem Staat, der die DDR 1989/90 förmlich verschluckte und zunächst über Jahre rigoros gegen alles vorging, das irgendwie mit ihren Werten, Kulturgütern und Symbolen zusammenhing und damit ein Klima der Stigmatisierung schuf gegenüber jenen, die einst gelernt hatten, mit dem System zu leben, statt es zu verachten und dagegen aufzubegehren.

Rätselhaftes Baumsterben in der Gohrisch-Heide

Im vergangenen August hatte ich erstmals andeutungsweise über ein mysteriöses Phänomen geschrieben, das ich in Teilen der Gohrisch-Heide entdeckt hatte. Damals war mir aufgefallen, dass mein geliebter Apfelbaum im Zentrum des Alten Lagers bei Zeithain keine Früchte mehr trug, ja, dass ganze Äste begonnen hatten, abzusterben.

Mein alter Apfelbaum im Alten Lager Zeithain. Im Sommer 2013 trug er noch herrliche Früchte.
Mein alter Apfelbaum im Alten Lager Zeithain. Im Sommer 2013 trug er noch herrliche Früchte.

Während der Apfelbaum im Alten Lager – einem früheren Kasernengelände der sowjetischen Armee – zu den wenigen Obstbäumen zählt und deshalb auch sofort ins Auge sticht, sieht es am östlichen Rand der Gohrisch-Heide, zwischen B169 und Altem Lager, ein wenig anders aus. Zahlreiche Apfel-, Birnen- und Pflaumenbäume, aber auch Hollunder- und Hagebuttensträucher gibt es hier. Vormals muss das Gelände als eine Art Landgut oder Plantage genutzt worden sein. Heute liegt es mehr oder weniger brach und hat dadurch eine wildromatische Schönheit entfalten können. Seit drei Jahren mache ich jeden Herbst, zur Erntezeit, dorthin einen Abstecher, damit wenigstens ein paar dieser herrlichen Früchte nicht verkommen. Niemand erntet sie sonst, niemand scheint sich um die Bäume zu kümmern.

Doch im letzten Herbst dann der Schock: Die meisten der zahllosen Kirschpflaumen- und Apfelbäume trugen zwar Blätter, aber keine Früchte. Viele von ihnen wiesen zudem einen großen Teil abgestorbener Äste auf, die zum Teil vom Stamm ausgehend schwarz verfärbt waren. Zunächst dachte ich, es hätte vielleicht eine Art Wiesenbrand gegeben, denn die schwarzen Verfärbungen erinnerten an verkohltes Holz. Da das Gras und auch die angrenzenden Kornfelder ringsum aber völlig unversehrt waren, halte ich das für eher unwahrscheinlich. Ich zog damals mit einer äußerst mageren Ausbeute wieder ab – nur ein paar wenige Kirschpflaumenbäume hatten überhaupt noch Früchte getragen. Äpfel gab es gar keine. Ich machte mir Sorgen um mein kleines wildes Obstparadies.

Der Apfelbaum trägt kaum noch Blätter.
Der Apfelbaum trägt kaum noch Blätter.

Die Stämme der Sträucher und Bäume werden von unten her schwarz - fast meint man, es hätte gebrannt. Ein wesentliches Symptom des Feuerbrandes.
Die Stämme der Sträucher und Bäume werden von unten her schwarz – fast meint man, es hätte gebrannt. Ein wesentliches Symptom des Feuerbrandes.

Heute nun wollte ich mich davon überzeugen, dass alles nur ein vorübergehendes Phänomen gewesen war, mir die Obstblüte anschauen, die ersten Fruchtkörper begutachten. Doch als ich von der B169 hinter Zeithain in den kleinen Feldweg einbog, traf mich nach wenigen Metern fast der Schlag: Fast ALLE Obstbäume und Früchte tragenden Sträucher ringsum (und das sind sehr viele!) sind tot. Verdorrt. Einfach abgestorben. Sie tragen weder Blätter noch zeigen sie sonst irgendwelche Zeichen von Leben. Einige wenige haben wenigstens noch ein paar Blätter ausgebildet, lediglich ein Baum stand in Blüte.

Kahlschlag im Wildobsthain. Fast alle Obstbäume wurden hinweggerafft.
Kahlschlag im Wildobsthain. Fast alle Obstbäume wurden hinweggerafft.

Was geschieht am Ostrand der Gohrisch-Heide? Mittlerweile bin ich überzeugt, dass ein aggressiver Schädling unter den Obstbäumen wüten muss. Anders ist dieses Massensterben von Bäumen und Sträuchern nicht zu erklären. Ganze Baumgruppen sind tot. Und immer wieder dieses rätselhafte schwarze Holz, dass an verkohlte Stellen erinnert und teilweise sogar Zaunlatten erfasst hat. Nach ein wenig Recherche drängt sich mittlerweile ein schlimmer Verdacht auf: Die Streuobstwiesen hinter Zeithain könnten vom Feuerbrand befallen sein – einer Bakterienerkrankung, die besonders gern Kernobstbäume heimsucht. Die Krankheit ist deshalb so gefährlich, weil sie sich seuchenartig ausbreitet und rasend schnell weitere Gebiete erfassen kann – was in Zeithain offensichtlich der Fall ist. Sollte der Verdacht zutreffen, wäre schnelles Handeln gefragt. Der Feuerbrand ist meldepflichtig. Im Prinzip sollte ich wahrscheinlich die örtliche Umweltbehörde informieren, damit dort jemand mal einen Blick drauf wirft. Aufgefallen ist die Problematik dort offenbar ja noch nicht.

Schade ist es allemal um die herrlichen Bäume. Im Hochsommer herrschte hier immer ein Gezwitscher, denn auch viele Vögel wussten die Früchte zu schätzen. Heute wirkte alles fast wie ausgestorben. Ein trauriger Anblick. Ob sich die Bäume je wieder erholen werden, ist schwer zu sagen. Derzeit sieht es eher nicht danach aus.

Friedhof zu verschenken

Offiziersgräber auf dem Sowjetischen Garnisonfriedhof Dresden. Der Freistaat möchte ihn lieber heute als morgen loswerden. Foto: J. Jannke
Offiziersgräber auf dem Sowjetischen Garnisonfriedhof Dresden. Der Freistaat möchte ihn lieber heute als morgen loswerden. Foto: J. Jannke
Quo vadis, Sowjetischer Garnisonfriedhof? Der Begräbnisort für 2300 sowjetische Bürger an der Marienallee in Dresden kommt nicht aus den Schlagzeilen. Nun will der Freistaat ihn an die Stadt abtreten. Doch die will ihn gar nicht haben.

Seit Jahren schwelt der Streit um den Nordflügel des Friedhofes. 2010 hatte der Eigentümer, das Sächsische Immobilien- und Baumanagement (SIB), Umgestaltungspläne für die rund 0,8 Hektar große Erweiterung mit Gräbern aus den Besatzungsjahren vorgelegt, die die Beseitigung der historischen Friedhofsarchitektur zugunsten einer schlichten Grünanlage mit Gedenkbereichen vorsehen. Dresdner Bürger liefen Sturm – und erhielten Unterstützung vom „Who is Who“ der Dresdner Gedenkkultur. Seit Juli 2013 beschäftigt nun schon ein vom SIB eingelegter Widerspruch die Landesdirektion Sachsen, da auch die Denkmalbehörden dem rund 350 000 Euro teuren Vorhaben die Zustimmung verweigerten. „Das Verfahren läuft noch“, so SIB-Sprecherin Andrea Krieger.

Das SIB stellte dies abermals vor die Frage, mit der man dort bereits seit mehr als zehn Jahren befasst ist: Was soll denn nun werden mit dem Nordflügel? Das veranlasste die Behörde im Frühjahr 2014, ein Forum auszurichten. Gemeinsam mit der Stadt, den Denkmalbehörden und den bürgerschaftlichen Initiativen, die den Nordflügel mittels ehrenamtlichem Engagement in historischer Form bewahren wollen, sollte unter Moderation der Landeszentrale für politische Bildung ein möglicher Kompromiss ausgelotet werden. Gegenstand der Debatten war längst nicht mehr nur der künftige Umgang mit dem Nordflügel. Initiativen wie das Deutsch-Russische Kulturinstitut, die jüdische Gemeinde und der DenkMalFort! – Die Erinnerungswerkstatt Dresden e.V. forderten seit längerem die Rückführung des gesamten Friedhofes in die Trägerschaft der Stadt Dresden, die ihn 1996 an das SIB abgegeben hatte. In dessen Verwaltung war vor allem der Nordflügel mehr und mehr verwahrlost.

Nach nur vier Runden hatte es sich im Juli allerdings schon wieder ausdebattiert. „Die Beteiligten sind sich einig, dass auch der nördliche Flügel des Friedhofs ein würdevoller Gedenkort ist und auch in Zukunft sein soll. Das ‚Wie‘ steht im Fokus der Diskussion“, konstatierte man im August in einer vorläufigen Erklärung. Das Konzept des SIB stoße nicht auf die Zustimmung aller Beteiligten, man wolle die Gespräche daher im Herbst fortführen, hieß es weiter. Seither aber herrscht offenbar Funkstille.

„Bis jetzt erfolgte keine erneute Einladung“, antwortete Oberbürgermeisterin Helma Orosz (CDU) dem anfragenden Grünen-Stadtrat Torsten Schulze vor Weihnachten – und spielte den Ball damit dem SIB zu. Dort jedoch macht man den Fortgang der Gespräche offenbar von der Klärung der künftigen Trägerschaft für den Garnisonfriedhof abhängig. „Das SIB strebt die Übertragung des gesamten Friedhofes an die Landeshauptstadt an“, ließ man auf Nachfrage ausrichten. Bereits „vor geraumer Zeit“ will man dazu auf Kulturbürgermeister Ralf Lunau (parteilos) zugekommen sein. Doch für den Beigeordneten ist eine Übernahme derzeit kein Thema. Aus Sicht der Stadt spricht vor allem der Kostenfaktor dagegen. Man würde „ohne gesetzliche Verpflichtung die finanzielle Last von Pflege und Instandhaltung“ übernehmen. Wie groß die tatsächlich wäre, wurde bislang allerdings nicht geprüft.

„Kosten allein dürfen kein Argument sein“, mahnt Torsten Schulze, der alsbald die Aufnahme von Verhandlungen zwischen Stadt und SIB fordert, damit es auch in der Frage des Nordflügels irgendwann vorangeht. „Die derzeitige Situation ist untragbar und eines historisch derart relevanten Ortes unwürdig.“ Schulze meint damit, dass das SIB in Ermangelung des Zuspruches für die Umgestaltungspläne die Pflegeaktivitäten auf dem Nordflügel vor eineinhalb Jahren einstellte. Ehrenamtliche halten die Anlage seither halbwegs in Schuss. „Nach den Querelen der letzten Jahre muss genau geprüft werden, ob ein Verbleib des Friedhofes in Händen des Freistaates sinnvoll ist“, so Schulze. Notfalls müssten Wege ausgelotet werden, die Finanzierung auf mehrere Schultern zu verteilen. „Der Friedhof braucht eine Perspektive, die den Erhalt der Biografien und Schicksale gewährleistet.“ Kaum einer der unter 40-Jährigen wisse noch, wie es war, als die Armee hier war.

Damit rennt Schulze bei Holger Hase von der Erinnerungswerkstatt offene Türen ein. Der 38-Jährige kämpft seit Jahren gegen den Verlust der denkmalgeschützten Friedhofssubstanz. „Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. Beim SIB scheint man sich vom Abrissbagger verabschiedet zu haben“, zeigt sich der FDP-Mann optimistisch. Die Rückkehr zur Stadt sieht Hase als zukunftsfähigste Lösung für den Garnisonfriedhof. Wie Schulze fordert auch er ein klares Bekenntnis zum „historischen Lernort“ und will das notfalls mittels eines Antrages im Stadtrat auf den Weg bringen.

Anmerkungen der Autorin: Der Artikel entspricht bis auf einige kleine Änderungen dem, der am 23. Februar 2015 in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschien.

Der Soldat und das Mädchen – aus den Erinnerungen sowjetischer Soldaten in Ostdeutschland.

Michail Gordejew und Heike Michel. Das Foto entstand 1978 auf dem damaligen Kasernengelände, dem heutigen Festpielhaus-Areal in Hellerau.
Michail Gordejew und Heike Michel. Das Foto entstand 1978 auf dem damaligen Kasernengelände, dem heutigen Festpielhaus-Areal in Hellerau.
Fast ein halbes Menschenleben muss Michail Gordejew zurückgehen, will er sich die Stadt vor Augen rufen, in der er einst eineinhalb Jahres seines Lebens verbrachte. Die Stadt ist nicht mehr dieselbe, Gordejew längst kein junger Mann mehr. Seine Haare sind ergraut, daheim, in der russischen Kleinstadt Poljewskoi, 40 Kilometer südwestlich der Millionenstadt Jekaterinburg, spielen die beiden Enkel im Garten. Auch die Welt ist mittlerweile eine andere geworden. Als Gordejew im Mai 1978 als 19-Jähriger nach Dresden kommt, stehen sich Ost und West unversöhnlich im Kalten Krieg gegenüber. Der Junge aus dem Ural wird in die DDR geschickt, um in Dresden seinen Wehrdienst in der Sowjetarmee abzuleisten. 35 Jahre nach seiner Heimkehr existieren weder die DDR noch die Sowjetunion. Dresden hat Mischa, wie ihn Freunde nennen, seit damals nicht wiedergesehen, die Erinnerung verblasst langsam. Doch etwas hat er bis heute nicht vergessen: Locken, ein gewinnendes Lächeln, ein Name: Heike.

KaserneLinksHeuteEZKEs ist Frühling, als Gordejew in Dresden ankommt. Viel sieht er nicht von der Stadt. Vom Bahnhof geht es direkt in die Kaserne in Hellerau. Auf dem Territorium des heutigen Festspielhauses ist damals das 189. Sanitätsbataillon der 11. Gardepanzerdivision stationiert, die Spielstätte selbst eine Mischung aus Lazarett, Kaserne und Sporthalle, Deutsche haben hier nur mit Passierschein Zutritt. Riesige Siegesikonen an den Wänden im Treppenhaus erinnern bis heute an die militärische Nutzung. Ein Soldat schuf sie just 1979, in Mischas letztem Jahr.

Mischa dient in der Nachrichtenkompanie des Bataillons. Es sei eine anständige Einheit gewesen, sagt er. „Insgesamt habe ich gute Erinnerungen. Fast jeden Tag habe ich aus dem Stab die Post für die Einheit geholt“, erinnert sich der 56-Jährige. Der Stab liegt in Klotzsche, im heutigen Akademiegelände der DGUV. Der junge Soldat geht die Strecke zu Fuß oder nimmt die Straßenbahn – ein kleiner Fetzen Freiheit im ansonsten von Restriktionen und bedingungsloser Unterordnung geprägten Militäralltag.
Im November 1978 kündigt sich eine deutsche Delegation in Hellerau an. „Das war der Tag, an dem ich Heike zum ersten Mal traf.“ Die Delegation besteht aus Studentinnen der Medizinischen Akademie, einer Lehrkraft sowie deren Ehemann – dem Kommandeur einer Dresdner Sanitätskompanie der NVA, der gute Beziehungen zu Gordejews Bataillonschef pflegt. Heike, die mit Nachnamen damals vermutlich Michel hieß, ist eine der Studentinnen. Solche Besuche sind nicht unüblich. Von oben verordnet und feierlich inszeniert, sollen sie die deutsch-sowjetische Freundschaft als Eckpfeiler des sozialistischen Selbstverständnisses demonstrieren.
Mischa darf die Delegation begleiten, man besichtigt die Kaserne, isst gemeinsam im Speisesaal, der heute ein frisch saniertes Mehrfamilienhaus ist. „Es ist schwer zu erklären, aber irgendwie fanden Heike und ich auf Anhieb eine gemeinsame Sprache.“ Zwischen beiden entwickelt sich ein Briefwechsel. „Ich schrieb ihr auf Deutsch, sie antwortete auf Russisch.“ Als er ihr ein Treffen außerhalb der Kaserne vorschlägt, wird die Abteilung für Inneres hellhörig. „Viel später sagte man mir, dass der Brief nicht durch die Zensur gelassen wurde.“

Michail Gordejew mit Heike Michel, Kameraden und den Studentinnen der Medak gegenüber dem Kasernengelände in der Karl-Liebknecht-Straße in Hellerau. Foto: Privatarchiv W. Zhirnow
Michail Gordejew mit Heike Michel, Kameraden und den Studentinnen der Medak gegenüber dem Kasernengelände in der Karl-Liebknecht-Straße in Hellerau. Foto: Privatarchiv W. Zhirnow

Ein sowjetischer Soldat und ein deutsches Mädchen – angesichts rund zehntausend sowjetischer Militärangehöriger, die in der Dresden quasi Tür an Tür mit den Einheimischen leben, keineswegs ausgeschlossen. Offiziell aber sind auch rein freundschaftliche Kontakte unerwünscht. Einfachen Soldaten wie Mischa sind sie strengstens untersagt. Wer sich dem Diktat widersetzt, riskiert Arrest oder in die Heimat versetzt zu werden. Die beiden jungen Leute schreiben sich dennoch weiter. „Heike gab Briefe ihrer Lehrerin, diese wiederum gab sie ihrem Mann, dem Major. Der brachte sie uns dann zu Freundschaftsbesuchen mit.“ Insgesamt drei Mal trifft Mischa Heike zu solchen Gelegenheiten persönlich. „Bei unserem letzten Treffen sagte sie mir, dass sie nach Leningrad reisen würde.“ Sie habe ihm mehr dazu schreiben wollen. Doch die Zensur ist gnadenlos: „Alle ‚kritischen‘ Passagen wurden stets herausgestrichen. Sie wollten einfach nicht, dass wir uns weiterhin treffen. Deshalb hat man dann wohl auch veranlasst, dass ich vorzeitig entlassen wurde.“ Im Oktober 1979 wird der inzwischen zum Unteroffizier aufgestiegene Mischa plötzlich demobilisiert. „Ich hatte Heike noch ein Foto von mir mit der Wohnadresse meiner Eltern auf der Rückseite geschickt“, aber dort hört man nie von ihr. Vermutlich habe auch das die Zensur kassiert.

Eigentlich, so Gordejew, der seit vielen Jahren glücklich verheiratet ist, zwei erwachsene Töchter hat, habe er nie ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, Heike ausfindig zu machen. „Erinnert habe ich mich aber all die Jahre an sie. Es drängt mich, zu erfahren, wie ihr Leben verlaufen ist.“ Er ist unsicher, den Weg der Medienöffentlichkeit zu gehen, in einem Land, dessen gesellschaftliche Gepflogenheiten ihm fremd sind. „Vielleicht will sie das ja gar nicht?“
Von Heike weiß er nur den Namen, dass sie ursprünglich aus Görlitz stammte, an der Medak lernte oder studierte und im dortigen Wohnheim lebte. „Gewiss hat sie geheiratet, heißt heute anders. Aber vielleicht erkennt sie sich ja und meldet sich“, hofft der ehemalige Soldat. Ein Ex-Kamerad entdeckt in der alten Divisionszeitung einen Artikel über die Freundschaftstreffen mit den Namen von Heikes Ausbilderin und deren Mann, des NVA-Majors. „Es handelt sich um das Ehepaar Rosemarie und Wolfgang Kestler. Sie hatten zwei Söhne namens Thomas und Jens. Thomas muss damals ungefähr 10 bis 12 Jahre alt gewesen sein und begleitete seine Mutter zu den Freundschaftstreffen“, erklärt Gordejew. Er hofft, damit den Kreis möglicher Hinweisgeber zu erweitern. Der 56-jährige Russe hofft auf ein Lebenszeichen. Ein Versuch, ein Kapitel seines Lebens zu schließen, das im Herbst 1979 abrupt endete.

Anmerkung der Autorin: Der Artikel erschien am 17. Februar 2014 in der Sächsischen Zeitung unter dem Titel „Der Soldat und das Mädchen“.

Vom Hoffnungsträger zum Zeitzeugnis – Ein Apfelbaum erzählt

Da stand es mit einem Male vor mir, inmitten der savannenartigen, verlassenen Gegend. Ein eindeutiges Zeugnis des regen menschlichen Lebens, das hier einst herrschte, von dem aber heute nur noch ein paar Ruinen inmitten unberührtester Natur geblieben sind: ein Apfelbaum, umgeben von nichts als endlosen blühenden Wiesen, Büschen und uralten Bäumen.
Das ehemalige Stabsgebäude ist eines der wenigen erhaltenen Gebäude in der Garnisonsstadt Zeithain. Links der Apfelbaum in voller Blüte.

Der ehemalige Truppenübungsplatz in der Gohrischheide bei Zeithain ist keine Kulturlandschaft. Und doch lebten hier einst viele Menschen, Zigtausende bevölkerten die hiesige Garnison, die schon vom königlich-sächsischen Heer genutzt wurde. Lustlager Augusts des Starken sind ebenso überliefert wie kaiserliche Paraden auf dem riesigen Exerzierplatz hinter dem prächtigen Stabsgebäude. Der Platz – bis 1992 noch wie der Rest der Garnison von der Sowjetarmee genutzt – ist längst verschwunden, abgerissen, wie die meisten Gebäude und Baracken, die hier einst standen. Das Stabsgebäude hingegen steht bis heute an seinem Platz. Wie ein Relikt erinnert es an andere Zeiten, unwirklich, mit seinem neu eingedeckten roten Dach über grauen, bröckelnden Fassaden und dem Türmchen, inmitten von Weite und Natur. Ein örtlicher Heimatgeschichtsverein hat das Haus irgendwann als eine Art Museum genutzt. Andernorts vergammeln solche prachtvollen alten Bauten. Hier zeigt sich, wie man sie mit wenig finanziellem Aufwand zumindest vor dem rasanten Verfall schützen kann, bis sich vielleicht ein Investor findet: Ein dichtes Dach ist die halbe Miete im Kampf gegen den Schwamm.

Aufwendig gestaltete Gänge im Inneren des Stabsgebäudes.
Das frühere Stabsgebäude ist daher in erstaunlich gutem Zustand. Zwar blättert auch hier der Putz, Türen stehen offen und Fenster sind zerborsten; durch die Gänge pfeift der Heidewind und spielt mit den Plakaten und Wandzeitungen, die man hier noch wie in alten Tagen finden kann. Doch von Einsturzgefahr kann keine Rede sein – Im Gegenteil: läuft man durch das Haus, staunt man über den guten Erhaltungsgrad von Parkett, Wandfliesen und Sanitäreinrichtungen. Nirgendwo hängen Tapeten in Fetzen von den Wänden. Bis unters Dach ist das Haus top in Schuss – und scheinbar in Nutzung.
Unbeaufsichtigte "Dauerausstellung" im ehemaligen Stabsgebäude zur Geschichte der Garnison Zeithain.
Hier scheinen Menschen akribisch gesammelt und aufbewahrt zu haben, was in den zum Abriss bestimmten Bauten ringsum zurückgelassen worden war: alte Hinweisschilder, Türbeschriftungen, Wandtafeln mit kommunistischen Kampfparolen, aber auch Werkzeug, eine Kohlenlore und altes Aktenmaterial. Jeder kann sich auf diese Reise durch 200 Jahre Militärgschichte in Zeithain begeben, die Türen des Hauses stehen offen. Besonders aus der sowjetischen Epoche sind viele Original-Zeitzeugnisse erhalten. Jedoch sollte man diese einmalige Gelegenheit auch mit der dazugehörigen Portion Anstand quittieren: Die vielen Fundstücke, die dort zu sehen sind, gehören in die Garnison, in dieses Haus, nicht in private Archive!

Heute hat sich die Natur große Teile der ehemaligen Garnisonsstadt zurückerobert, ein einzigartiges Refugium, wo im Minutentakt Rehe aus den Büschen hervorbrechen und Falken ihren Schrei erschallen lassen. Im Mai meinte ich sogar, dort einen Luchs gesehen zu haben und war daraufhin so schnell wie nie zuvor auf mein Rad gesprungen und in Richtung Zivilisation entfleucht.

Äpfel inmitten endloser Heidelandschaft.
Und dann dies Bäumchen, geduckt und knorrig, uralt wahrscheinlich, mit Zweigen die bis zum Boden reichen. Über und über mit herrlichen, rotbäckigen Äpfeln behangen. Und keiner, der diese Pracht erntet. Ich habe mich erbarmt und mitgenommen, soviel die Fahrradtaschen tragen konnten. Leider war ich so hingerissen von diesem Anblick (und zu beschäftigt mit Pflücken), dass ich vergaß dieses kleine Bäumchen zu fotografieren, das vor Jahren noch eine ganze Kleinstadt voll Menschen mit Vitaminen versorgte, die sich sonst hauptsächlich von Büchsenfleisch und Kascha ernährten. Beim Blick in mein Archiv die Entdeckung: Es gibt schon ein Foto. Es zeigt den Baum im Frühjahr in voller Blüte (1. Foto oben auf der Seite, der Baum am linken Bildrand).
Typisches Landschaftsbild des früheren Truppenübungsplatzes in der Gohrisch-Heide.
Es ist ein atemberaubender Kontrast: All diese urwüchsige Landschaft rings umher, darin dieses fremd wirkende Gebäude – und dann ein Baum voller roter Äpfel. Keine der heute im Supermarkt erhältlichen, auf Konsumfreundlichkeit getrimmten Zuchtprodukte, sondern herb-aromatische, feste Früchte. Welche Freude wirst du jahrzehnte-, vielleicht sogar über ein Jahrhundert lang so vielen jungen Burschen gebracht haben, die vermutlich voller Sehnsucht dem Spätsommer zufieberten – bis du endlich Früchte trugst. Frisches Obst – ein Luxus, den es in der Sowjetarmee allerhöchstens an Feiertagen und selbst dann oft nur für Offiziere gab.
Lenin wacht über den Ruhmespfad.
Die Spuren ihrer Existenz hier lassen sich bis heute tausendfach lesen – als Autografen und Inschriften in den Bäumen, auf Mauerresten und in den Wänden der wenigen verbliebenen Gebäude. Im alten Ehrenhain der Garnison legt sich der bedrückende Geist ritualisierter Geschichtsdeutung auf die Schultern. Lenin wacht über den langsam zerblätternden Ruhmespfad der 9. Panzerdivision während des Zweiten Weltkrieges. „Wir dienen der Sowjetunion“ steht da in schwarzen kyrillischen Lettern, daneben die Reliefs zweier Soldaten. Und doch ist man irgendwie dankbar, dass dieses Zeitdokument bislang den Abrissbaggern zu trotzen vermochte.

Sowjetische Soldaten während ihres Dienstes in der Garnison Zeithain (80er-Jahre).
Wenn man langsam die alte Heerstraße im Herzen der früheren Garnison entlanggeht, wird es greifbar, das Gefühl des Eingesperrtseins, das viele der hier einst stationierten jungen Männer in stillen Nächten mitten im Wald gepeinigt haben dürfte. Denn unmerklich läuft man in eine Sackgasse. Da vorne, am südlichen Ausgang, versperrt ein eisernes, verschlossenes Tor den schnellen Weg zurück in die Zivilisation, daneben die Überreste eines Checkpoints, in dem wohl unter der Woche ein kettenrauchender Pförtner der Verwertungsgesellschaft residiert. Auch alle anderen Wege, die man nimmt, enden unweigerlich an einem verrammelten Tor. Zurück gelangt man nur auf dem Weg, den man gekommen ist, über die offene Heide nach Osten, hin zur B169.

Dresden, deine Sowjetarmisten…

Ein Licht für das Dunkel der Vergangenheit. Foto: Heike Richter
Es ist noch immer ein seltsames Gefühl. Für jemanden, der die Zeit der sowjetischen Besatzung zwar nur als Kind, sehr wohl aber bewusst miterlebt hat, die Einschränkungen gespürt hat, die diese für die Menschen in Dresden mit sich brachte, und auch die fremde Kultur der Härte und des Misstrauens – für den wird es wohl immer ein leichtes Prickeln im Nacken mit sich bringen, wenn er auf einem sowjetischen Friedhof steht und der dort begrabenen Toten gedenkt, die während genau dieser Zeit ums Leben kamen. Dennoch ist die Auseinandersetzung mit dieser Zeit, mit diesen Menschen, für mich zu einer Art Lebensaufgabe geworden, stellt sie doch nicht zuletzt auch eine Brücke in meine ganz persönliche Vergangenheit dar. Der Sowjetische Garnisonfriedhof ist somit kein Ort des Todes, sondern von Geschichte, wie sie lebendiger nicht sein könnte.

Und je länger man sich mit dieser vielmals nur als eine finstere Zeit der Unfreiheit, der Scham und der Ohnmacht empfundenen, 50 Jahre währenden Epoche auseinandersetzt, desto mehr staunt man darüber, wie sie zunehmend an Finsternis verliert, im Lichte wiederkehrender Erinnerung. Es sind da eben nicht mehr nur die diffusen Wahrnehmungen „der Russen“ als restriktive Ordnungsmacht, sondern die Ordnungsmacht bekommt Gesichter, Namen, die irgendwann wieder aus den Tiefen des Gedächtnisses auftauchen, bis hin zu einzelnen Worten, einem Lächeln, einem Geschenk, die man längst vergessen hatte. Wo vor Jahren noch ein Loch klaffte, eine verstörende Lücke in der eigenen Biografie, die entstand, als nach der Wende alles das, was zuvor war, mit Schamhaftigkeit, Schwäche und Rückständigkeit assoziiert wurde, findet die Vergangenheit endlich einen würdigen Platz – in der Erinnerung, und auch im täglichen Tun und Streben, ohne dass sie dabei den Ton angäbe.

Es nützt nichts, die Vergangenheit ausblenden, sie vergessen zu wollen, nur weil sie schwere Zeiten parat hielt. Die Zeiten waren für die vielen jungen Soldaten, die heute auf dem Nordflügel des Garnisonfriedhofes begraben liegen, keinesfalls weniger schwer als für uns. Diese Erkenntnis erfordert Überwindung, aber sie ist notwendig. Sie gibt den Menschen jenes Stück Würde zurück, das ihnen damals genommen wurde. Auch sie waren nicht frei. Wie wir.

Dresden, deine Sowjetarmisten. Es wäre ein Neuanfang in der Dresdner Gedenkkultur. Einen ersten Schritt dahin wagt der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge mit seiner Gedenkveranstaltung, die am 23. Februar bereits zum zweiten Mal stattfand.

Von rechts: Stadtrat Torsten Schulze (Grüne), Stadtrat Martin Bertram (SPD, 3. v. rechts). Foto: Heike Richter
35 Gäste aus Politik, Vereinsleben und Gesellschaft waren anwesend, darunter die Vizepräsidentin des sächsischen Landtages, der Kommandeur der Offizierschule der Bundeswehr, eine Vertretung des kasachischen Honorarkonsulates und ein russischer Weltkriegsveteran, dessen ganzes Streben der Aussöhnung zwischen Deutschen und Russen gilt. Erinnerungen an sowjetische Soldaten hat jeder von ihnen. Und selbst die, die sie nicht haben, wissen den Wert von Zeitzeugnissen, die ihnen Zugang zu unserer Vergangenheit verschaffen, umso mehr zu schätzen.
Viktor Maximow kämpfte im Zweiten Weltkrieg als Offizier in Reihen der Roten Armee gegen die Deutschen. Seit vielen Jahren setzt er sich für eine Aussöhnung zwischen beiden Völkern ein und hilft mit deutscher Unterstützung Kriegsveteranen in Russland.

Und so bewegte es alle Anwesenden besonders, als der 89-jährige Viktor Maximow, der selbst noch als Offizier im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen kämpfte und später in einem Buch beschrieb, wie das anfängliche Gefühl des Hasses immer mehr dem Wunsch nach Versöhnung und Vergebung wich, spontan das Wort ergriff und dem anwesenden Kommandeur der Offizierschule der Bundeswehr, Brigadegeneral Jürgen Weigt, für sein Engagement für den Erhalt des Nordflügels dankte.

Der 23. Februar – ein Tag, an dem auf dem Sowjetischen Garnisonfriedhof viele Jahrzehnte lang der Gründung der Roten Armee im Jahr 1918 gedacht wurde. Nun wollen wir diese Tradition keinesfalls fortführen.

Blumen für die Toten - und die Hoffnung auf einen respektvolleren Umgang mit den Zeugnissen unserer Vergangenheit. Im Vordergrund: Alevtina Böttner, Honorarkonsulat der Republik Kasachstan.
Die Helden der Oktoberrevolution, des Bürgerkrieges in der jungen Sowjetunion – es sind nicht unsere Helden. Und doch bildet der 23. Februar einen wichtigen Anknüpfungspunkt für die Menschen hier, die lange Zeit mit der Sowjetarmee Tür an Tür lebten. Hier kann es kein starres, rückwärtsgewandtes Gedenken geben, das an alten sowjetischen Traditionen orientiert. Nicht, wenn das Ziel sein soll, die zukünftigen Generationen für 50 Jahre sowjetische Präsenz in Dresden zu interessieren, die all dies nie selbst erlebt haben. Hier muss ein Gedenken stattfinden, das mehr einem geöffneten Fenster in die Vergangenheit gleicht, das gleichzeitig erklärt, in Beziehung setzt, Indentifikation stiftet.

Nichts stiftet wiederum mehr Identifikation als das Übertragen persönlicher Verantwortung. Verantwortung beispielsweise für den Erhalt wichtiger Zeitdokumente, die über jene Tage Zeugnis ablegen. Und deshalb ist der 23. Februar für den Volksbund und damit den Freundeskreis Sowjetischer Garnisonfriedhof auch klar mit dem Auftrag an Politik und Gesellschaft verknüpft, sich ihrer Verantwortung für die folgenden Generationen bewusst zu werden und auch die Zeitzeugnisse der Besatzungsjahre nicht wirtschaftlichen Planspielen zu opfern. Damit auch in vielen Jahren noch Angehörige der Toten einen Ort zum Trauern und die Dresdner einen Ort haben, an dem sie sich erinnern oder Geschichte hautnah erleben können. In seiner Gedenkrede hätte es der sächsische Volksbund-Landesvize Holger Hase besser nicht auf den Punkt bringen können als mit dem berühmten Zitat Charles de Gaulles: „Die Kultur eines Volkes erkennt man an seinem Umgang mit den Toten.“

Der stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes Sachsen des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge fand deutliche Worte zur geplanten Zerstörung des Nordflügels des Sowjetischen Garnisonfriedhofes.
Die Dresdner Rathauspfeifer und ein Ensemble des Chores der russisch-orthodoxen Gemeinde zu Dresden setzten im gemeinsamen Rahmenprogramm russische und deutsche Akzente.

Fotos 3-6: Jane Jannke