Kleine Geschichte der Gentrifizierung – oder wie ein Stadtteil sein menschliches Antlitz verlor.

Februar 1987. Dresden, ach Dresden. Einem jeden von uns blutet das Herz beim Gedanken daran, dass wir die Stadt vielleicht schon in wenigen Wochen wieder verlassen müssen. Wann hat man je einen Ort von solch erhabener Schönheit gesehen? Das heißt, eigentlich ist die Stadt ja weniger schön mit all ihren noch immer sichtbaren Kriegswunden und -narben, als dass man ihre einstige Schönheit noch immer erahnen kann, und an manchen Stellen schwingt sie sich zu voller Blüte auf. Im Zwinger zum Beispiel, ja, ich erinnere mich noch gut an unseren Besuch dort im letzten Juni. Tschemuschin, unser damaliger Alter und ein echter Schlächter, hatte uns – damals noch blutige Grünschnäbel kurz nach dem Grundwehrdienst – die halbe Nacht lang traktiert: antreten, Liegestütze, die Nationalhymne singen, hinlegen, wieder antreten… und so weiter. Und dazwischen mit Schlägen und Tritten nicht gespart. Der Teufel soll in holen, den alten Drecksack. Am nächsten Tag sind wir jedenfalls völlig ramponiert zu dem Ausflug aufgebrochen, auf den wir uns alle so gefreut hatten – fest entschlossen, uns das von keinem verfluchten Tschemuschin der Welt verderben zu lassen. Der Zwinger war beeindruckend, besonders die Inschrift dieses Teufelskerls Hanutin, des Minenräumers, die auch über 40 Jahre später noch in der Zwinger- und auch an der Schlossmauer erkennbar ist.
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Doch auf dem Weg dorthin offenbarten sich uns in einem Anflug von grausamem Realismus die Schattenseiten der Stadt. Ein Viertel unweit unseres Städtchens, fast scheint es von Gott und aller Welt vergessen: dreckig, die Häuser schwarz von Ruß und Abgasen, manche kriegsversehrt, vor sich hinmodernd oder bereits ruinös, nur teilweise noch bewohnt. Tschemuschin lachte grimmig, als er unsere betroffenen Blicke angesichts all des Verfalls sah, an dem wir mit der Straßenbahn vorbeiholperten. Es war unser erster richtiger Ausflug aus der Kaserne gewesen und irgendwie hatten wir mit so viel offensichtlichem Elend in einem Land, das bei uns daheim für seine Fortschrittlichkeit bewundert wurde, nicht gerechnet. „Soll eh alles bald weg“, hatte Tschemuschin, der verwitterte Mittdreißiger, abfällig hinter seiner Zigarette hervorgenuschelt. „Wird mal ein echtes Sternenstädtchen, alles neu und sauber. Aber nicht für so kleine Verlierer wie euch. Da kommen die Anständigen hin, die Fleißigen, die, die dem Vaterland Ehre machen.“

Was Tschemuschin, die anderen und auch ich damals nicht wussten: Das Viertel, die Neustadt, am nördlichen Elbufer gelegen, wird nicht fallen zumindest nicht sofort. Und es gibt auch noch Menschen, die dort wohnen. Sie wird nicht fallen, weil sich viele dieser Bewohner dagegen organisieren werden. Sie werden auf die Barrikaden gehen, um ihre Heimat vor dem Abriss zu retten – und damit auch ein Stück Kultur- und Lebensraum. Die Neustadt ist für sie ein Refugium, in dem sie sich vergleichsweise frei bewegen können, wo in verfallenen Hinterhöfen kreative Impulse Raum finden, sich zu entfalten, wo sich verräucherte Kneipen, Ateliers und Wohnungen auf wundersame Weise in abrissreifen Häusern halten. Viele junge Familien wohnen dort, Studenten, Künstler, die junge Intelligenz, aber auch gesellschaftlich Ausgestoßene, Penner. Omelnitschenko, Unterleutnant und der Zugführer unseres achten Panzerausbildungszuges unserer vierten Kompanie des ersten Bataillons, hat mir nach einem seiner mehr oder weniger legalen Ausflüge in eine bei sowjetischen Offizieren beliebte Bar im besagten Viertel in lebendigen Farben davon erzählt. Omelnitschenko ist in Ordnung, man kann im vertrauen. Einer der wenigen hier aus dem Offizierskorps. Hat mir sogar versprochen, mich mal dorthin mitzunehmen, sollte ich nach der Ausbildung in Dresden stationiert werden und meine Balken erhalten. In der Neustadt, so schilderte nun Omelnitschenko, herrsche quasi Anarchie. Dort lebe jeder, wie es ihm gefiel, und ein allseits bekannter Wirt weise jedem, der nachfragte, den Weg in eine Kommunalka in einem besonders verfallenen Haus, in der freie Liebe praktiziert werde – jeder mit jedem. Der gute Jaschka Omelnitschenko, kaum zwei Jahre älter als ich, hat mich geneckt und ausgelacht, weil ich ganz rote Ohren bekommen hatte. Nun ja, ich gestehe, wir Kursanten haben hier nach einem halben Jahr auf dem Trockenen alle ein ziemliches Defizit in Sachen Liebe entwickelt – und anderthalb weitere Jahre noch vor uns!

So ist das also mit dem hässlichen Dresden: Die Neustadt, eine Enklave wie aus einer anderen Welt. Und deren Bewohner, deren harter Kern der Kampf um Wohn- und Lebensraum und um freie Entfaltung zusammengeschweißt hat. Wahrscheinlich wissen sie ganz genau, dass die sozialistisch-futuristischen Neubauten, die hier geplant sind, nicht für sie gedacht sind. Aber vielleicht können sie sich auch einfach gar nicht vorstellen, in solch beengten Verhältnissen, in einem mit dem Lineal gezogenen, tristen Trabanten, zu hausen? 10000 Menschen leben noch in der ausblutenden Neustadt. Immer mehr ziehen weg. Würden die Neubaupläne verwirklicht, würden es plötzlich Zigtausende sein, die sich dieselbe Fläche teilen müssten, zu teureren, für viele unerschwinglichen Mieten. Der Kampf dieser Menschen um ihr Stückchen Heimat und sei sie auch in einem noch so desolaten Zustand, und die vielen Geschichten und Mythen, die sich in unseren Reihen um das angeblich freizügige Leben dort ranken, faszinieren mich auf eine Weise, die schwer zu erklären ist. Bei uns daheim kenne ich niemanden, der mit derartigem Verve um ein paar alte Bauten kämpfen und sich dafür auch noch mit der Staatsmacht anlegen würde. Denn das werden sie. Zunächst mit Erfolg.

Jahre später.

Die Neustadt wurde nicht abgerissen, stattdessen kam die Wiedervereinigung. Unsere Truppen jagten die Deutschen zum Teufel, gut, dass ich das nicht mehr miterleben musste. Aber im Prinzip fand ich es richtig so. Fast 50 Jahre waren doch wirklich genug. Zumal ich von Jaschka wusste, dass wir einfachen Jungs vielen Deutschen einfach nur leidtaten. Und nichts könnte schlimmer sein als bemitleidet zu werden. Dabei konnten einem eigentlich die Deutschen leidtun: zu Befehlsempfängern degradiert im eigenen Lande und der Willkür einer fremden Macht vollends ausgeliefert. Das änderte sich nun schlagartig. Und die logische Konsequenz für uns konnte nur lauten: Abzug. Und überhaupt hatten wir ja alsbald bei uns daheim mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen.

Aber was wurde aus der modrigen Neustadt, die mich so fasziniert hatte? Sie wurde zum Sanierungsgebiet. Es gab also erst mal kaum neue Häuser, sondern die alten, eigentlich so herrlichen Gründerzeitbauten wurden aufwendig saniert, manche abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Die Neustadt füllte sich langsam wieder mit Leben. In den folgenden 30 Jahren wird sich die Zahl ihrer Bewohner fast verdoppeln. Doch die Menschen, die damals so gekämpft haben, haben den Kampf trotzdem verloren. Sie kämpften ja nicht nur um den Erhalt der Bausubstanz, sondern vorrangig um ihre Lebensphilosophien und Träume, um das, was sie in all den Jahren der Nichtbeachtung durch den Staat mit eigenen Händen geschaffen hatten. Das waren vor allem soziale Errungenschaften: Arbeitslosentreffs, trockene Wohnungen für Familien und alte Menschen, Räume für Kunstschaffende, Kinderspielplätze, Straßenfeste – alles Dinge, die der Gemeinschaft dienten, nicht dem Einzelnen. Von alledem ist heute kaum etwas geblieben. Die Häuser sind neu und schick – aber sie gehören nicht mehr den Menschen, sondern raffgierigen Kapitalisten – so wie fast alles andere auch. Raum für freie Entfaltung gibt es kaum noch. Die Menschen treten sich gegenseitig auf die Füße, und der einstige Geist von Freiheitlichkeit, Aufmüpfigkeit und Solidargedanke ist im Grunde hinweggeblasen, niedergewalzt von der Planierraupe des Kapitalismus. Längst ist sich in der Neustadt jeder selbst der Nächste. Anders als damals hat das Viertel heute den Ruf eines Party- und Amüsierviertels weg. Die Straßen sind gesäumt von Kneipen, ein Club reiht sich an den nächsten, schließt der eine, öffnet ein anderer. Und die Betreiber rühmen sich gar des Monsters, das da erschaffen wurde, ja sie wetteifern förmlich um den Status des Wegbereiters dieser „neuen Neustadt“. Und sie sehen sich – und das ist das eigentlich Groteske dabei – in der Tradition ausgerechnet jener, für deren Träume sie im Grunde zum Totengräber wurden. Es ist ein seltsames Klima, wenn man durch die Straßen geht: ein Viertel, das in sich selbst verliebt ist für etwas, das es längst nicht mehr ist, das nur noch als Tagebucheintrag in den Aufzeichnungen der Altvorderen existiert, als gerahmtes Kalenderblatt in der Stadtteilchronik des hiesigen Museums.

Bei uns daheim gibt es ein schönes Sprichwort: „Alle sind Leute, doch längst nicht alle auch Menschen.“ Damals, als ich kurz vor meiner Entlassung aus der Armee im Herbst 1988 mit Jaschka durch die Neustadt lief, traf ich fast ausschließlich Menschen. Gute, herzliche Menschen, denen die Gemeinschaft am Herzen lag. Die meisten waren arme Künstler, Querdenker oder hart arbeitende Leute, aber alle anständig und ehrlich und tief mit ihrem Viertel verwurzelt. Mit dem wenigen, was sie hatten, versuchten sie es zu verschönern, bunt zu machen. Sie halfen einander gegenseitig dabei und versetzten auf diese Weise ganze Häuser wieder in einen bewohnbaren Zustand. Manchmal versteckten sie auch Unsere, wenn manche sich unerlaubt aus der Kaserne gestohlen hatten, um ein wenig Spaß zu haben, und ihnen die Schasskommandos auf den Fersen waren. Sie haben mein Bild von den Deutschen tiefgreifend verändert. Zum Positiven.

Wenn ich heute durch die Straßen der Neustadt gehe, ist nichts von der alten Faszination geblieben. Ich sehe ein Viertel wie so viele andere: protzig, geschäftig, übervölkert, eng, schmutzig und nur ganz vereinzelt noch trotzig – und wenn, dann an den falschen Stellen. Aufmüpfigkeit äußert sich allenfalls noch im Herumgelunger auf Straßen und Gehwegen, in den Grafitti an den Hauswänden, weniger in geistiger Beweglichkeit und solidarischer Initiative. Stattdessen hat der Profit das Ruder übernommen. Längst ist es wichtiger geworden, dass der eigene Laden läuft, sich selbst darzustellen, als dass die Nachbarn in ihren Wohnungen ruhig schlafen können. Schmutz und Lärm aus unzähligen Clubs und Restaurants verlangen den Bewohnern immer mehr Nervenstärke und Kompromissbereitschaft ab. Viele der Menschen, die damals für den Erhalt eines Gemeinwesens kämpften, sind lange schon fort. Geflohen vor dem Moloch, den die Entourage der Modernisierung und Erneuerung erschuf – auch gern als Gentrifizierung bezeichnet. Die alten Idealisten von damals – sie waren machtlos gegen die gewaltige Sogkraft des Geldes und gegen das Besitzdenken, sie passten sich an oder warfen schließlich ernüchtert das Handtuch.

„Auf der Wiese der Hoffnung weiden viele Narren“… noch so ein altes russisches Sprichwort. Sie haben wirklich geglaubt, sie könnten die Neustadt retten und die weitere Entwicklung des Viertels dauerhaft im Sinne des Gemeinwesens gestalten. Und scheiterten, nachdem die DDR Geschichte war und andere den neuen Zeitgeist für sich arbeiten ließen. Sie brauchten gar nicht viel dafür zu tun. Fast schon ein – wenn auch trauriges – Musterbeispiel für die Systematik des Kapitalismus, das jedem sowjetischen Sachbuch über den Marxismus-Leninismus zur Ehre gereicht hätte.

So viel dazu, wie der Lauf der Dinge sich manchmal auf unschöne Weise verselbständigt. Wirklich schändlich aber ist der teils schmutzige Kampf um die verbliebenen Ressourcen im fast totgespielten Viertel. Mit dem Tempo, mit dem die letzten Freiflächen mit Wohnhäusern vollgestopft werden, wächst auch das Gerangel um Vorrechte, Besitzansprüche und Deutungshoheiten. Wer war zuerst da? Bewohner oder Kneipen? Es ist verlockend, auf den Neustadt-Express aufzuspringen, der mit so originell klingenden Attributen wie „alternativ“ und „Szeneviertel“ mit Werten für sich wirbt, die längst an den Rand gedrängt wurden vom routinierten Alltag eines Handels- und Geschäftsviertels. Wohnungen werden immer teurer – und die Clubs immer lauter, um sich gegen die wachsende Konkurrenz durchzusetzen. Was ironischerweise immer seltener gelingt. Ihre Gäste kommen oft von außerhalb und treiben die Einheimischen nachts mit Gegröhle und Gelächter und am nächsten Morgen durch ihre zahlreichen Hinterlassenschaften in Straßen und Höfen in den Wahnsinn. Die Clubs selbst wiederum rauben den Anwohnern mit allnächtlichem Bass-Gedröhn den Schlaf. Es ist mir ein Rätsel, warum so viele Leute das mehr oder weniger klaglos über sich ergehen lassen. Zu Zeiten unseres guten alten Leonid Iljitsch wären solche Chaoten im Arbeitslager gelandet. Doch wer sich in der Neustadt beschwert, der sieht sich sofortigen Überprüfungen auf „Stallgeruch“ ausgesetzt: Wieso ziehst DU hierher, wenn’s dir hier bei UNS nicht gefällt? Wenn DIR egal ist, was WIR hier geschaffen haben? Da wird von „Kulturschutz“ gefaselt, wo eigentlich der Schutz der eigenen Geschäftsinteressen gemeint ist, die möglichst unbehelligt bleiben sollen von den berechtigten Interessen der Anwohner. Und wenn wir schon dabei sind: Ja, die Bewohner waren zuerst da! Als ich in die Neustadt kam 1988, da gab es eine Handvoll Kneipen, die ohne die Menschen im Viertel aufgeschmissen gewesen wären, und ansonsten einfach Menschen, die hier lebten und versuchten, das Beste draus zu machen. MITEINANDER, nicht gegeneinander. Heute dagegen sind den Kneipiers die Anwohner meist herzlich egal, interessant ist vielmehr, dass die hauptsächlich auswärtigen Gäste genug Platz zum Parken haben und die Musik möglichst bis fünf Uhr morgens auf voller Lautstärke laufen kann, damit die Bude voll bleibt und der Rubel rollt.

 

Um ehrlich zu sein: Die Leute, die hier heute wohnen, haben mein Deutschen-Bild erneut nachhaltig erschüttert. Diesmal zum Negativen Ich dachte immer, die Deutschen wären ein kluges, kultiviertes Volk. Aber das Geld und der Profit haben sie zu willenlosen Sklaven gemacht, die fast ausschließlich an sich selbst und das eigene Fortkommen denken. Kaum irgendwo lässt sich das anschaulicher beobachten wie in der Dresdner Neustadt.

Drei Jahre nachdem ich aus Deutschland nach Hause zurückkehrte, putschten die Reformisten um Boris Jelzin gegen die Kommunisten. Eines ihrer Hautquartiere lag nur ein paar Hundert Kilometer südlich von Sewerouralsk, in Swerdlowsk, dem heutigen Jekaterinburg. Vor sechs Jahren bin ich mit der Frau in einen Vorort Jekaterinburgs gezogen, um im Alter doch etwas näher an den medizinischen Versorgungszentren und bei den Kindern zu sein, von denen zwei schon seit Langem in Jekaterinburg leben. Sadovny hat etwas mehr als 3000 Einwohner. Es gibt im Zentrum einen kleinen Boulevard mit einigen netten Geschäften, Cafés. Wenn ich mit meiner Frau abends ausgehe, dann kehren wir in Ninotschkas kleiner Wirtschaft an der Baltym ein. Im Grunde ist hier auch 25 Jahre nach dem Ende des Kommunismus noch alles wie eh und je, nur die neuen Häuser hinter dem Teich zeugen von der Veränderung. Viele neureiche Jekaterinburger bauen sich hier draußen im Grünen ihre Wochenendsitze. Aber das ist nicht vergleichbar mit den Eintwicklungen in Dresden, der Stadt, in der ich zwei Jahre meiner Jugend zubrachte. Als ich nun von einem Besuch, auf den ich mich gefreut hatte wie ein kleines Kind und den ich im Großen und Ganzen auch sehr genossen habe, wurde mir eines klar: wie glücklich ich in meiner kleinen, dörflichen Welt doch bin, wo sich die Menschen gegenseitig achten, einander helfen und sich vor allem als Menschen betrachten, nicht als Kaufkraftfaktor.

Kann man noch tiefer sinken? Hetzblog frohlockt über niedergestochenen Flüchtlingsaktivisten aus Dresden.

Nichts als Spott und Zynismus für ein Gewaltopfer. Foto: Screenshot Quotenqueen
Nichts als Spott und Zynismus für ein Gewaltopfer. Foto: Screenshot Quotenqueen
Wie tief kann ein Mensch sinken? Wann ist die Grenze erreicht, ab der man sich vom Menschsein verabschiedet und die tierischen Instinkte Oberhand gewinnen lässt?
„Student wäre lieber von Nazi niedergestochen worden“ – so der polemische Titel eines Artikels im bislang lediglich eingefleischten Pegida-Fans bekannten Blog „Quotenqueen“. „Überparteilich, unabhängig, unverkäuflich“ – mit diesen Attributen wirbt das der islamfeindlichen Hetzplattform Politically Incorrect und der Pegida-Bewegung nahe stehende Blog für sich. So unverhohlen, wie dort Werbung für rechte Parteien wie die AfD, die österreichische rechtspopulistische FPÖ, die ebenso ausgerichtete holländische Wilders-Partei für die Freiheit oder auch stramm rechte Medien wie die „Junge Freiheit“ gemacht wird, darf das allerdings stark bezweifelt werden. Besser passte nach kurzem Studium der Kernthemen „antiislamisch, rassistisch, linkenfeindlich“. Der erschwindelte tadellose Leumund bekommt schon gleich zu Beginn einen fetten Knacks: Der kritischen Überpüfung entzieht man sich. Das Blog besitzt weder ein Impressum noch sonst irgendeinen Hinweis auf den Herausgeber. Die angesprochene Klientel wird das freilich wenig interessieren.

Grundlage des erwähnten Artikels bildet ein Überfall einer Gruppe von Männern auf einen 29-jährigen Studenten in der Dresdner Neustadt am vergangenen Samstagmorgen. Gegen 4.20 Uhr war der junge Mann mit drei Freunden gegen 4.20 Uhr auf dem Heimweg von einer Party gewesen, als er vor einer Pizzeria in der Alaunstraße plötzlich unvermittelt von ca. sechs bis acht Männern angegriffen und nach seinen eigenen Angaben völlig grundlos verprügelt und niedergestochen worden war. Die Nacht endete für ihn im Krankenhaus. Bilanz: zweit Messerstiche im Rücken, Lungenquetschung, Schlüsselbeinprellung, weitere Blessuren. Das Opfer selbst, seine Begleiter sowie Zeugen beschreiben die Täter als „nordafrikanischer oder südländischer Abstammung“, das Pizzeria-Personal sprach laut Polizei von „Arabern“. Der Verletzte konnte zwischenzeitlich das Krankenhaus wieder verlassen. Die Täter konnten unerkannt fliehen, die Polizei ermittelt.

Dass solch ein Gewaltakt in meinem Viertel erschüttert und beunruhigt, ist verständlich. Doch was vorgeblich „unabhängige“ Sekundärmedien wie oben genanntes Blog damit machen, stellt all das noch in den Schatten. Unter dem Deckmantel vermeintlicher Unabhängigkeit wird sich völlig unverblümt über das Opfer lustig gemacht und an seinem Leid ergötzt: Sein Unglück könne man sich leider nicht aussuchen, spöttelt der unbekannte Autor über den Verletzten. Für „Quotenqueen“ ist klar: Die Täter waren „Araber“, der Geschädigte wird als „einfacher Besoffski“ verunglimpft und lächerlich gemacht. Die eigentliche Aussage, die sich hinter all dem verbirgt, lautet: Das hat er doch verdient, wenn er sich für die Musels einsetzt. Weil sich das Opfer öffentlich gegenüber verschiedenen Medien als Flüchtlingsunterstützer und Pegida-Gegner zu erkennen gegeben hat und sich betroffen zeigte, dass es ausgerechnet von Migranten angegriffen worden sei, landet es nun am islamfeindlichen Internetpranger. Der Gipfel der Unerträglichkeit ist dann die völlig an den Haaren herbeigezogene und absolut zynische Bemerkung, der Betroffene wäre dann doch lieber von einem Nazi niedergestochen worden.

Dass dieser Wahnsinn Methode hat, zeigen unzählige Facebook-Profile, in denen ähnliche Vorfälle akribisch „ausgewertet“, die Opfer verspottet werden. Notfalls greift man in Ermangelung echter Opfer krimineller Asylbewerber schon mal auf Gewaltopfer zurück, die sehr offensichtlich von Leuten aus den eigenen Reihen aufs Korn genommen wurden, wie das Beispiel des Freitaler Linken-Stadtrats Michael Richter zeigte. Richters Auto war am 27. Juli dieses Jahres vor dessen Freitaler Wohnhaus mit einem Sprengsatz in die Luft gejagt worden – weil er sich als Fraktionsvorsitzender seiner Partei im Stadtrat jener Stadt, die für ihre Anti-Asyl-Ausschreitungen bundesweite Bekanntheit erlangte, für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen einsetzte. Im Anschluss weideten asylfeindliche Blogs und Facebook-Gruppen wie etwa die rechtsextreme Freitaler Bürgerwehr den Vorfall aus, verspotteten das Opfer und drohten ihm sogar öffentlich weitere Maßnahmen an. In Zwischenzeit hat es im September und Oktober weitere Anschläge gegeben – auf Richters Freitaler Parteibüro, das nach Vandalismus und einer Sprengstoffexplosion unbenutzbar ist.

Für die asylfeindliche Szene sind solche Fälle – insbesondere wenn Flüchtlingsaktivisten von Tätern mit Migrationshintergrund angegriffen werden – genau der Treibstoff, den man für Hetzkampagnen braucht. Unreflektiert wird sich die Geschichte dann zweckorientiert zurechtgebogen. Die Vermutung des Pizza-Personals, es handele sich bei den Dresdner Messerstechern um Araber, wird einseitig und ungeprüft übernommen, weil sie ins Konzept passt. Was dagegen nicht ins Konzept passt, sind die Aussagen der Zeugen, die zu Protokoll gaben, dass die Täter zwar südländisch wirkten, aber sehr gut Deutsch sprachen. Dies spricht wiederum keineswegs dafür, dass es sich bei den Gesuchten um Protagonisten aus der Gruppe der aktuell in Dresden aufgenommenen Kriegsflüchtlinge handelt, gegen die bei „Quotenqueen“ mit Vorliebe Stimmung gemacht wird. So wird die derzeitige Flüchtlingskrise dort als „sich anbahnende Katastrophe durch illegale Landnahme vor unserer Tür“ dargestellt und in absolut unhaltbarer Weise mit der seit Jahrzehnten fortgesetzten Landnahme der israelischen Religiösen in Palästina gleichgesetzt.

So unbegrenzt die Möglichkeiten des Internet für jeden Einzelnen, so bitter der Beigeschmack, den die Erkenntnis hinterlässt, dass diese eben auch radikalen und extremistischen Schreihälsen aller Couleur – von Nazis über Pegida bis Antifa – ihre Arbeit wesentlich erleichtern. Jeder kann sich an den Rechner setzen und seine „Wahrheiten“ in die Welt hinausposaunen. Und sei es, dass ungelernte Ich-AGler wie die von „Quotenqueen“ in Heimarbeit den Profis der „selbsternannten Qualitätsmedien“ erklären wollen, wie ihrer Ansicht nach „Qualitätsjournalismus“ geht. Im Ergebnis sieht der bei Quotenqueen dann so aus:

Welche Flüchtlinge sind jedoch hier in Massen auf dem Weg zu uns? Junge kräftige Männer, die absolut nicht den Eindruck machen, als dass sie der Hilfe besonders bedürften. Arbeitslose haben wir selbst genug und selbst Fachkräfte werden hier kaum gebraucht. Viele Fachkräfte verlassen das Land, weil sie sich im Ausland mehr Selbstbehalt ihres Einkommens erhoffen, weil im Ausland häufig die Steuer- und Sozialabgabenlast erträglicher ist.

Besser kann man nicht mehr zum Ausdruck bringen, dass man keine Ahnung hat und sich noch nie auch nur ansatzweise mit den hier ankommenden Flüchtlingen befasst hat, von denen viele eine Ausbildung oder sogar ein Studium abgeschlossen haben. Ahnung weder von unseren Gesetzen noch von unserem Steuersystem, den Steuersystemen anderswo in Europa noch von der Fachkräftesituation in unserem Land. Kaum irgendwo in Europa liegt der Eingangssteuersatz so niedrig wie bei uns (14 Prozent). Trotzdem nennt „Qotenqueen“ diese Steuersituation als einen legitimen Grund, dem Land den Rücken zu kehren und sich anderswo niederzulassen, wo man weniger Steuern zahlt. Man meint, sich zu erinnern, dass im Pegida-Jargon ein solches Verhalten auch gern mit dem Terminus „Wirtschaftsflüchtling“ beschrieben wird. Doch wenn’s der Deutsche macht, ist’s natürlich legitim. Wenn’s ein Algerier macht, nennt sich das „Asyltourismus“ und „Schmarotzertum“. Und so ist es gar nicht selten, dass Asylgegner selbst in ihrem Leben schon mehrfach Steuer- und Arbeitsasyl im Ausland in Anspruch nahmen. Die meisten davon im Steuerparadies Schweiz.
Wenn große Industrieunternehmen regelrechte Jobbörsen veranstalten und sich „Leckerli“ in Form von betriebseigener Kinderbetreuung bis hin zur Wohnungsbeschaffung überlegen, um irgendwie die benötigten Fachkräfte an Land zu ziehen – dann sollte das dem einen oder anderen vielleicht doch mal zu denken geben.

Was an all dem eigentlich am meisten ärgert ist, dass es für diese Art „Nachrichten“ einen wachsenden Markt zu geben scheint. Einen Markt für gefilterte, speziell auf bestimmte Meinungsspektren zugeschnittene Informationen, die kritischem Denken gezielt entgegensteuern, niedere Instinkte und Emotionen bedienen und auf diese Weise zur Herausbildung von Zellen aufgehetzter, potenziell handlungsbereiter Aktivisten führt. Man darf davon ausgehen, dass hier zunehmend eine Situation entsteht, die immer weiter außer Kontrolle geraten wird. Einfach deshalb, weil der Zugriff auf die Urheber durch Anonymität häufig erschwert wird und die Fülle an bereits existierenden Angeboten eine Kontrolle quasi unmöglich macht.

Was bleibt ist die Ernüchterung über die menschlichen Abgründe, die sich da auftun. Selbst Menschen, die einem nahe stehen, mit denen man bislang eigentlich gut zusammengearbeitet hat oder gar befreundet war, entpuppten sich plötzlich als Vollblut-Agitateure und Menschenverachter, die ihre gesamte Freizeit daran setzen, vermeintliche „Belege“ dafür ins Netz zu hacken, dass das Abendland kurz vor der Islamisierung und damit vor dem Untergang stehe. Menschen, mit denen man gestern noch Seite an Seite Projekte stemmte oder ein Bier trinken ging. DAS, nicht die Flüchtlinge, ist die wahre Tragödie unserer Zeit. Wie immer sind es die Krisensituationen, die das Wahre im Menschen hervorbringen. Und diese Wahrheit ist untrüglich, denn sie ist nicht fremdinduziert, sondern ein Spiegel der eigenen Sozialisierung.

Das Dresdner Messer-Opfer steht derweil weiterhin zu seinem Flüchtlingsengagement und wehrt sich vehement gegen eine Vereinnahmung seines Schicksals durch Pegida-nahe Akteure. Ein Appell, der schon im Nichts verpuffte, ehe er überhaupt ausgesprochen war.

Als die Mauern fielen

Am 9. November 1989 wurden die Menschen im Osten Deutschlands zum zweiten Mal in den vergangenen 50 Jahren befreit. Am 8. Mai 1945 stieß die Sowjetarmee in blutigen, opferreichen Schlachten die faschistische Schreckensdikatur Hitlers vom Sockel. 44 Jahre später rissen mutige Menschen jene Mauer nieder, die die Befreier von damals in Auftrag gegeben hatten, um die Massenfluchten zu verhindern, die insetzten, als klar geworden war, dass man von einer in die nächste Willkürherrschaft geraten war. Nur unter umgekehrten Vorzeichen.

25 Jahre später übertragen Fernsehsender live schwülstige Gedenkveranstaltungen aus Berlin. Als wären Erinnerung und Würdigung mit einem demonstrativen Händedruck, blumigen Reden und selbst verordneter Betroffenheit am Jubiläumstag getan. Sie sind es nicht. Zumal sich vor den Kameras ohnehin meist solche produzieren, die heute das Sagen haben. Nicht jene, die damals an der Mauer standen oder zuvor wochenlang auf die Straßen gingen. Die Freiheit, die die Menschen im Osten damals errangen, sie musste in den letzten 25 Jahren immer wieder aufs Neue verteidigt und eingefordert werden. Sei es im Zuge der mit der Wende eintretenden Massenarbeitslosigkeit, die dazu führe, dass viele Menschen trotz neuer Freiheit arm waren und diese Freiheit oft gar nicht nutzen konnten. Sei es bei politischer Beteiligung, den Löhnen oder in der Wahrnemung der Westdeutschen. Erinnerung sollte also auch immer mit der Mahnung verbunden sein, die Schattenseiten der überstürzten Wiedervereinigung nicht zu vergessen. Die „blühenden Landschaften“, die Helmut Kohl 1990 dem Osten versprach, sie sind längst nicht überall bis heute auch eingetreten, und wo sie tatsächlich erblüht sind, drängen sie allzu häufig reale soziale Probleme an den Rand der Städte und damit aus dem Blickfeld.

Sperrgebiet.
Sperrgebiet.

Wenig Grund also zur öffentlichen Beweihräucherung. Und doch ist es Zeit für Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass mutige Menschen überhaupt damals die Grundlage schufen, dass Deutschland wiedervereint sein, auseinandergerissene Familien wieder zueinanderfinden konnten. Dankbarkeit dafür, dass jeder in Deutschland heute seines eigenen Glückes Schmied ist. Auch wenn dieses Glück längst nicht für jeden gleichsam einfach  zu erreichen ist. Die soziale Schere klafft in einem kapitalistischen System für gewöhnlich weit. Und gerade jene, die mit Reichtum und Glück besonders gesegnet sind, verschließen ihre Augen und Herzen vor dem Unglück und der Armut anderer häufig am meisten. Es ist eine jener Schattenseiten der Wiedervereinigung, zumindest für die Ostdeutsche Seite.

Der 9. November sollte Anlass zur Einkehr sein. Was tat ich damals? Wo war ich? Wie sah mein Leben aus und wie ist es heute? Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, holten mich meine Eltern abends aus dem Bett vor den Fernseher. Und da saß die Familie in einem Plattenbau in Dresden-Gorbitz, in den wir sieben Monate zuvor eingezogen waren, und schaute zu, wie ihr bisheriges Leben 200 Kilometer entfernt komplett auf den Kopf gestellt wurde. Ich war knapp elf Jahre alt und besuchte die fünfte Klasse einer Schule, die direkt gegenüber lag.

Nirgendwo war Unfreiheit so sehr greifbar geworden wie hier. Zumindest für mich, das Neustadt-Kind, das zwischen Alaunplatz, Elbe und Prießnitzgrund aufgewachsen  und  in Nullkommanichts im Kulturhaus, im Kino, im Museum, auf der Straße der Befreiung (heute Hauptstraße) oder auf dem Spielplatz war. Anders hier oben. Jedes Gebäude, jeder Straßenzug – alles sah gleich aus. Eine Stadt aus Beton inmitten einer Schlammwüste, zwischen Bergen aus Bauschutt. Zum nächsten Geschäft (einer Kaufhalle) musste man drei Stationen mit der Straßenbahn fahren. Einen Spielplatz gab es nicht. Das nächste Kino – eine halbe Stunde Fahrt entfernt. Sogar den nächsten Baum musste man anfangs lange suchen. Und doch gab es gerade hier ausgesprochen viele ehemalige Neustadt-Kinder wie mich. Ob sie alle auch so sehr litten wie ich, ist schwer zu sagen.

Selbst in der Neustadt, mit ihren niemals enden wollenden Kasernenmauern, den Sperrgebieten, dem Stacheldraht und den Verbotsschildern, den patrouillierenden bewaffneten Soldaten mit dem roten Stern auf den Mützen, war ich nach meinem heutigen Empfinden nicht so unfrei gewesen. Hier war jedes Haus anders. Hatte andere Türen, andere Fenster, mal Balkone, mal wieder nicht. Sie waren hoch oder niederig, halbwegs bewohnbar oder ruinös. Aber: Sie waren alle unterschiedlich. Jedes einzelne individuell. Und genauso waren die Menschen, die in ihnen lebten. Es war ein schönes Leben hier. Trotzdem freute ich mich, als es im April 1989 hieß: Wir ziehen nach Gorbitz, in eine Wohnung mit Vollbad, Elektroherd und eigenen Zimmern für beide Kinder. Es war die naive Freude eines heranwachsenden Kindes, das sich nach Abenteuer sehnte und nach Privatsphäre.

Trotz der Tristesse in der Gorbitzer Einöde empfand ich den Mauerfall nicht als Befreiung, sondern als Fremdkörper, der auf Distanz blieb und gar nicht greifbar wurde. Auch weil sich an meinem täglichen Leben hier am Rande der Zivilisation zunächst wenig änderte. Ich ging weiter zur Schule. Ich aß. Ich schlief. Ich spielte. Während die Mauer in Berlin zerhackstückt wurde, bauten sie hier in Gorbitz immer neue Mauern auf. Lärmschutzwände entlang der neuen Ausfallstraße nach Pennrich. Ein neues Einkaufszentrum. Ein neuer Straßenbahnhof. Noch im November 1989 hieß es dann: Wir fahren nach Westberlin. Einkaufen. Am Schalter für das Begrüßungsgeld warteten wir Stunden. Der Anblick des Überflusses „drüben“ erschlug mich beinahe. Wie Zombies wandelten wir durch die Hochglanzstraßen, über den Kurfürstendamm, wo wir selbst mit Begrüßungsgeld nur die Nasen an den Schaufenstern plattdrücken konnten. Als wir spät abends wieder über den Grenzübergang Friedrichstraße liefen, war ich wie benommen. Was wir schließlich eingekauft hatten, weiß ich heute gar nicht mehr. Irgendwas. Wir Kinder waren unfähig gewesen, irgendwelche Wünsche zu formulieren in all der Reizüberflutung.

Silvester 1989 feierten wir ganz normal daheim. Im Laufe des Jahres 1990 wurden die Veränderungen dann doch langsam spürbar. Sie äußerten sich darin, dass plötzlich andere Lehrbücher bzw. behelfsweise „Zusatzmaterialien“ ausgegeben wurden. Was man uns bis dato beigebracht hatte – es war plötzlich alles nicht mehr richtig. Die üblichen sozialistischen Grüße zu Stundenbeginn fielen weg – was von uns Schülern im Allgemeinen mit Erleichterung registriert wurde. Im September 1989 hatte ich noch mein rotes Halstuch der Thälmannpioniere bekommen. Nun verstaubte es im Schrank. Mit elf Jahren und am Vorabend der Pubertät stehend, stand für mich plötzlich mein ganzes bisheriges Leben, alles das, was mir bis dato an Werten vermittelt, als falsch und richtig beigebracht worden war, infrage.

Die D-Mark kam. Das alte Geld war plötzlich nichts mehr wert. Früher hatten mir meine Eltern immer gepredigt: Kind, halt dein Geld zusammen, spare! Nun hieß es: Alles bis dann und dann ausgeben, danach bekommst du dafür nichts mehr. Ganze Familien verloren die Hälfte ihrer Ersparnisse. Es begann ein schmerzhafter Prozess für einen jungen Menschen, der von allem, was da passierte, noch so gut wie nichts verstand, und der viel mit Identitätsverlust und Identitätssuche zu tun hatte. Vielleicht, ja sehr wahrscheinlich sogar, wäre vieles einfacher gewesen, hätte ich nicht derart abgeschieden gelebt hätte, in einem Mikrokosmos noch zu DDR-Zeiten Privilegierter. Denn nur als solcher bekam man in aller Regel eine Wohnung im „modernen Neubau“. Auch meine Familie gehörte dazu, mit einem Vater, der jahrelang an der Erdgastrasse geschuftet hatte. Hier hoch in die städtische Frischluftzone schafften es revolutionärer Geist und Aufbruchsstimmung erst ganz zuletzt. Dass neue Zeiten Einzug gehalten hatten, sah man allerhöchstens an den VWs und Opels, die plötzlich vor dem Haus die Trabis und Wartburgs verdrängten.

Und doch bin ich heute, als Erwachsene, froh, dass es so gekommen ist, wie es damals kam. Als ich es 1999 in Gorbitz, das nach der Wende zum Synonym des sozialen Abstiegs und des Scheiterns im neuen System wurde, einfach nicht mehr aushielt, konnte ich mir eine Wohnung suchen und in die Neustadt zurückkehren. Etwas, das zu DDR-Zeiten so niemals ohne Weiteres möglich gewesen wäre. Als ich in der Neustadt ankam, waren  die bewaffneten Soldaten verschwunden. Jahrelang war das Militär in meiner Kinderzeit mein ständiger Begleiter gewesen. Sein Gehen aber war in Gorbitz völlig an mir vorbeigegangen. Zum anderen waren ihm in Zwischenzeit vielerorts Mauern und Stacheldraht gefolgt. Es ist ein untrügliches Zeichen von Freiheit, heute überall hingehen zu können, selbst auf die ehemaligen militärischen Gelände, in die ehemaligen Kasernen, durch den Prießnitzgrund und die Dresdner Heide wandern, in den Bächen baden zu können – ohne Angst, ohne Gefahr für Leben und Gesundheit. Und nicht zuletzt hatten auch die Schinderei und der ideologische Stumpfsinn in den Kasernen ein Ende genommen.

Freiheit bedeutet deshalb heute für mich nicht zuletzt, die Verbotsschilder in wackeligem Deutsch auf den bröckelnden Resten der Kasernenmauern verblassen zu sehen. Sie waren unsere „Mauer“. Jahrzehntelang hatte man sie vor Augen. Und das Schlimmste war: Über ihre wahre Funktion hatte man uns, die Kinder, im Unklaren gelassen. Stattdessen hatte man uns belogen, uns erzählt, dass die Soldaten dahinter mit all ihren Waffen hier waren, um uns zu beschützen. Dass sie bis zum Quasi-Bankrott der Sowjetnion in den 80er-Jahren auf alles schossen, was sich organisiert gegen das System wandte, sogar auf ihre eigenen Leute, wurde verschwiegen. Wie viele Deutsche und sowjetische Soldaten vor und hinter den Kasernenmauern durch die Hand des Militärs starben, ist nicht bekannt. Es dürften Zigtausende gewesens ein. Ich werde nie vergessen, wie sich der Griff meiner Mutter um mein Handgelenk verstärkte und ihre Hand schweißnass wurde, wenn wir allein im Prießnitzgrund waren und uns ein Trupp Soldaten über den Weg lief. Das heute nicht mehr erfahren zu müssen, ist Freiheit. Freiheit, die am 9. November 1989 begann.

 

Fundstück.

1889 - Dem Hause Wettin zum 800. Jubiläum.
1889 - Dem Hause Wettin zum 800. Jubiläum.

Wer kann sagen, wo diese prächtige Tafel in Dresden einst zu Ehren kam? Handwerkervereine machten sie dem sächsischen König Albert anlässlich des 800. Jubiläums des Hauses Wettin zum Geschenk. Derzeit verrottet sie auf dem ehemaligen Sportplatz der Sowjetarmee westlich des Alaunplatzes zwischen allerlei anderen, dort scheinbar achtlos abgelegten Memorabilia und Bauteilen aus der Innenstadt. So finden sich dort unter anderem Seifenpflastersteine und schwere gusseiserne Zaunelemente aus der Zwingeranlage.
Auf dem Bild sind deutlich mehrere Löcher im Metall zu sehen – könnten das gar noch Einschusslöcher aus umkämpften Zeiten sein?

Geburt einer Idee?

Gestern war bundesweiter Tag des (offenen) Friedhofs. Auch in Dresden gab es anlässlich dieses Tages Friedhofsführungen bzw. Vorträge, so etwa auf dem Jüdischen Friedhof in der Pulsnitzer Straße, Dresden-Neustadt, dem Tolkewitzer Friedhof, oder auch auf dem Trinitatisfriedhof in der Johannstadt. Auf dem Nordfriedhof am Kannenhenkelweg konnten Besucher in Führungen die Ruhestätten von Größen des preußischen Militärs, wie etwa die der sächsischen Kriegsminister von Carlowitz oder von der Planitz, sowie die Gedenkstätte für den Mitverschwörer des 20. Juli 1944, Friedrich Olbricht, besichtigen.
Ganz großer Bahnhof dagegen auf dem Heidefriedhof: Malgorzata Chodakowskas Skulptur „Trauerndes Mädchen am Tränenmeer“ zum Gedenken der Opfer des alliierten Bombardements vom 13. Februar wurde der Öffentlichkeit übergeben.

Man mag nun geteilter Ansicht sein, ob etwa der Heidefriedhof mit seiner ohnehin schlicht monumental zu nennenden Gedenkinfrastruktur, was die Opfer des 2. Weltkrieges ingesamt anbelangt, ein weiteres Mahnmal gebraucht hätte, oder ob der Jüdische Friedhof in der Pulsnitzer Straße auch zum Tag des (offenen) Friedhofes 4 Euro Eintritt verlangen muss (so stand es zumindest in der Zeitung und am Tor). Eine positive Geschichte ist dieser Tag des (offenen) Friedhofs allemal, bedeutet er doch eine wichtige Annäherung an Themen wie Tod und die Endlichkeit allen Seins, aber auch die Geschichte der jeweiligen Region.

Was ich sehr schade finde, ist die Tatsache, dass weder Stadt noch Freistaat, noch Vereine oder Institutionen diesen Tag jemals genutzt hätten, auch Führungen auf dem Garnisonfriedhof der Sowjetischen Armee an der Marienallee anzubieten. Gerade hier, auf einer Anlage, die eine Zeit berührt, die die meisten von uns noch unmittebar miterlebt haben, gäbe es so viel zu erzählen, so viel Möglichkeit zu Aufklärung, Enttabuisierung und Austausch.
Doch wie in jedem Jahr, waren für den Garnisonfriedhof auch in diesem Jahr keinerlei Veranstaltungen geplant.

Daher hatte ich beschlossen, dies einfach selbst in die Hand zu nehmen und mich als Gedenkstättenführer zu versuchen. Vorab sei vielleicht darauf hingewiesen, dass ich mich nicht aus politisch-ideologischen Gründen um eine bessere Wahrnehmung des Friedhofes bemühe, sondern vor allem aus historischen, aufklärerischen und kulturellen. Es geht darum, zu zeigen, dass auf dem Friedhof Licht und Schatten nah beieinander liegen. Dass die Helden, die hier im Befreiungskampf starben, zugleich auch grausame Besatzer waren, dass das Regime, das sie hier verteidigten, ein grausames war, das sich auch gegen die eigenen Leute richtete – junge Menschen, deren Gräber zu Dutzenden auf dem Friedhof zu finden sind. Letztendlich, dass es allemal lohnt, diese Stätte in ihrer Gesamtheit und vor allem in ihrer Ursrpünglichkeit als zeitgeschichtlich relevantes Kulturgut zu erhalten und der Öffentlichkeit nahezubringen.

Eine Informationstafel (bestehend aus einer Leinwand) mit allerlei Wissenswertem rund um Geschichte, Beschaffenheit und Zukunft des Garnisonfriedhofes war schnell zusammengestellt. Sie enthielt unter anderem einen mehr als provisorischen und gewiss nicht maßstabsgerechten Lageplan, um zu zeigen, dass der Friedhof am nördlichen Ende der Hauptanlage weitergeht. Die Tafel wurde gut einsehbar am Friedhofstor befestigt, das sonst immer fest verrammelte Tor selbst weit geöffnet.
Und die Sache wurde ein voller Erfolg.
Da zwischenzeitlich die Arbeit rief, war es mir lediglich möglich, zwischen 13:30 und 14:45 Uhr sowie zwischen 17:15 und 18:00 Uhr selbst vor Ort zu sein. In diesen zwei Stunden zählte ich mindestens 25 Gäste auf einer Anlage, die sonst mehr oder weniger einsam im Schatten der Heide liegt. Mit vielen davon ergaben sich sehr gute Gespräche.

Tag des Friedhofs - Leben auf dem Garnisonfriedhof.
Tag des Friedhofs - Leben auf dem Garnisonfriedhof.

Etwas unsicher war ich zunächst, wie ich mich verhalten sollte: die Leute gleich am Tor in Empfang nehmen? Sich eher im Hintergrund halten und sie kommen lassen? Es stellte sich heraus, dass viele einen freundlichen Empfang am Tor mit der Bemerkung, falls Fragen bestünden, könnte man sich gern an mich wenden, sehr schätzten. Auch die Auskunft, dass die Verfasserin der Zeitungsartikel, aufgrund derer man sich entschlossen hatte, mal wieder vorbeizuschauen, direkt vor Ort war, löste positive Reaktionen aus und stellte sofort ein ungezwungenes Klima her.
Bei meinen früheren Besuchen zu Recherchezwecken war ich meist über Stunden völlig allein auf der Anlage – trotz Wochenendes und schönen Wetters. Die Menschen liefen meist verschüchtert vorbei, blieben allenfalls mal kurz stehen, um durch die Gitterstäbe zu lugen. Nur selten verirrte sich mal jemand für einen kurzen verschämten Besuch oder schlimmstenfalls auf der Suche nach einem Ort fürs kleine Geschäft auf den Friedhof.

Gestern war das anders. Von Besuchern, die die Anlage bereits kannten, erfuhr ich, dass viele bis heute nicht wussten, dass es noch einen zivilen Anbau im Norden des Areals gibt. Diejenigen, die ich dort hinführte, zeigten sich bestürzt über den verwahrlosten Zustand. Ein Mann bestürmte mich mit Fragen, ob ich einen Verein wüsste, der sich um die Auffindung von in Russland oder Polen während des 2. Weltkriegs verstorbenen Wehrmachtsoldaten bemühe; ein weiterer in Begleitung seiner Frau war selbst vom Zustand der an sich gepflegten Hauptanlage wenig begeistert.
Es stellte sich heraus, dass der Radebeuler in der jüdischen Gemeinde engagiert ist. Auch von dort, so berichtete er, kenne man das, dass die Friedhöfe oft verwahrlosten, wenn sich nicht Vereine oder engagierte Bürger darum kümmerten. Er freute sich wie ein Kind, als ich ihn zu einem Grab führte, das ich vorsichtig als das eines jüdischen Sowjetsoldaten identifiziert hatte: Der 1947 verstorbene Oberleutnant der Sowjetischen Armee hieß mit Nachnamen Baum, und auf seinem Grabmal liegen zwei blankpolierte Steine.

Es muss dazugesagt werden, dass sich das Interesse erfreulicherweise nicht nur auf die ältere Generation beschränkte. Auch Jugendliche und junge Erwachsene sammelten sich am Tor vor der Tafel, die allermeisten statteten der Anlage draufhin einen mehr oder weniger ausgedehnten Besuch ab. Intensiverer Informationsbedarf zeichnete sich aber dann doch bei den Gästen jenseits der 55 ab.
Leider gab es auch die weniger sensiblen „Besucher“ – so etwa eine Frau um die 40 in lässig-modernem Outfit mit Knöpfen im Ohr, die Musik daraus konnte man noch auf 60 Meter Entfernung deutlich hören. Sie schlenderte mit desinteressiertem Gesicht über den Hauptweg – um dann schließlich an einem Vogelbeerenstrauch mit hübschen orangenen Früchten stehen zu bleiben, ein paar Zweige abzubrechen und wieder abzuziehen.

Jedenfalls war dieser Tag des (offenen) Friedhofes der Geburtstag einer Idee. Aufgrund des positiven Feedbacks durch Besucher, die sich erfreut zeigten, endlich einmal einen Ansprechpartner vor Ort zu haben, der ihnen mehr zur Anlage erzählen konnte, habe ich mir überlegt, dass man solche Führungen doch regelmäßiger veranstalten könnte, um einen größeren Bekanntheitsgrad des Friedhofes in der Bevölkerung zu etablieren. Da mehrere Besucher andeuteten, sich durchaus vorstellen zu können, ein-, zweimal im Quartal oder Halbjahr mit anzupacken und die gröbsten Witterungs- oder Vandalismusschäden auf dem Friedhof zu beseitigen, überlege ich sogar, demnächst (möglichst noch vor dem Winter) so etwas wie eine Art „Aktion Friedhofsputz“ für den Nordflügel zu organisieren, um diesen wenigstens ansatzweise wieder in einen würdigen Zustand zu versetzen.

Die Hoffnung, die ich mit diesem Engagement verbinde, ist die, dass der Freistaat so davon überzeugt werden kann, seine Pläne zum Abriss der originalen Grabanlagen im Nordflügel zugunsten einer Grünanlage mit lediglich noch zwei Stelen ad acta zu legen. Die Kosten, die bei einer gebührenden Pflege eines so großen Areals anfallen würden, waren (nach Aussage des Staatsbetriebes Sächsisches Immobilien- und Baumanagement) ein Hauptgrund für die jahrelange stiefmütterliche Behandlung durch den Freistaat und sie dürften auch ein Hauptgrund für die aktuellen Umgestaltungspläne sein. Doch würde die Umbaumaßnahe an sich Zigtausende wenn nicht gar über hunderttausend Euro kosten – Geld, das mittels bürgerlichen Engagements gespart und zum Beispiel für die sinnvolle Gestaltung des ehemaligen Russensportplatzes am Alaunplatz verwendet werden könnte.

Nur wenn die Anlage in ihrem Ursprungszustand erhalten bleibt, jedes einzelne der über 400 Soldatengräber des Nordflügels so wie seine Pendants, die das Glück hatten, auf der gepflegten Hauptanlage ihre letzte Ruhe zu finden, eingesehen werden kann, wird doch die Dimension sichtbar, in der ein totalitäres Regime ohne Rücksicht auf Menschenleben in den eigenen Reihen seinen Status quo aufrechterhalten wollte. Sie stehen hier in Dresden repräsentativ für die 2000-4000 sowjetischen Soldaten, die Schätzungen von Historikern und Menschenrechtsorganisationen zufolge während der Besatzungszeit JÄHRLICH IN DER DDR zu Friedenszeiten ihr Leben verloren.

P. S.: Wem es ein Bedürfnis ist, sich für den Erhalt des einzigen Friedhofes in Dresden in seinem ursprünglichen architektonischen Zustand zu engagieren, der ausschließlich nichtdeutsche Staatsangehörige beherbergt, kann sich gerne melden. Ich freue mich jederzeit über Mitstreiter. Hier geht es nicht um Spenden oder finanzielle Aufwendungen, sondern vor allem um Öffentlichkeitsarbeit und gegebenenfalls wenige Male im Jahr um tatkräftiges Anpacken. Die eine oder andere Heckenschere, Schaufel oder Harke könnte allerdings durchaus von Nutzen sein 😉

Neustädter „Russen-Sportplatz“ – eine Odyssee von nunmehr 18 Jahren.

Jeder halbwegs sesshaft gewordene Neustädter wird wissen, was gemeint ist, wenn vom „Russen-Sportplatz“ die Rede ist. Das Westareal des Alaunparks, ca. 4 Hektar groß, diente bis zur Wende als Sportplatz für die in den umliegenden Neustädter Kasernen stationierten Sowjetsoldaten. Die letzten Sowjets zogen 1993 aus Dresden ab, das Gelände wurde vom Kampfmittelräumdienst gesichert, die existierenden Gebäude bis auf einige wenige in ihre Bestandteile zerlegt – diese türmen sich dort noch heute in Form loser Platten und Einzelteile. Seit nunmehr 18 Jahren liegt das Gelände brach, bis heute verrotten dort die Überbleibsel der Vergangenheit, bis heute wuchert das Unkraut; und mit dem Unkraut, so scheint es, möchte die Stadt den Mantel des Vergessens über das Areal legen, die Erinnerung an eine Zeit zudecken, die mancher wohl gern aus seinem Gedächtnis tilgen wollte.

Anders kann man sich die nun fast 2 Jahrzehnte dauernde Tatenlosigkeit der Stadt sowie das zermürbende, letztlich zu nichts führende Hickhack um eine Wiederbelebung des Gebietes seitens Parteien, Verbänden und Bürgerinitiativen nicht erklären. Immer wieder taucht das Thema in den Agenden von Ortsbeirats- und Stadtratssitzungen auf – so zuletzt im Dezember 2009 im Ortsbeirat Neustadt -, wusste im kommunalen Wahlkampf 2009 viel Beachtung in der Bevölkerung zu schüren; immer wieder werden Anträge und Anfragen an die Stadtverwaltung und das Land gestellt, immer wieder, so scheint es, versickert das Thema in den Rinnsälen kommunaler Bürokratie.
Wahrlich eine Schande, weiß man doch, dass die Neustadt eines der kinderreichsten Stadtviertel Deutschlands, dicht bebaut und mit verhältnismäßig wenig Grün- und Freiflächen ausgestattet ist. Schon heute treten sich die Menschen auf dem Alaunplatz mit seiner begrenzten Fläche an schönen Tagen fast tot – darunter leiden nicht nur die Menschen, sondern zu allererst auch die Anlage selbst. Im Spätsommer ist vom erquickenden Rasengrün zumindest stellenweise fast nichts als eine erdbraune, kahlgewalzte Wüste übrig geblieben, dank exzessiver und unkontrollierter Nutzung als Bolz-, Grillplatz und für andere raumgreifende Freizeitaktivitäten. Wo sollen sie auch hin? Bis heute gibt es keinen öffentlichen Grillplatz in der Neustadt, keine öffentliche Freizeitanlage mit Spielfeld. Wenn das so weitergeht, wird der Platz als Erholungsoase bald ausgedient haben.

Woran scheitert es also?
Nach Auskunft der Neustadt-Grünen hakt es an einer allgemeinen Kakophonie innerhalb der Kommunikation zwischen Stadt und Land. Die Stadt (in Person der Oberbürgermeister Helma Orosz) möchte nach eigenen Angaben das im Besitz des Landes Sachsen befindliche Areal gerne vom Land kaufen. Das Land Sachsen jedoch will es nach Aussage der Stadt nicht verkaufen. Offiziell behauptet nun aber wieder das Land Sachsen, es läge ihm seitens der Stadt Dresden gar kein Kaufinteresse vor. Wer flunkert hier?
In einem Antwortschreiben der Frau Oberbürgermeisterin Orosz an die anfragende SPD-Landtagsabgeordnete Sabine Friedel vom November 2008 teilte Erstere mit, dass über den Ankauf des Geländes bereits seit 2007 über das Liegenschaftsamt mit dem Land Sachsen Gespräche geführt würden. Als Grund für den stockenden Fortschritt nannte die Bürgermeisterin einen entscheidenden Dissens zwischen Stadt und Land hinsichtlich der Preisvorstellungen.
Angesichts diverser Großprojekte straßen- und gewerbebaulicher Art, die seither in Dresden verwirklicht wurden, frage ich mich ernsthaft, wie es sein kann, dass bei einem dringend notwendigen Projekt zur Aufwertung des Wohnumfeldes eines der pulsierendsten Stadtteile Dresdens ein solches Gefeilsche um den Kaufpreis ausbricht. Wenn das der Grund sein soll, weshalb es in Sachen Russenbrache seit Jahren nicht vorangeht, dann rufe ich hiermit dazu auf, eine Bürgerinitiative zu gründen und notfalls den zur Debatte stehenden Differenzbetrag aus Spendenmitteln aufzubringen, damit dieses Projekt endlich umgesetzt wird.
Dass der Bedarf groß und die Ideen zur Nutzung des Areals vielfältig sind, zeigen Umfragen der Grünen unter Neustädter BürgerInnen:

In meiner Erinnerung präsentierte sich das Gelände zu DDR-Zeiten als bewehrte Bastion, umgeben von Steinmauern, teils mit Stacheldrahtaufsatz, und mit einem eisernen Tor samt Ausfahrt zur Südseite hin. Diese fremdelnde Abwehrhaltung zog uns Kinder magisch an, in großer Zahl lungerten wir oft an oder in der Nähe der Mauer herum und suchten Kontakt zu den Soldaten.
Auf dem Gelände selbst, auf welches man entweder von der Nordseite, von der Tannenstraße aus, oder bei Erklimmen der Mauern einen Blick werfen konnte, befanden sich ein ziemlich erbarmungswürdiges Ballsportfeld mit provisorischer Laufbahn ringsherum, ein schmuckloser Plattenbau – wohl Verwaltungsgebäude -, diverse lagerähnliche Anbauten sowie in der nordöstlichen Ecke, unterhalb der Tannenstraße, ein paar Stallungen mit Schweinen und Hühnern. Auf dem restlichen Gelände boten ungeordnete Haufen von Baumaterial, diverse Armeefahrzeuge und Gerätschaften ein reichlich chaotisches Bild.

Fragte man mich, wie ich die Brache nutzen wollen würde, kämen mir einige der im obigen Video bereits vorgeschlagenen Dinge ebenso in den Sinn: Ein Fußball- und ein Beachvolleyball-Feld etwa, ein Schwimmbad oder auch einfach nur eine schön gestaltete Parklandschaft mit Spielplatz und Feuerstelle.
Eines jedoch schwebt mir vor, was noch nie wirklich jemand im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Geländes vorschlug: Ich tue mich schwer mit dem Gedanken, die Vergangenheit mit jeder Menge neuer Farbe und modernen Chics zuzudecken und zu übertünchen. Ich fände es spannend und sinnvoll, Erinnerungen, Fundstücke und Informationen über die einstige Präsenz der sowjetischen Besatzungstruppen zusammenzutragen und in einer Art Lehrpfad oder Ausstellung dem kollektiven Gedächtnis zu übergeben.

Neustädter Gemüsehändler in der Kritik.

Anlass für diesen kleinen Beitrag war ein Erlebnis der weniger schönen Art heute Nachmittag beim Grünzeug-Shoppen. Zunächst steuerte ich – wie üblich – den Wochenmarkt auf dem Alaunplatz an, machte aber genervt wieder kehrt, als ich sah, dass der gesamte Marktplatz aufgrund des massiven Tauwetters einer Seenlandschaft glich und mein Stamm-Händler nicht da war. Wo also hin?

Ich stattete dem Asia-Gemüse-Blumen-Laden gleich gegenüber an der Haltestelle Alaunplatz, neben der Bäckerei Rissmann, einen Besuch ab. Die Tür stand offen, aber drinnen war es dunkel und muffig. Der vietnamesische Verkäufer schaute mich an, als wäre ich ein unerwarteter Gast, auf mein freundliches „Hallo“ bekam ich keine Antwort. „Ok“, dachte ich, „schaust du dir das Grünzeug trotzdem mal an“, schießlich brauchte ich dringend Tomaten. Was hatten wir denn da: Verschrumpelte Paprika, ebensolche Cocktail-Tomaten, welke Kräuter, wabbelige Möhren. „Nee“, dachte ich angeekelt und wollte mich gerade dem Obst zuwenden, als mich der Verkäufer plötzlich in gebrochenem Deutsch unfreundlich von der Seite anfuhr:

„Sie jetzt gehen, ich zuschließen, weil Kind abholen“.

Es war wohlgemerkt nachmittags 15:30 Uhr, und laut Öffnungszeiten sollte der Laden bis abends geöffnet sein. Ich war einigermaßen baff, verließ mit einem zugegeben etwas zynischen „Ok, ok, ich geh ja schon“ den Laden und machte mich auf den Weg zum nächsten Grünzeughändler.
Noch nie ist es mir passiert, dass ich derart unhöflich aus einem Geschäft hinauskomplimentiert worden bin. Auf zufriedene Kundschaft, die auch wiederkommt, scheint dieser Laden keinen Wert zu legen – kein Wunder, dass Obst und Gemüse dort im Regal vergammeln, statt gekauft und verzehrt zu werden. Von mir eine glatte 6 – nicht zu empfehlen.

Nächste Station war dann Schlüters Fruit-Shop und Käse-Eck auf der Rothenburger Straße 44. Ein Unterschied wie Tag und Nacht: Zwar lagen auch hier die Preise für Tomaten utopisch hoch, aber zaubern können eben auch Schlüters nicht, denn momentan ist einfach mal keine Saison beim Paradiesapfel. Bei Schlüters fühlt man sich immer willkommen und wird freundlich bedient, egal, wie lange man überlegt. Man wird gut beraten, und ein kleines Pläuschchen übers Wetter, Saison-Gemüse und die Preise ist immer drin. Nachdem ich schon zu zweifeln begonnen hatte, überhaupt noch zu meinen Tomaten zu kommen, verließ ich Schlüters zufrieden und mit dem Reinfall beim Asia-Markt versöhnt. Schlüters verkörpern ein in der Neustadt fast einmaliges Mischkonzept aus Alimentari- und Feinkostladen mit erlesenen Käse- und Wurstprodukten aus aller Welt. Mutter und Sohn Schlüter sind dabei immer freundlich, mit ihrer Stammkundschaft verbindet sie eine familiäre Atmosphäre, kompetent wird über Herkunft und Herstellung der Produkte Auskunft gegeben. Einziger kleiner Kritikpunkt: Der Laden ist doch arg klein und die Produkte manchmal etwas unübersichtlich angeordnet. Von mir gibts hier die Note 1-.

Nun soll hier nicht der Eindruck entstehen, ich würde keine Asia-Gemüsehändler mögen. Im Gegenteil, bin ich beim Händler auf der Alaunstraße neben dem Konsum (nicht der schräg gegenüber) Stammgast. Die Behandlung ist auch hier zwar immer sehr unterkühlt, aber höflich, und Gemüse und Obst sind hier immer von einer geradezu erstaunlichen Frische, der Laden blitzt vor Sauberkeit. Auch die Vielfalt des Angebotes von Obst und Gemüse bis hin zu Eiern, exotisch-asiatischen Lebensmitteln und Getränken ist wahrhaft phänomenal. Zudem darf auch mal probiert werden (z.B. bei Wein oder Beeren). Abzug gibts für die oft sehr gelangweilt und abweisend wirkende Kassiererin sowie die doch im Vergleich recht hohen Preise. Note 2-.

Auch nicht von schlechten Eltern ist der Asia-Gemüsemarkt auf der Bautzner Straße gleich neben dem Bäcker Ecke Alaunstraße (Note 3+) bzw. jener neben der Apotheke Bautzner-/Ecke Löwenstraße (Note 2-). Beide haben ein vielfältiges Angebot, das meistens auch frisch ist. In letzterem Laden ist zudem die Bedienung sehr freundlich.

Weniger zu empfehlen ist hingegen der Asia-Gemüsemarkt schräg gegenüber dem Konsum auf der Alaunstraße (der mit den grellen Scheinwerfern abends). Das Angebot ist zwar auch hier meistens sehr vielfältig und auch frisch, aber wenn man probieren möchte, wird man unfreundlich angeblafft, und mit Ausreden ala „die Beeren sind abgezählt“ wird sich die Kostprobe energisch verbeten. Auch sonst fühlt man sich nicht wirklich erwünscht in diesem Laden, der Umgangston ist meist sehr unterkühlt und abweisend. Daher Note 4 und lieber bei der Konkurrenz vorbeischauen.

Weitere Gemüse-Händler in der Kurzeinschätzung:

Asia-Markt Lousienstraße Höhe Martin-Luther-Straße: sehr freundliche Bedienung, Obst und Gemüse vom Frischegrad gut, Lebensmittelabteilung mit utopischen Preisen – Note 3+.

Asia-Markt Louisenstraße/Ecke Alaunstraße: Lethargisches Personal, Obst und Gemüse vom Frischegrad meistens befriedigend bis ausreichend, Ambiente eher ungepflegt – Note 4-.

Asia-Markt Alaunstraße (kurz vor der Einmündung Bautzner Straße, linke Straßenseite): Personal befriedigend, Zustand der Waren (Grünzeug) meistens ungenügend, Ambiente eher ungepflegt und unhygienisch – Note 5.

Anti-Tretminen-Kampf in der Neustadt zur internationalen Sache erklärt.

Scherzkekse waren am vorvergangenen Wochenende in der Äußeren Neustadt und im Prießnitzgrund unterwegs und markierten die – zahlreich vorhandenen – Hundehaufen am Straßen- bzw. Wegesrand mit Miniaturausgaben der Flaggen der Länder dieser Erde.

Einen praktischen Vorteil hatte das Ganze natürlich neben dem Unterhaltungsfaktor schon: Spaziergänger und Passanten wurden durch die bunten Fähnchen rechtzeitig vor der übelriechenden Gefahr gewarnt, auf die sie zusteuerten. Und ein in der Neustadt allgegenwärtiges Problem stach so noch einmal so richtig ins Auge.

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Wenig Respekt hatten die Leute anscheinend vor der Festung Großbritanniens. Vernichtend geschlagen, ward der Union Jack in den Staub – oder besser den Hundekot – getreten.

Kitas? Ja bitte! Aber auf Kosten von Grünflächen?

Als Bewohnerin der Dresdner Neustadt kenne ich eigentlich genau 3 Dinge, die an diesem herrlich alternativen Fleckchen Erde Mangelware sind:

Kitas
Grünflächen
Spiel-/Freizeitmöglichkeiten für Groß und Klein

Im Fahrwasser der am 07. Juni stattgefundenen Stadtratswahl war die Schaffung neuer Kita-Plätze in der Dresdner Neustadt praktisch unisono von allen Parteien und Wählerbündnissen zu Punkt 1 der Wahlkampf-Tagesordnung erhoben worden. Grundsätzlich eine gute Sache, denn die Neustadt ist das wohl am stärksten expandierende Stadtviertel Dresdens, mit positiver Wachstumsrate  (ca. 300 Geburten pro Jahr sowie ein Wanderungsgewinn von 200  Einwohnern pro Jahr nach Abzug der Wegzüge) und dem niedrigsten Altersdurchschnitt (31,7 Jahre). Es steht also außer Frage, dass Kita-Plätze dringend benötigt werden.
Daher habe ich es grundsätzlich positiv aufgenommen, dass unmittelbar nach der Wahl auch sogleich mit der Umsetzung der Wahlversprechen in Form einer neuen Kita begonnen wird. Ein echter Wermutstropfen ist jedoch der Standort, der dafür ausgesucht wurde. Die neue Kita soll auf dem östlichen Sektor des Alaunplatzes, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den beiden bereits existenten Kitas „Eichhörnchennest“ und „Alaunkids“ entstehen, wobei wohl eine der beiden Kitas dadurch aufgegeben werden soll.  Das bedeutet nicht nur eine regelrechte Kumulation von Kitas um den Alaunplatz, denn da befinden sich auch die Kitas „Knirpse“ am Bischofsweg sowie die heilpädagogische Kita „Regenbogen“ (auch Bischofsweg), sondern auch den Verlust eines weiteren, ohnehin so rar gesäten Fleckchens Grün für die Neustädter Bürger. Statt also den Bedarf an Freizeitflächen mit dem an neuen Kita-Plätzen irgendwie in Einklang zu bringen, wird hier das eine zu Lasten des anderen geschaffen.

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Ich erinnere mich, wie ich als kleiner Knirps mit Mutter und Schwester oft an der großen alten Birke auf jenem Stückchen Rasen spielte. Das Besondere an ihr war immer der ab Boden dreigeteilte Stamm, man konnte sich regelrecht hineinstellen in den Baum. Wenn es geregnet hatte, sammelte sich das Wasser in der Mulde in der Mitte. Mit meinen eigenen Kindern werde ich irgendwann also definitiv nicht dort sitzen, und spielen werden sie dort nur, wenn ich für sie einen Platz in der Kita ergattern kann.