Old souls in young bodies: Das Phänomen Amira Willighagen

Wer irgendeinen Sinn für klassischen Gesang und überhaupt das Herz am rechten Fleck hat – der wird jetzt wohl erst mal kräftig durchschnaufen und vielleicht sogar ein Tränchen wegwischen müssen. Das Mädchen, das wir da soeben erleben durften, war zum Zeitpunkt dieser Aufnahme zehn Jahre alt. Und ist es noch heute. Puccinis wunderschöne Arie „O Mio Babbino Caro“, so schön, so kraftvoll und doch so schlicht und zart gesungen, wie ich es persönlich selten erlebte. Mir fällt da auf Anhieb Maria Callas ein. Hiermit soll nun keinesfalls das gesangliche Können einer Zehnjährigen mit dem dieser all-time-greatest-diva auf ein Podium gestellt werden. Und doch hat Amira Willighagen nicht nur den Vornamen der Callas zum Anagramm. Sie hat eine ganz ähnliche Art, zu singen, die einen ganz tief innen berührt, die haften bleibt, die nicht nur die oberen Membranen durchdringt und dann abgeleitet wird.
Und dann diese Kraft! Dieses Volumen! Diese Höhen! Da fragt man sich: Wie zum Teufel können solche Töne aus dem Körper einer Zehnjährigen kommen? Niemand weiß es. Niemand versteht es. Noch vor zwei Jahren war Amira Willighagen nichts weiter als ein sehr begabtes Kind. Sie sang im Kirchenchor die Soli wegen ihrer schönen Stimme. Und doch war dies noch die Stimme eines Kindes, bei der längst nicht jeder Ton ein Treffer war. Doch schon ein Jahr später fegte die neunjährige Holländerin die Jury der Talentshow Holland’s got Talent von den Sesseln. Sie gewann die Show.

Auf die Frage, wer ihr beibrachte, so zu singen, wusste sie keine Antwort. Youtube sei ihr Lehrer gewesen, Stimm-Wunderkind Jackie Evancho aus den Vereinigten Staaten eines ihrer Vorbilder. Gesangsstunden will Willighagen außerhalb ihrer Choraktivität nie genommen haben. Und doch klang ihr Auftritt bei Holland’s got Talent schon eindrucksvoll stimmgewaltig, wenn sicher längst nicht perfekt.
Das Faszinierende an Willighagen ist gar nicht mal ihr ausbaufähiges sangliches Können. Es muss ja noch ausbaufähig sein, hält man sich vor Augen, dass man es hier mit einem Körper zu tun hat, der erst noch wachsen, noch reifen, sein ganzes anatomisches Potenzial erst noch ausschöpfen muss. Es sind die Natürlichkeit und die Strahlkraft ihres Auftretens und ihrer Gestik, die sie beinahe zerbrechlich und doch wieder so stark erscheinen lassen. Und ihre für eine Neun- bzw. Zehnjährige schier unglaubliche technische Stärke, die sie für meine Begriffe zu einem der größten Klassiktalente unserer Zeit machen. Ja, ich glaube, es ist diese unerklärliche Kombination aus Zerbrechlichkeit und Stimmgewalt, die Kritiker, die es sonst in aller Regel nur mit erwachsenen Opersängern zu tun haben, vor eine Zerreißprobe stellt.

Nicht alle können diese Art Bewunderung und Ehrfurcht vor ihrem Können teilen. Im Gegenteil: Gerade aus der Klassikszene kommt bisweilen unverhohlene Kritik. Nicht immer fällt sie so sachlich aus, wie man sie sich vielleicht wünschen würde. Sicher kann, ja muss man sich vielleicht sogar fragen: Ist es gut und sinnvoll, dass eine Zehnjährige Literatur singt, die für Erwachsene geschrieben ist? Doch andererseits: Wie will man ein Kind davon abhalten, dass seine Liebe zur Klassik und die fantastischen Möglichkeiten der eigenen Stimme soeben für sich entdeckt hat? Ich als Laie glaube: Es muss – wie bei fast allem – das Maß stimmen. Amira Willighagen hat nach ihrem Sieg bei Holland’s got Talent die obligatorische CD – „Amira“ – aufgenommen. Sie hat im Sommer 2014 eine kleine Konzertreise mit vier Terminen in Südafrika (der Heimat ihrer Großmutter) der Schweiz und Argentinien unternommen und ist zu Weihnachten in der Londoner Royal Albert Hall aufgetreten. Anders als etwa Jackie Evancho, die nach ihrem fulminanten Aufstieg als „Jahrhundert-Talent“ infolge ihres 2. Platzes bei America’s got Talent 2010 von einem Auftritt zum nächsten gehetzt wurde, mit 11 Jahren schon reihenweise abendfüllende Konzerte gab und heute, mit knapp 15 stimmlich ein Schatten ihres früheren Selbst ist, liegt bei Amira der Focus derzeit offenbar auf Schule, Familie und ihrer weiteren Gesangsausbildung durch eine professionelle Gesangslehrerin. Evancho hatte vor ihrem Durchbruch beim amerianischen „Deutschland sucht den Superstar“-Äquivalent bereits zwei (!!) erfolglose Versuche hinter sich, es in die Show zu schaffen. Als es endlich klappte und die Karrieremaschinerie angelaufen war, musste sie ihre öffentliche Schule verlassen. Sie tourte, modelte zusätzlich und übernahm Rollen in Filmen und Musicals. Eigentlich ist es ein Wunder, dass sie heute noch relativ unbeschadet im Show Business unterwegs ist. Für die Opernbühne allerdings wird es wohl niemals mehr reichen. Man kann nur hoffen, dass Amira Willighagens Eltern das unglaubliche Talent ihrer Tochter mehr zu schätzen, es besser zu behüten wissen werden. Es wäre unendlich schade, dieses Kind und seine Stimme dahinwelken zu sehen.

Traurig machen die Schmähkritiken, mit denen Amira Willighagens Debüt bisweilen in Rezensionsbreichen, etwa bei Amazon, begegnet wird. Eines sticht dabei stets heraus: der Verdacht, die Eltern und das Mangement könnten mit dem Kind nur „Geld scheffeln“ wollen. Es spricht der unverhohlene Neid dabei heraus, dass da jemand etwas scheinbar aus dem Ärmel schüttelt oder gar – wie für die Eltern angenommen – gar nichts für den Geldsegen tun muss, den das begabte Kind nach Hause holt. Ich halte dieses pauschale Urteil über Menschen, die einem nicht ansatzweise persönlich bekannt sind, für unangemessen und deplatziert.
Neid scheint aber auch im Big Business an der Tagesordnung. Anders kann ich mir Kommentare wie diese in einem Opernforum nicht erklären:

Ich habe mir das „Ave Maria“ (Bach/Gounod) angehört – und ich muß ganz ehrlich sagen: Es war überhaupt nicht rund! Die Stimme wirkt tatsächlich wie eine halbwegs geschulte Stimme einer Jugendlichen, die Intonation war ziemlich häufig neben der Spur, und ihr Kleid in Kombination mit den Schuhen war auch zu erwachsen bis kitschig. Sie bedient Klischees! Das goldlockige Engelchen, das zur Weihnachstzeit „Ave Maria“ trällert – brr, mich schüttelt’s.“

Dass die Leute allesamt, einschließlich der Jury, aus dem Häuschen sind, deutet darauf hin, dass sie von klassischem Gesang so viel Ahnung haben wie“die Kuh vom Kreppelbacken “ ( hessisch / Kreppel = Pfannkuchen ). Da wird jeder höhere Ton bejubelt, der nicht “ gekrische “ wird ( hessisch = geschrien ) wird wie beim Popgesang.

Es spricht eine gewisse Hilflosigkeit angesichts des ungewöhnlichen Talents Willighagens aus diesen Wortmeldungen. Man ist gewissermaßen geschockt, denn man selbst (die meisten, die dort schreiben, sind selbst in der Klassik-Branche unterwegs) hatte es gewiss nicht so leicht. Hilflosigkeit, die schnell in eine gewisse grobe Niederträchtigkeit übergeht.

Warum sollten Kinder keine Opern singen, wenn sie es können, wenn sie technisch dazu in der Lage sind? Ich würde deshalb kein Kind fest an einer Oper engagieren oder es regelmäßig auftreten lassen. Aber warum soll es damit nicht hin und wieder erste Bühnenerfahrung sammeln? „Verheizen“ sieht meines Erachtens nach anders aus. Ich selbst war sieben Jahre alt, als ich 1986 dem Kinder- und Jugendchor der Singakademie Dresden beitrat. Für mich bedeutete das zwei Mal pro Woche Gesangstraining und Chorprobe, vor Auftritten zusätzlich Sonderproben. Drei- bis viermal im Jahr traten wir auf – Matthäus-Passion, Missa Solemnis, Weihnachtsoratorium von Bach, Carmina Burana, unter so namhaften Dirigenten wie Mikis Theodorakis, mit Opernstars wie Peter Schreyer und Theo Adam. Es war stressig, aber eine schöne Zeit. Missen möchte ich sie nicht. Geschadet hat sie mir auch nicht. Wie oft treten die Knaben des Kreuzchores im Jahr auf? Auch dort gibt es sehr gute Solisten, die klassische Arien vortragen. Ich erinnere nur an den fantastischen Dennis Chmelensky, der mit 14 Jahren Solist unter Barenboim und Rattle beim Berliner Staatsopernchor war.

Alles, was ich damit sagen will: Leute, lasst die Kirche im Dorf. Nicht jedes Stimmwunderkind endet als ausgebranntes Wrack, nur weil es schon in früher Jugend öffentlich auftrat. Und nicht jedes Stimmwunderkind wird zwangsläufig einmal ein Opernstar – egal, ob man es hetzt oder schont. Es gibt kein Patentrezept für eine erfolgreiche Karriere im Operngeschäft.
Ob aus Amira Willihagen irgendwann einmal eine große Opernsängerin, die nächste Anna Netrebko oder gar Maria Callas, wird, wird die Zukunft zeigen. Was man aber gewiss nicht tun sollte, ist, sie jetzt schon abzuschreiben, weil sie eine CD aufgenommen und im Jahr sechs größere Auftritte (keine Konzerte!) gegeben hat.