Kleine Geschichte der Gentrifizierung – oder wie ein Stadtteil sein menschliches Antlitz verlor.

Februar 1987. Dresden, ach Dresden. Einem jeden von uns blutet das Herz beim Gedanken daran, dass wir die Stadt vielleicht schon in wenigen Wochen wieder verlassen müssen. Wann hat man je einen Ort von solch erhabener Schönheit gesehen? Das heißt, eigentlich ist die Stadt ja weniger schön mit all ihren noch immer sichtbaren Kriegswunden und -narben, als dass man ihre einstige Schönheit noch immer erahnen kann, und an manchen Stellen schwingt sie sich zu voller Blüte auf. Im Zwinger zum Beispiel, ja, ich erinnere mich noch gut an unseren Besuch dort im letzten Juni. Tschemuschin, unser damaliger Alter und ein echter Schlächter, hatte uns – damals noch blutige Grünschnäbel kurz nach dem Grundwehrdienst – die halbe Nacht lang traktiert: antreten, Liegestütze, die Nationalhymne singen, hinlegen, wieder antreten… und so weiter. Und dazwischen mit Schlägen und Tritten nicht gespart. Der Teufel soll in holen, den alten Drecksack. Am nächsten Tag sind wir jedenfalls völlig ramponiert zu dem Ausflug aufgebrochen, auf den wir uns alle so gefreut hatten – fest entschlossen, uns das von keinem verfluchten Tschemuschin der Welt verderben zu lassen. Der Zwinger war beeindruckend, besonders die Inschrift dieses Teufelskerls Hanutin, des Minenräumers, die auch über 40 Jahre später noch in der Zwinger- und auch an der Schlossmauer erkennbar ist.
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Doch auf dem Weg dorthin offenbarten sich uns in einem Anflug von grausamem Realismus die Schattenseiten der Stadt. Ein Viertel unweit unseres Städtchens, fast scheint es von Gott und aller Welt vergessen: dreckig, die Häuser schwarz von Ruß und Abgasen, manche kriegsversehrt, vor sich hinmodernd oder bereits ruinös, nur teilweise noch bewohnt. Tschemuschin lachte grimmig, als er unsere betroffenen Blicke angesichts all des Verfalls sah, an dem wir mit der Straßenbahn vorbeiholperten. Es war unser erster richtiger Ausflug aus der Kaserne gewesen und irgendwie hatten wir mit so viel offensichtlichem Elend in einem Land, das bei uns daheim für seine Fortschrittlichkeit bewundert wurde, nicht gerechnet. „Soll eh alles bald weg“, hatte Tschemuschin, der verwitterte Mittdreißiger, abfällig hinter seiner Zigarette hervorgenuschelt. „Wird mal ein echtes Sternenstädtchen, alles neu und sauber. Aber nicht für so kleine Verlierer wie euch. Da kommen die Anständigen hin, die Fleißigen, die, die dem Vaterland Ehre machen.“

Was Tschemuschin, die anderen und auch ich damals nicht wussten: Das Viertel, die Neustadt, am nördlichen Elbufer gelegen, wird nicht fallen zumindest nicht sofort. Und es gibt auch noch Menschen, die dort wohnen. Sie wird nicht fallen, weil sich viele dieser Bewohner dagegen organisieren werden. Sie werden auf die Barrikaden gehen, um ihre Heimat vor dem Abriss zu retten – und damit auch ein Stück Kultur- und Lebensraum. Die Neustadt ist für sie ein Refugium, in dem sie sich vergleichsweise frei bewegen können, wo in verfallenen Hinterhöfen kreative Impulse Raum finden, sich zu entfalten, wo sich verräucherte Kneipen, Ateliers und Wohnungen auf wundersame Weise in abrissreifen Häusern halten. Viele junge Familien wohnen dort, Studenten, Künstler, die junge Intelligenz, aber auch gesellschaftlich Ausgestoßene, Penner. Omelnitschenko, Unterleutnant und der Zugführer unseres achten Panzerausbildungszuges unserer vierten Kompanie des ersten Bataillons, hat mir nach einem seiner mehr oder weniger legalen Ausflüge in eine bei sowjetischen Offizieren beliebte Bar im besagten Viertel in lebendigen Farben davon erzählt. Omelnitschenko ist in Ordnung, man kann im vertrauen. Einer der wenigen hier aus dem Offizierskorps. Hat mir sogar versprochen, mich mal dorthin mitzunehmen, sollte ich nach der Ausbildung in Dresden stationiert werden und meine Balken erhalten. In der Neustadt, so schilderte nun Omelnitschenko, herrsche quasi Anarchie. Dort lebe jeder, wie es ihm gefiel, und ein allseits bekannter Wirt weise jedem, der nachfragte, den Weg in eine Kommunalka in einem besonders verfallenen Haus, in der freie Liebe praktiziert werde – jeder mit jedem. Der gute Jaschka Omelnitschenko, kaum zwei Jahre älter als ich, hat mich geneckt und ausgelacht, weil ich ganz rote Ohren bekommen hatte. Nun ja, ich gestehe, wir Kursanten haben hier nach einem halben Jahr auf dem Trockenen alle ein ziemliches Defizit in Sachen Liebe entwickelt – und anderthalb weitere Jahre noch vor uns!

So ist das also mit dem hässlichen Dresden: Die Neustadt, eine Enklave wie aus einer anderen Welt. Und deren Bewohner, deren harter Kern der Kampf um Wohn- und Lebensraum und um freie Entfaltung zusammengeschweißt hat. Wahrscheinlich wissen sie ganz genau, dass die sozialistisch-futuristischen Neubauten, die hier geplant sind, nicht für sie gedacht sind. Aber vielleicht können sie sich auch einfach gar nicht vorstellen, in solch beengten Verhältnissen, in einem mit dem Lineal gezogenen, tristen Trabanten, zu hausen? 10000 Menschen leben noch in der ausblutenden Neustadt. Immer mehr ziehen weg. Würden die Neubaupläne verwirklicht, würden es plötzlich Zigtausende sein, die sich dieselbe Fläche teilen müssten, zu teureren, für viele unerschwinglichen Mieten. Der Kampf dieser Menschen um ihr Stückchen Heimat und sei sie auch in einem noch so desolaten Zustand, und die vielen Geschichten und Mythen, die sich in unseren Reihen um das angeblich freizügige Leben dort ranken, faszinieren mich auf eine Weise, die schwer zu erklären ist. Bei uns daheim kenne ich niemanden, der mit derartigem Verve um ein paar alte Bauten kämpfen und sich dafür auch noch mit der Staatsmacht anlegen würde. Denn das werden sie. Zunächst mit Erfolg.

Jahre später.

Die Neustadt wurde nicht abgerissen, stattdessen kam die Wiedervereinigung. Unsere Truppen jagten die Deutschen zum Teufel, gut, dass ich das nicht mehr miterleben musste. Aber im Prinzip fand ich es richtig so. Fast 50 Jahre waren doch wirklich genug. Zumal ich von Jaschka wusste, dass wir einfachen Jungs vielen Deutschen einfach nur leidtaten. Und nichts könnte schlimmer sein als bemitleidet zu werden. Dabei konnten einem eigentlich die Deutschen leidtun: zu Befehlsempfängern degradiert im eigenen Lande und der Willkür einer fremden Macht vollends ausgeliefert. Das änderte sich nun schlagartig. Und die logische Konsequenz für uns konnte nur lauten: Abzug. Und überhaupt hatten wir ja alsbald bei uns daheim mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen.

Aber was wurde aus der modrigen Neustadt, die mich so fasziniert hatte? Sie wurde zum Sanierungsgebiet. Es gab also erst mal kaum neue Häuser, sondern die alten, eigentlich so herrlichen Gründerzeitbauten wurden aufwendig saniert, manche abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Die Neustadt füllte sich langsam wieder mit Leben. In den folgenden 30 Jahren wird sich die Zahl ihrer Bewohner fast verdoppeln. Doch die Menschen, die damals so gekämpft haben, haben den Kampf trotzdem verloren. Sie kämpften ja nicht nur um den Erhalt der Bausubstanz, sondern vorrangig um ihre Lebensphilosophien und Träume, um das, was sie in all den Jahren der Nichtbeachtung durch den Staat mit eigenen Händen geschaffen hatten. Das waren vor allem soziale Errungenschaften: Arbeitslosentreffs, trockene Wohnungen für Familien und alte Menschen, Räume für Kunstschaffende, Kinderspielplätze, Straßenfeste – alles Dinge, die der Gemeinschaft dienten, nicht dem Einzelnen. Von alledem ist heute kaum etwas geblieben. Die Häuser sind neu und schick – aber sie gehören nicht mehr den Menschen, sondern raffgierigen Kapitalisten – so wie fast alles andere auch. Raum für freie Entfaltung gibt es kaum noch. Die Menschen treten sich gegenseitig auf die Füße, und der einstige Geist von Freiheitlichkeit, Aufmüpfigkeit und Solidargedanke ist im Grunde hinweggeblasen, niedergewalzt von der Planierraupe des Kapitalismus. Längst ist sich in der Neustadt jeder selbst der Nächste. Anders als damals hat das Viertel heute den Ruf eines Party- und Amüsierviertels weg. Die Straßen sind gesäumt von Kneipen, ein Club reiht sich an den nächsten, schließt der eine, öffnet ein anderer. Und die Betreiber rühmen sich gar des Monsters, das da erschaffen wurde, ja sie wetteifern förmlich um den Status des Wegbereiters dieser „neuen Neustadt“. Und sie sehen sich – und das ist das eigentlich Groteske dabei – in der Tradition ausgerechnet jener, für deren Träume sie im Grunde zum Totengräber wurden. Es ist ein seltsames Klima, wenn man durch die Straßen geht: ein Viertel, das in sich selbst verliebt ist für etwas, das es längst nicht mehr ist, das nur noch als Tagebucheintrag in den Aufzeichnungen der Altvorderen existiert, als gerahmtes Kalenderblatt in der Stadtteilchronik des hiesigen Museums.

Bei uns daheim gibt es ein schönes Sprichwort: „Alle sind Leute, doch längst nicht alle auch Menschen.“ Damals, als ich kurz vor meiner Entlassung aus der Armee im Herbst 1988 mit Jaschka durch die Neustadt lief, traf ich fast ausschließlich Menschen. Gute, herzliche Menschen, denen die Gemeinschaft am Herzen lag. Die meisten waren arme Künstler, Querdenker oder hart arbeitende Leute, aber alle anständig und ehrlich und tief mit ihrem Viertel verwurzelt. Mit dem wenigen, was sie hatten, versuchten sie es zu verschönern, bunt zu machen. Sie halfen einander gegenseitig dabei und versetzten auf diese Weise ganze Häuser wieder in einen bewohnbaren Zustand. Manchmal versteckten sie auch Unsere, wenn manche sich unerlaubt aus der Kaserne gestohlen hatten, um ein wenig Spaß zu haben, und ihnen die Schasskommandos auf den Fersen waren. Sie haben mein Bild von den Deutschen tiefgreifend verändert. Zum Positiven.

Wenn ich heute durch die Straßen der Neustadt gehe, ist nichts von der alten Faszination geblieben. Ich sehe ein Viertel wie so viele andere: protzig, geschäftig, übervölkert, eng, schmutzig und nur ganz vereinzelt noch trotzig – und wenn, dann an den falschen Stellen. Aufmüpfigkeit äußert sich allenfalls noch im Herumgelunger auf Straßen und Gehwegen, in den Grafitti an den Hauswänden, weniger in geistiger Beweglichkeit und solidarischer Initiative. Stattdessen hat der Profit das Ruder übernommen. Längst ist es wichtiger geworden, dass der eigene Laden läuft, sich selbst darzustellen, als dass die Nachbarn in ihren Wohnungen ruhig schlafen können. Schmutz und Lärm aus unzähligen Clubs und Restaurants verlangen den Bewohnern immer mehr Nervenstärke und Kompromissbereitschaft ab. Viele der Menschen, die damals für den Erhalt eines Gemeinwesens kämpften, sind lange schon fort. Geflohen vor dem Moloch, den die Entourage der Modernisierung und Erneuerung erschuf – auch gern als Gentrifizierung bezeichnet. Die alten Idealisten von damals – sie waren machtlos gegen die gewaltige Sogkraft des Geldes und gegen das Besitzdenken, sie passten sich an oder warfen schließlich ernüchtert das Handtuch.

„Auf der Wiese der Hoffnung weiden viele Narren“… noch so ein altes russisches Sprichwort. Sie haben wirklich geglaubt, sie könnten die Neustadt retten und die weitere Entwicklung des Viertels dauerhaft im Sinne des Gemeinwesens gestalten. Und scheiterten, nachdem die DDR Geschichte war und andere den neuen Zeitgeist für sich arbeiten ließen. Sie brauchten gar nicht viel dafür zu tun. Fast schon ein – wenn auch trauriges – Musterbeispiel für die Systematik des Kapitalismus, das jedem sowjetischen Sachbuch über den Marxismus-Leninismus zur Ehre gereicht hätte.

So viel dazu, wie der Lauf der Dinge sich manchmal auf unschöne Weise verselbständigt. Wirklich schändlich aber ist der teils schmutzige Kampf um die verbliebenen Ressourcen im fast totgespielten Viertel. Mit dem Tempo, mit dem die letzten Freiflächen mit Wohnhäusern vollgestopft werden, wächst auch das Gerangel um Vorrechte, Besitzansprüche und Deutungshoheiten. Wer war zuerst da? Bewohner oder Kneipen? Es ist verlockend, auf den Neustadt-Express aufzuspringen, der mit so originell klingenden Attributen wie „alternativ“ und „Szeneviertel“ mit Werten für sich wirbt, die längst an den Rand gedrängt wurden vom routinierten Alltag eines Handels- und Geschäftsviertels. Wohnungen werden immer teurer – und die Clubs immer lauter, um sich gegen die wachsende Konkurrenz durchzusetzen. Was ironischerweise immer seltener gelingt. Ihre Gäste kommen oft von außerhalb und treiben die Einheimischen nachts mit Gegröhle und Gelächter und am nächsten Morgen durch ihre zahlreichen Hinterlassenschaften in Straßen und Höfen in den Wahnsinn. Die Clubs selbst wiederum rauben den Anwohnern mit allnächtlichem Bass-Gedröhn den Schlaf. Es ist mir ein Rätsel, warum so viele Leute das mehr oder weniger klaglos über sich ergehen lassen. Zu Zeiten unseres guten alten Leonid Iljitsch wären solche Chaoten im Arbeitslager gelandet. Doch wer sich in der Neustadt beschwert, der sieht sich sofortigen Überprüfungen auf „Stallgeruch“ ausgesetzt: Wieso ziehst DU hierher, wenn’s dir hier bei UNS nicht gefällt? Wenn DIR egal ist, was WIR hier geschaffen haben? Da wird von „Kulturschutz“ gefaselt, wo eigentlich der Schutz der eigenen Geschäftsinteressen gemeint ist, die möglichst unbehelligt bleiben sollen von den berechtigten Interessen der Anwohner. Und wenn wir schon dabei sind: Ja, die Bewohner waren zuerst da! Als ich in die Neustadt kam 1988, da gab es eine Handvoll Kneipen, die ohne die Menschen im Viertel aufgeschmissen gewesen wären, und ansonsten einfach Menschen, die hier lebten und versuchten, das Beste draus zu machen. MITEINANDER, nicht gegeneinander. Heute dagegen sind den Kneipiers die Anwohner meist herzlich egal, interessant ist vielmehr, dass die hauptsächlich auswärtigen Gäste genug Platz zum Parken haben und die Musik möglichst bis fünf Uhr morgens auf voller Lautstärke laufen kann, damit die Bude voll bleibt und der Rubel rollt.

 

Um ehrlich zu sein: Die Leute, die hier heute wohnen, haben mein Deutschen-Bild erneut nachhaltig erschüttert. Diesmal zum Negativen Ich dachte immer, die Deutschen wären ein kluges, kultiviertes Volk. Aber das Geld und der Profit haben sie zu willenlosen Sklaven gemacht, die fast ausschließlich an sich selbst und das eigene Fortkommen denken. Kaum irgendwo lässt sich das anschaulicher beobachten wie in der Dresdner Neustadt.

Drei Jahre nachdem ich aus Deutschland nach Hause zurückkehrte, putschten die Reformisten um Boris Jelzin gegen die Kommunisten. Eines ihrer Hautquartiere lag nur ein paar Hundert Kilometer südlich von Sewerouralsk, in Swerdlowsk, dem heutigen Jekaterinburg. Vor sechs Jahren bin ich mit der Frau in einen Vorort Jekaterinburgs gezogen, um im Alter doch etwas näher an den medizinischen Versorgungszentren und bei den Kindern zu sein, von denen zwei schon seit Langem in Jekaterinburg leben. Sadovny hat etwas mehr als 3000 Einwohner. Es gibt im Zentrum einen kleinen Boulevard mit einigen netten Geschäften, Cafés. Wenn ich mit meiner Frau abends ausgehe, dann kehren wir in Ninotschkas kleiner Wirtschaft an der Baltym ein. Im Grunde ist hier auch 25 Jahre nach dem Ende des Kommunismus noch alles wie eh und je, nur die neuen Häuser hinter dem Teich zeugen von der Veränderung. Viele neureiche Jekaterinburger bauen sich hier draußen im Grünen ihre Wochenendsitze. Aber das ist nicht vergleichbar mit den Eintwicklungen in Dresden, der Stadt, in der ich zwei Jahre meiner Jugend zubrachte. Als ich nun von einem Besuch, auf den ich mich gefreut hatte wie ein kleines Kind und den ich im Großen und Ganzen auch sehr genossen habe, wurde mir eines klar: wie glücklich ich in meiner kleinen, dörflichen Welt doch bin, wo sich die Menschen gegenseitig achten, einander helfen und sich vor allem als Menschen betrachten, nicht als Kaufkraftfaktor.

Kann man noch tiefer sinken? Hetzblog frohlockt über niedergestochenen Flüchtlingsaktivisten aus Dresden.

Nichts als Spott und Zynismus für ein Gewaltopfer. Foto: Screenshot Quotenqueen
Nichts als Spott und Zynismus für ein Gewaltopfer. Foto: Screenshot Quotenqueen
Wie tief kann ein Mensch sinken? Wann ist die Grenze erreicht, ab der man sich vom Menschsein verabschiedet und die tierischen Instinkte Oberhand gewinnen lässt?
„Student wäre lieber von Nazi niedergestochen worden“ – so der polemische Titel eines Artikels im bislang lediglich eingefleischten Pegida-Fans bekannten Blog „Quotenqueen“. „Überparteilich, unabhängig, unverkäuflich“ – mit diesen Attributen wirbt das der islamfeindlichen Hetzplattform Politically Incorrect und der Pegida-Bewegung nahe stehende Blog für sich. So unverhohlen, wie dort Werbung für rechte Parteien wie die AfD, die österreichische rechtspopulistische FPÖ, die ebenso ausgerichtete holländische Wilders-Partei für die Freiheit oder auch stramm rechte Medien wie die „Junge Freiheit“ gemacht wird, darf das allerdings stark bezweifelt werden. Besser passte nach kurzem Studium der Kernthemen „antiislamisch, rassistisch, linkenfeindlich“. Der erschwindelte tadellose Leumund bekommt schon gleich zu Beginn einen fetten Knacks: Der kritischen Überpüfung entzieht man sich. Das Blog besitzt weder ein Impressum noch sonst irgendeinen Hinweis auf den Herausgeber. Die angesprochene Klientel wird das freilich wenig interessieren.

Grundlage des erwähnten Artikels bildet ein Überfall einer Gruppe von Männern auf einen 29-jährigen Studenten in der Dresdner Neustadt am vergangenen Samstagmorgen. Gegen 4.20 Uhr war der junge Mann mit drei Freunden gegen 4.20 Uhr auf dem Heimweg von einer Party gewesen, als er vor einer Pizzeria in der Alaunstraße plötzlich unvermittelt von ca. sechs bis acht Männern angegriffen und nach seinen eigenen Angaben völlig grundlos verprügelt und niedergestochen worden war. Die Nacht endete für ihn im Krankenhaus. Bilanz: zweit Messerstiche im Rücken, Lungenquetschung, Schlüsselbeinprellung, weitere Blessuren. Das Opfer selbst, seine Begleiter sowie Zeugen beschreiben die Täter als „nordafrikanischer oder südländischer Abstammung“, das Pizzeria-Personal sprach laut Polizei von „Arabern“. Der Verletzte konnte zwischenzeitlich das Krankenhaus wieder verlassen. Die Täter konnten unerkannt fliehen, die Polizei ermittelt.

Dass solch ein Gewaltakt in meinem Viertel erschüttert und beunruhigt, ist verständlich. Doch was vorgeblich „unabhängige“ Sekundärmedien wie oben genanntes Blog damit machen, stellt all das noch in den Schatten. Unter dem Deckmantel vermeintlicher Unabhängigkeit wird sich völlig unverblümt über das Opfer lustig gemacht und an seinem Leid ergötzt: Sein Unglück könne man sich leider nicht aussuchen, spöttelt der unbekannte Autor über den Verletzten. Für „Quotenqueen“ ist klar: Die Täter waren „Araber“, der Geschädigte wird als „einfacher Besoffski“ verunglimpft und lächerlich gemacht. Die eigentliche Aussage, die sich hinter all dem verbirgt, lautet: Das hat er doch verdient, wenn er sich für die Musels einsetzt. Weil sich das Opfer öffentlich gegenüber verschiedenen Medien als Flüchtlingsunterstützer und Pegida-Gegner zu erkennen gegeben hat und sich betroffen zeigte, dass es ausgerechnet von Migranten angegriffen worden sei, landet es nun am islamfeindlichen Internetpranger. Der Gipfel der Unerträglichkeit ist dann die völlig an den Haaren herbeigezogene und absolut zynische Bemerkung, der Betroffene wäre dann doch lieber von einem Nazi niedergestochen worden.

Dass dieser Wahnsinn Methode hat, zeigen unzählige Facebook-Profile, in denen ähnliche Vorfälle akribisch „ausgewertet“, die Opfer verspottet werden. Notfalls greift man in Ermangelung echter Opfer krimineller Asylbewerber schon mal auf Gewaltopfer zurück, die sehr offensichtlich von Leuten aus den eigenen Reihen aufs Korn genommen wurden, wie das Beispiel des Freitaler Linken-Stadtrats Michael Richter zeigte. Richters Auto war am 27. Juli dieses Jahres vor dessen Freitaler Wohnhaus mit einem Sprengsatz in die Luft gejagt worden – weil er sich als Fraktionsvorsitzender seiner Partei im Stadtrat jener Stadt, die für ihre Anti-Asyl-Ausschreitungen bundesweite Bekanntheit erlangte, für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen einsetzte. Im Anschluss weideten asylfeindliche Blogs und Facebook-Gruppen wie etwa die rechtsextreme Freitaler Bürgerwehr den Vorfall aus, verspotteten das Opfer und drohten ihm sogar öffentlich weitere Maßnahmen an. In Zwischenzeit hat es im September und Oktober weitere Anschläge gegeben – auf Richters Freitaler Parteibüro, das nach Vandalismus und einer Sprengstoffexplosion unbenutzbar ist.

Für die asylfeindliche Szene sind solche Fälle – insbesondere wenn Flüchtlingsaktivisten von Tätern mit Migrationshintergrund angegriffen werden – genau der Treibstoff, den man für Hetzkampagnen braucht. Unreflektiert wird sich die Geschichte dann zweckorientiert zurechtgebogen. Die Vermutung des Pizza-Personals, es handele sich bei den Dresdner Messerstechern um Araber, wird einseitig und ungeprüft übernommen, weil sie ins Konzept passt. Was dagegen nicht ins Konzept passt, sind die Aussagen der Zeugen, die zu Protokoll gaben, dass die Täter zwar südländisch wirkten, aber sehr gut Deutsch sprachen. Dies spricht wiederum keineswegs dafür, dass es sich bei den Gesuchten um Protagonisten aus der Gruppe der aktuell in Dresden aufgenommenen Kriegsflüchtlinge handelt, gegen die bei „Quotenqueen“ mit Vorliebe Stimmung gemacht wird. So wird die derzeitige Flüchtlingskrise dort als „sich anbahnende Katastrophe durch illegale Landnahme vor unserer Tür“ dargestellt und in absolut unhaltbarer Weise mit der seit Jahrzehnten fortgesetzten Landnahme der israelischen Religiösen in Palästina gleichgesetzt.

So unbegrenzt die Möglichkeiten des Internet für jeden Einzelnen, so bitter der Beigeschmack, den die Erkenntnis hinterlässt, dass diese eben auch radikalen und extremistischen Schreihälsen aller Couleur – von Nazis über Pegida bis Antifa – ihre Arbeit wesentlich erleichtern. Jeder kann sich an den Rechner setzen und seine „Wahrheiten“ in die Welt hinausposaunen. Und sei es, dass ungelernte Ich-AGler wie die von „Quotenqueen“ in Heimarbeit den Profis der „selbsternannten Qualitätsmedien“ erklären wollen, wie ihrer Ansicht nach „Qualitätsjournalismus“ geht. Im Ergebnis sieht der bei Quotenqueen dann so aus:

Welche Flüchtlinge sind jedoch hier in Massen auf dem Weg zu uns? Junge kräftige Männer, die absolut nicht den Eindruck machen, als dass sie der Hilfe besonders bedürften. Arbeitslose haben wir selbst genug und selbst Fachkräfte werden hier kaum gebraucht. Viele Fachkräfte verlassen das Land, weil sie sich im Ausland mehr Selbstbehalt ihres Einkommens erhoffen, weil im Ausland häufig die Steuer- und Sozialabgabenlast erträglicher ist.

Besser kann man nicht mehr zum Ausdruck bringen, dass man keine Ahnung hat und sich noch nie auch nur ansatzweise mit den hier ankommenden Flüchtlingen befasst hat, von denen viele eine Ausbildung oder sogar ein Studium abgeschlossen haben. Ahnung weder von unseren Gesetzen noch von unserem Steuersystem, den Steuersystemen anderswo in Europa noch von der Fachkräftesituation in unserem Land. Kaum irgendwo in Europa liegt der Eingangssteuersatz so niedrig wie bei uns (14 Prozent). Trotzdem nennt „Qotenqueen“ diese Steuersituation als einen legitimen Grund, dem Land den Rücken zu kehren und sich anderswo niederzulassen, wo man weniger Steuern zahlt. Man meint, sich zu erinnern, dass im Pegida-Jargon ein solches Verhalten auch gern mit dem Terminus „Wirtschaftsflüchtling“ beschrieben wird. Doch wenn’s der Deutsche macht, ist’s natürlich legitim. Wenn’s ein Algerier macht, nennt sich das „Asyltourismus“ und „Schmarotzertum“. Und so ist es gar nicht selten, dass Asylgegner selbst in ihrem Leben schon mehrfach Steuer- und Arbeitsasyl im Ausland in Anspruch nahmen. Die meisten davon im Steuerparadies Schweiz.
Wenn große Industrieunternehmen regelrechte Jobbörsen veranstalten und sich „Leckerli“ in Form von betriebseigener Kinderbetreuung bis hin zur Wohnungsbeschaffung überlegen, um irgendwie die benötigten Fachkräfte an Land zu ziehen – dann sollte das dem einen oder anderen vielleicht doch mal zu denken geben.

Was an all dem eigentlich am meisten ärgert ist, dass es für diese Art „Nachrichten“ einen wachsenden Markt zu geben scheint. Einen Markt für gefilterte, speziell auf bestimmte Meinungsspektren zugeschnittene Informationen, die kritischem Denken gezielt entgegensteuern, niedere Instinkte und Emotionen bedienen und auf diese Weise zur Herausbildung von Zellen aufgehetzter, potenziell handlungsbereiter Aktivisten führt. Man darf davon ausgehen, dass hier zunehmend eine Situation entsteht, die immer weiter außer Kontrolle geraten wird. Einfach deshalb, weil der Zugriff auf die Urheber durch Anonymität häufig erschwert wird und die Fülle an bereits existierenden Angeboten eine Kontrolle quasi unmöglich macht.

Was bleibt ist die Ernüchterung über die menschlichen Abgründe, die sich da auftun. Selbst Menschen, die einem nahe stehen, mit denen man bislang eigentlich gut zusammengearbeitet hat oder gar befreundet war, entpuppten sich plötzlich als Vollblut-Agitateure und Menschenverachter, die ihre gesamte Freizeit daran setzen, vermeintliche „Belege“ dafür ins Netz zu hacken, dass das Abendland kurz vor der Islamisierung und damit vor dem Untergang stehe. Menschen, mit denen man gestern noch Seite an Seite Projekte stemmte oder ein Bier trinken ging. DAS, nicht die Flüchtlinge, ist die wahre Tragödie unserer Zeit. Wie immer sind es die Krisensituationen, die das Wahre im Menschen hervorbringen. Und diese Wahrheit ist untrüglich, denn sie ist nicht fremdinduziert, sondern ein Spiegel der eigenen Sozialisierung.

Das Dresdner Messer-Opfer steht derweil weiterhin zu seinem Flüchtlingsengagement und wehrt sich vehement gegen eine Vereinnahmung seines Schicksals durch Pegida-nahe Akteure. Ein Appell, der schon im Nichts verpuffte, ehe er überhaupt ausgesprochen war.

Der Freund aus einer anderen Zeit

Stellen Sie sich vor, da steht jemand unangekündigt in der Tür, den Sie vor langer Zeit flüchtig kannten und den Sie 35 Jahre lang nicht gesehen haben. Bei Heike Geißler stand niemand in der Tür. Von der Vergangenheit eingeholt wurde die 53-jährige Lausitzerin dennoch. Im Februar klingelt plötzlich daheim in einem Ort im Görlitzer Umland das Telefon. Freunde, Kollegen, Nachbarn bestürmen sie: „Du bist in der Zeitung! Ein Mann sucht nach dir!“ Für die seit 35 Jahren verheiratete Frau und zweifache Mutter erst mal ein Schreck.

Freundschaftstreffen auf dem Vorplatz des Hellerauer Festspielhauses, das damals sowjetische Kaserne war. Ganz links: Heike Michel (Geißler) und Michail Gordejew.
Freundschaftstreffen auf dem Vorplatz des Hellerauer Festspielhauses, das damals sowjetische Kaserne war. Ganz links: Heike Michel (Geißler) und Michail Gordejew.

Der Mann, der nach Heike Geißler sucht, heißt Michail Gordejew. Kurilka und auch die Sächsische Zeitung berichteten Ende Februar über das Anliegen des 56-jährigen Russen. Vor fast vier Jahrzehnten war Gordejew als 19-jähriger Wehrpflichtiger der Sowjetarmee nach Dresden gekommen – und dort Heike begegnet, die damals noch ihren Mädchennamen „Michel“ trug. Sein Appell löst eine Welle der Anteilnahme aus. Unzählige Anrufe und E-Mails gehen zum möglichen Verbleib von Heike ein. Der entscheidende Hinweis kommt nach drei Tagen: „Die gesuchte Heike Michel ist meine Frau“, schreibt Joachim Geißler.

Nach dem ersten Schrecken besinnt sich Heike Geißler, will erzählen, wie das damals war mit Mischa aus dem Ural. „Inzwischen weiß es ohnehin fast jeder bei uns, und die Reaktionen sind bislang fast durchweg positiv“, so die 53-Jährige mit einer Stimme, die durchs Telefon als fröhlicher Alt erschallt. Ihr Onkel habe sie angerufen. „Er sagte: Du wirst vom KGB gesucht. Kennst du einen Mischa? Ich wusste sofort, wer gemeint war.“

Noch heute arbeitet Heike Geißler als Physiotherapeutin – jenem Beruf, für den sie im Herbst 1977 ihre Görlitzer Heimat gegen das Schwesternwohnheim der Dresdner Medak eintauscht. 16 ist sie damals. „Dieser Beruf war etwas Besonderes, ganze zwei Stellen waren in Görlitz zu besetzen.“ Heike ist ehrgeizig, eine ausgezeichnete Schülerin. Nur die Besten dürfen Ausbilderin Rosemarie Köstler zu den Freundschaftsbesuchen beim in Hellerau stationierten Sanitätsbataillon der Sowjetarmee begleiten, in dem auch Mischa Gordejew dient und zu dem die Medak eine Patenschaft pflegt. Die sozialistische Welt um sie herum mit ihrer permanenten Wettkampfatmosphäre ist für Heike selbstverständlich. Mit ihren Kommilitoninnen bewirbt sie sich um den Titel „Sozialistisches Studentenkollektiv“. Der erste Preis: eine Fahrt nach Leningrad – für die 17-Jährige, die Russisch lernt, ein Traum. Ihre Gruppe gewinnt, die 500 Mark Fahrtkosten muss sie allerdings selbst zahlen. Sie geht Waggons putzen, um sich ihren Traum zu verwirklichen. „Ich war in der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, das waren alle bei uns“, erzählt sie unbefangen – die Eintrittskarte in die unbekannte Welt sowjetischer Soldaten, von denen es damals fast 10 000 in Dresden und über 500 000 in ganz Ostdeutschland gibt. Heute habe sie auf vieles natürlich eine ganz andere Perspektive. Damals aber sei das ihre Welt gewesen.

Eine aufregende Zeit. „Am spannendsten war der Eintritt in die Kaserne. Wir wurden gründlich gefilzt“, schildert sie jenen Tag im November 1978, als sie Mischa Gordejew in Hellerau das erste Mal auf dem Vorplatz des heutigen Festspielhauses trifft. „Wir gingen durch die Absperrung auf ein paar Soldaten zu, die da aufgereiht standen“, erinnert sie sich. Sie steuert Mischa direkt an, reicht ihm die Hand. „Es war gleich irgendwie Sympathie da, wir hatten Blickkontakt, lächelten uns zu.“

Von der Kaserne bekommt Heike damals nur Kultur- und Speisesaal zu sehen. Überall Flaggen und Banner. Alles läuft unter strenger Beobachtung der Offiziere ab. Trotz der Abschirmung fällt der Schwesternschülerin der wenig ansprechende Alltag der einfachen Soldaten auf. Die Unterbringung sei schlecht gewesen, die jungen Männer hätten keine Freiheiten gehabt. „Wir hatten unser Leben draußen, sie aber hatten nichts. Auch im Alltag ist die Armee stets präsent.“ Soldaten, die sich etwas zuschulden kommen ließen, hätten zur Strafe hart arbeiten müssen. „Bei Wind und Wetter trugen sie immer diese dünne Kleidung und mussten am Güterbahnhof in Klotzsche Kohlen schaufeln.“ Dagegen sei die Teilnahme an Freundschaftsbesuchen Auszeichnung und Höhepunkt gewesen.

Unteroffizier Michail Gordejew mit Garnisonskindern und Kameraden auf dem Exerzierplatz der Hellerauer Kaserne (heute Festspielhaus-Areal).
Unteroffizier Michail Gordejew mit Garnisonskindern und Kameraden auf dem Exerzierplatz der Hellerauer Kaserne (heute Festspielhaus-Areal).
Beim gemeinsamen Essen im Speisesaal nähern sich Heike und Mischa an. „Wir verständigten uns mit Händen und Füßen. Ich konnte ein wenig Russisch, so klappte es.“ Ein paarmal schreiben sie sich und sehen sich bei Freundschaftsbesuchen. „Und“ – fügt die 53-Jährige lebhaft hinzu – „wir haben uns sogar einmal heimlich in der Stadt getroffen, gingen ein wenig spazieren, unterhielten uns.“ Mischa sei höflich gewesen, habe von Dresden geschwärmt, aber nie etwas über seinen Armeealltag erzählt. „Die Russen waren einfach anders als wir, viel disziplinierter, duldsamer.“ Irgendwann aber seien die Besuche weniger geworden, brachen schließlich ganz ab. „Mischa war zuletzt nicht mehr dabei gewesen“, so Geißler.

Damals habe sie nichts hinterfragt, sagt die Görlitzerin. Dass ihre Briefe damals – wie von Mischa vermutet – der Zensur zum Opfer fielen, hält sie für wahrscheinlich, von Mischas vorzeitiger Entlassung erfährt sie damals nicht. Die geplante Reise nach Leningrad ist das Letzte, von dem sie ihrem sowjetischen Freund berichten kann. Dann reißt der Kontakt ab. Als sie 1980 an die Newa reist, öffnet ihr das so manches Auge über das Verhältnis zwischen Deutschen und Sowjets. „Kaum einer kannte dort die DDR oder die Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Damals fing ich an, mir über einiges Gedanken zu machen.“ Von Michail Gordejew sieht und hört Heike nie wieder etwas – bis zum Februar 2015.

Als der 56-Jährige erfährt, dass Heike gefunden ist, ist er überwältigt. So sehr, dass er zunächst tagelang abtaucht. „Ich brauchte erst einmal ein wenig Zeit, um das zu verkraften, hatte nicht und schon gar nicht so schnell damit gerechnet“, entschuldigt sich Gordejew kurz darauf, der mit Frau, zwei Töchtern und den beiden Enkeln nahe der Millionenstadt Jekaterinburg im Ural lebt. Inzwischen haben er und die Freundin von damals Kontaktdaten ausgetauscht. Ob sich 35 Jahre Entfremdung und mehr als 4 000 Kilometer Distanz überbrücken lassen, wird sich zeigen.

Nachtrag der Autorin:
Der Artikel erschien beinahe wortgleich am 29. Mai 2015 in der Lokalausgabe Görlitz der Sächsischen Zeitung. Nach Veröffentlichung des ersten Artikels am 17. Februar 2015 dauerte es keine Woche, bis Heike „Michel“ gefunden war. Die Geschwindigkeit der sich überschlagenden Ereignisse und die Vielzahl an Rückmeldungen waren schier überwältigend. Ein Dankeschön geht an Heike Geißler, der es zunächst schwer fiel, sich noch einmal öffentlich zu jener Episode ihrer Vergangenheit zu äußern. Sie selbst stehe zu diesem Teil ihres Lebens. Die Leute aber, die das Leben damals in der DDR nicht kennenlernten, zeigten bisweilen heute wenig Verständnis dafür. Leute, die die selbständige Physiotherapeutin zu ihren Kunden zählt. Für Geißler – wie für so viele andere – war die sozialistische Lebenswelt in der DDR Alltag, in den sie hineingeboren wurden und den sie verinnerlicht hatten. Leider wird das häufig vergessen in einem Staat, der die DDR 1989/90 förmlich verschluckte und zunächst über Jahre rigoros gegen alles vorging, das irgendwie mit ihren Werten, Kulturgütern und Symbolen zusammenhing und damit ein Klima der Stigmatisierung schuf gegenüber jenen, die einst gelernt hatten, mit dem System zu leben, statt es zu verachten und dagegen aufzubegehren.

Friedhof zu verschenken

Offiziersgräber auf dem Sowjetischen Garnisonfriedhof Dresden. Der Freistaat möchte ihn lieber heute als morgen loswerden. Foto: J. Jannke
Offiziersgräber auf dem Sowjetischen Garnisonfriedhof Dresden. Der Freistaat möchte ihn lieber heute als morgen loswerden. Foto: J. Jannke
Quo vadis, Sowjetischer Garnisonfriedhof? Der Begräbnisort für 2300 sowjetische Bürger an der Marienallee in Dresden kommt nicht aus den Schlagzeilen. Nun will der Freistaat ihn an die Stadt abtreten. Doch die will ihn gar nicht haben.

Seit Jahren schwelt der Streit um den Nordflügel des Friedhofes. 2010 hatte der Eigentümer, das Sächsische Immobilien- und Baumanagement (SIB), Umgestaltungspläne für die rund 0,8 Hektar große Erweiterung mit Gräbern aus den Besatzungsjahren vorgelegt, die die Beseitigung der historischen Friedhofsarchitektur zugunsten einer schlichten Grünanlage mit Gedenkbereichen vorsehen. Dresdner Bürger liefen Sturm – und erhielten Unterstützung vom „Who is Who“ der Dresdner Gedenkkultur. Seit Juli 2013 beschäftigt nun schon ein vom SIB eingelegter Widerspruch die Landesdirektion Sachsen, da auch die Denkmalbehörden dem rund 350 000 Euro teuren Vorhaben die Zustimmung verweigerten. „Das Verfahren läuft noch“, so SIB-Sprecherin Andrea Krieger.

Das SIB stellte dies abermals vor die Frage, mit der man dort bereits seit mehr als zehn Jahren befasst ist: Was soll denn nun werden mit dem Nordflügel? Das veranlasste die Behörde im Frühjahr 2014, ein Forum auszurichten. Gemeinsam mit der Stadt, den Denkmalbehörden und den bürgerschaftlichen Initiativen, die den Nordflügel mittels ehrenamtlichem Engagement in historischer Form bewahren wollen, sollte unter Moderation der Landeszentrale für politische Bildung ein möglicher Kompromiss ausgelotet werden. Gegenstand der Debatten war längst nicht mehr nur der künftige Umgang mit dem Nordflügel. Initiativen wie das Deutsch-Russische Kulturinstitut, die jüdische Gemeinde und der DenkMalFort! – Die Erinnerungswerkstatt Dresden e.V. forderten seit längerem die Rückführung des gesamten Friedhofes in die Trägerschaft der Stadt Dresden, die ihn 1996 an das SIB abgegeben hatte. In dessen Verwaltung war vor allem der Nordflügel mehr und mehr verwahrlost.

Nach nur vier Runden hatte es sich im Juli allerdings schon wieder ausdebattiert. „Die Beteiligten sind sich einig, dass auch der nördliche Flügel des Friedhofs ein würdevoller Gedenkort ist und auch in Zukunft sein soll. Das ‚Wie‘ steht im Fokus der Diskussion“, konstatierte man im August in einer vorläufigen Erklärung. Das Konzept des SIB stoße nicht auf die Zustimmung aller Beteiligten, man wolle die Gespräche daher im Herbst fortführen, hieß es weiter. Seither aber herrscht offenbar Funkstille.

„Bis jetzt erfolgte keine erneute Einladung“, antwortete Oberbürgermeisterin Helma Orosz (CDU) dem anfragenden Grünen-Stadtrat Torsten Schulze vor Weihnachten – und spielte den Ball damit dem SIB zu. Dort jedoch macht man den Fortgang der Gespräche offenbar von der Klärung der künftigen Trägerschaft für den Garnisonfriedhof abhängig. „Das SIB strebt die Übertragung des gesamten Friedhofes an die Landeshauptstadt an“, ließ man auf Nachfrage ausrichten. Bereits „vor geraumer Zeit“ will man dazu auf Kulturbürgermeister Ralf Lunau (parteilos) zugekommen sein. Doch für den Beigeordneten ist eine Übernahme derzeit kein Thema. Aus Sicht der Stadt spricht vor allem der Kostenfaktor dagegen. Man würde „ohne gesetzliche Verpflichtung die finanzielle Last von Pflege und Instandhaltung“ übernehmen. Wie groß die tatsächlich wäre, wurde bislang allerdings nicht geprüft.

„Kosten allein dürfen kein Argument sein“, mahnt Torsten Schulze, der alsbald die Aufnahme von Verhandlungen zwischen Stadt und SIB fordert, damit es auch in der Frage des Nordflügels irgendwann vorangeht. „Die derzeitige Situation ist untragbar und eines historisch derart relevanten Ortes unwürdig.“ Schulze meint damit, dass das SIB in Ermangelung des Zuspruches für die Umgestaltungspläne die Pflegeaktivitäten auf dem Nordflügel vor eineinhalb Jahren einstellte. Ehrenamtliche halten die Anlage seither halbwegs in Schuss. „Nach den Querelen der letzten Jahre muss genau geprüft werden, ob ein Verbleib des Friedhofes in Händen des Freistaates sinnvoll ist“, so Schulze. Notfalls müssten Wege ausgelotet werden, die Finanzierung auf mehrere Schultern zu verteilen. „Der Friedhof braucht eine Perspektive, die den Erhalt der Biografien und Schicksale gewährleistet.“ Kaum einer der unter 40-Jährigen wisse noch, wie es war, als die Armee hier war.

Damit rennt Schulze bei Holger Hase von der Erinnerungswerkstatt offene Türen ein. Der 38-Jährige kämpft seit Jahren gegen den Verlust der denkmalgeschützten Friedhofssubstanz. „Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. Beim SIB scheint man sich vom Abrissbagger verabschiedet zu haben“, zeigt sich der FDP-Mann optimistisch. Die Rückkehr zur Stadt sieht Hase als zukunftsfähigste Lösung für den Garnisonfriedhof. Wie Schulze fordert auch er ein klares Bekenntnis zum „historischen Lernort“ und will das notfalls mittels eines Antrages im Stadtrat auf den Weg bringen.

Anmerkungen der Autorin: Der Artikel entspricht bis auf einige kleine Änderungen dem, der am 23. Februar 2015 in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschien.

Der Soldat und das Mädchen – aus den Erinnerungen sowjetischer Soldaten in Ostdeutschland.

Michail Gordejew und Heike Michel. Das Foto entstand 1978 auf dem damaligen Kasernengelände, dem heutigen Festpielhaus-Areal in Hellerau.
Michail Gordejew und Heike Michel. Das Foto entstand 1978 auf dem damaligen Kasernengelände, dem heutigen Festpielhaus-Areal in Hellerau.
Fast ein halbes Menschenleben muss Michail Gordejew zurückgehen, will er sich die Stadt vor Augen rufen, in der er einst eineinhalb Jahres seines Lebens verbrachte. Die Stadt ist nicht mehr dieselbe, Gordejew längst kein junger Mann mehr. Seine Haare sind ergraut, daheim, in der russischen Kleinstadt Poljewskoi, 40 Kilometer südwestlich der Millionenstadt Jekaterinburg, spielen die beiden Enkel im Garten. Auch die Welt ist mittlerweile eine andere geworden. Als Gordejew im Mai 1978 als 19-Jähriger nach Dresden kommt, stehen sich Ost und West unversöhnlich im Kalten Krieg gegenüber. Der Junge aus dem Ural wird in die DDR geschickt, um in Dresden seinen Wehrdienst in der Sowjetarmee abzuleisten. 35 Jahre nach seiner Heimkehr existieren weder die DDR noch die Sowjetunion. Dresden hat Mischa, wie ihn Freunde nennen, seit damals nicht wiedergesehen, die Erinnerung verblasst langsam. Doch etwas hat er bis heute nicht vergessen: Locken, ein gewinnendes Lächeln, ein Name: Heike.

KaserneLinksHeuteEZKEs ist Frühling, als Gordejew in Dresden ankommt. Viel sieht er nicht von der Stadt. Vom Bahnhof geht es direkt in die Kaserne in Hellerau. Auf dem Territorium des heutigen Festspielhauses ist damals das 189. Sanitätsbataillon der 11. Gardepanzerdivision stationiert, die Spielstätte selbst eine Mischung aus Lazarett, Kaserne und Sporthalle, Deutsche haben hier nur mit Passierschein Zutritt. Riesige Siegesikonen an den Wänden im Treppenhaus erinnern bis heute an die militärische Nutzung. Ein Soldat schuf sie just 1979, in Mischas letztem Jahr.

Mischa dient in der Nachrichtenkompanie des Bataillons. Es sei eine anständige Einheit gewesen, sagt er. „Insgesamt habe ich gute Erinnerungen. Fast jeden Tag habe ich aus dem Stab die Post für die Einheit geholt“, erinnert sich der 56-Jährige. Der Stab liegt in Klotzsche, im heutigen Akademiegelände der DGUV. Der junge Soldat geht die Strecke zu Fuß oder nimmt die Straßenbahn – ein kleiner Fetzen Freiheit im ansonsten von Restriktionen und bedingungsloser Unterordnung geprägten Militäralltag.
Im November 1978 kündigt sich eine deutsche Delegation in Hellerau an. „Das war der Tag, an dem ich Heike zum ersten Mal traf.“ Die Delegation besteht aus Studentinnen der Medizinischen Akademie, einer Lehrkraft sowie deren Ehemann – dem Kommandeur einer Dresdner Sanitätskompanie der NVA, der gute Beziehungen zu Gordejews Bataillonschef pflegt. Heike, die mit Nachnamen damals vermutlich Michel hieß, ist eine der Studentinnen. Solche Besuche sind nicht unüblich. Von oben verordnet und feierlich inszeniert, sollen sie die deutsch-sowjetische Freundschaft als Eckpfeiler des sozialistischen Selbstverständnisses demonstrieren.
Mischa darf die Delegation begleiten, man besichtigt die Kaserne, isst gemeinsam im Speisesaal, der heute ein frisch saniertes Mehrfamilienhaus ist. „Es ist schwer zu erklären, aber irgendwie fanden Heike und ich auf Anhieb eine gemeinsame Sprache.“ Zwischen beiden entwickelt sich ein Briefwechsel. „Ich schrieb ihr auf Deutsch, sie antwortete auf Russisch.“ Als er ihr ein Treffen außerhalb der Kaserne vorschlägt, wird die Abteilung für Inneres hellhörig. „Viel später sagte man mir, dass der Brief nicht durch die Zensur gelassen wurde.“

Michail Gordejew mit Heike Michel, Kameraden und den Studentinnen der Medak gegenüber dem Kasernengelände in der Karl-Liebknecht-Straße in Hellerau. Foto: Privatarchiv W. Zhirnow
Michail Gordejew mit Heike Michel, Kameraden und den Studentinnen der Medak gegenüber dem Kasernengelände in der Karl-Liebknecht-Straße in Hellerau. Foto: Privatarchiv W. Zhirnow

Ein sowjetischer Soldat und ein deutsches Mädchen – angesichts rund zehntausend sowjetischer Militärangehöriger, die in der Dresden quasi Tür an Tür mit den Einheimischen leben, keineswegs ausgeschlossen. Offiziell aber sind auch rein freundschaftliche Kontakte unerwünscht. Einfachen Soldaten wie Mischa sind sie strengstens untersagt. Wer sich dem Diktat widersetzt, riskiert Arrest oder in die Heimat versetzt zu werden. Die beiden jungen Leute schreiben sich dennoch weiter. „Heike gab Briefe ihrer Lehrerin, diese wiederum gab sie ihrem Mann, dem Major. Der brachte sie uns dann zu Freundschaftsbesuchen mit.“ Insgesamt drei Mal trifft Mischa Heike zu solchen Gelegenheiten persönlich. „Bei unserem letzten Treffen sagte sie mir, dass sie nach Leningrad reisen würde.“ Sie habe ihm mehr dazu schreiben wollen. Doch die Zensur ist gnadenlos: „Alle ‚kritischen‘ Passagen wurden stets herausgestrichen. Sie wollten einfach nicht, dass wir uns weiterhin treffen. Deshalb hat man dann wohl auch veranlasst, dass ich vorzeitig entlassen wurde.“ Im Oktober 1979 wird der inzwischen zum Unteroffizier aufgestiegene Mischa plötzlich demobilisiert. „Ich hatte Heike noch ein Foto von mir mit der Wohnadresse meiner Eltern auf der Rückseite geschickt“, aber dort hört man nie von ihr. Vermutlich habe auch das die Zensur kassiert.

Eigentlich, so Gordejew, der seit vielen Jahren glücklich verheiratet ist, zwei erwachsene Töchter hat, habe er nie ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, Heike ausfindig zu machen. „Erinnert habe ich mich aber all die Jahre an sie. Es drängt mich, zu erfahren, wie ihr Leben verlaufen ist.“ Er ist unsicher, den Weg der Medienöffentlichkeit zu gehen, in einem Land, dessen gesellschaftliche Gepflogenheiten ihm fremd sind. „Vielleicht will sie das ja gar nicht?“
Von Heike weiß er nur den Namen, dass sie ursprünglich aus Görlitz stammte, an der Medak lernte oder studierte und im dortigen Wohnheim lebte. „Gewiss hat sie geheiratet, heißt heute anders. Aber vielleicht erkennt sie sich ja und meldet sich“, hofft der ehemalige Soldat. Ein Ex-Kamerad entdeckt in der alten Divisionszeitung einen Artikel über die Freundschaftstreffen mit den Namen von Heikes Ausbilderin und deren Mann, des NVA-Majors. „Es handelt sich um das Ehepaar Rosemarie und Wolfgang Kestler. Sie hatten zwei Söhne namens Thomas und Jens. Thomas muss damals ungefähr 10 bis 12 Jahre alt gewesen sein und begleitete seine Mutter zu den Freundschaftstreffen“, erklärt Gordejew. Er hofft, damit den Kreis möglicher Hinweisgeber zu erweitern. Der 56-jährige Russe hofft auf ein Lebenszeichen. Ein Versuch, ein Kapitel seines Lebens zu schließen, das im Herbst 1979 abrupt endete.

Anmerkung der Autorin: Der Artikel erschien am 17. Februar 2014 in der Sächsischen Zeitung unter dem Titel „Der Soldat und das Mädchen“.

Dresden mit den Augen Sergej Rachmaninows.

Sergej Rachmaninow bei der Arbeit im Garten des Familienlandsitzes im russischen Iwanowka. Foto: Carl Rönisch Pianofortemanufaktur
Sergej Rachmaninow bei der Arbeit im Garten des Familienlandsitzes im russischen Iwanowka. Foto: Carl Rönisch Pianofortemanufaktur

Er galt als der letzte Romantiker der klassischen Musikszene und wusste wie kaum ein Zweiter seiner Zeit die Kritiker zu spalten. In diesem Jahr wäre der Pianist, Komponist und Dirigent Sergej Rachmaninow 140 Jahre alt geworden, vor 70 Jahren starb der Künstler, der auf vielfältige Weise mit der Stadt Dresden verbunden war. Nur einige Winter seines Lebens verbrachte Rachmaninow in Dresden. Doch die reichten, um sich im Gedächtnis der Stadt zu verewigen und selbst sein Herz zu verlieren. Rachmaninow und die Elbmetropole – eine Liebesgeschichte mit tragischem Ausgang.

Am 1. April 1873 als viertes von sechs Kindern auf dem elterlichen Landgut Semjonowo nahe der russischen Kleinstadt Staraja Russa geboren, wird bereits früh das enorme Talent des kleinen Serjoscha offenbar. Alsbald trennen sich die Eltern, und so fördert ihn vor allem die Mutter nach Kräften. Doch erst die Lehrjahre bei Nikolai Swerew in Moskau lassen den Künstler und Komponisten reifen, der es verstand, seine große Sensibilität in ebensolche Werke zu übersetzen. In Swerews Künstlerpension, von Rachmaninow einst als „musikalisches Paradies“ geadelt, entstehen Kontakte zu Größen der russischen Musikszene wie Pjotr Tschaikowski und Sergej Tanejew.

Als Rachmaninow im November 1906 nach Dresden kommt, hat er auf dem internationalen Parkett gerade mit seinem Klavierkonzert Nr. 2 für Aufsehen gesorgt. In Russland jedoch ist sein Stern am Sinken. Er leidet unter der Häme der Kritiker und stürzt in eine tiefe Lebenskrise.
Mit seiner Cousine Natalia Satina, die ihn auffängt und unterstützt und die er 1902 heiratet, und der dreijährigen Tochter Irina bezieht er ein Haus in der Sidonienstraße, einer Querstraße der Prager Straße, die damals noch ihr historisches Gesicht trägt. Vermutlich über Franz Koppel-Ellfeld, dem damaligen Intendanten des in der Semperoper beheimateten Dresdner Hoftheaters, der es zuvor bewohnt hatte, mietet der Komponist ein Haus im hinteren Teil des Grundstückes Nummer 6, unweit des Hauptbahnhofes. Denkbar günstig für die Künstlerfamilie, die in ständigem Reisen begriffen ist und so schnell zum Bahnhof, aber auch zur Semperoper gelangen kann.
Im beschaulichen Dresden kommt der Virtuose zur Ruhe, sucht in anfänglicher Zurückgezogenheit Kraft:

„Wir leben hier still und bescheiden […] wir sehen keinen und kennen niemanden. Und auch selbst lassen wir uns nirgends sehen und wollen auch niemanden kennenlernen. Alle Russen, scheint es, leben jenseits der Grenze. […] Die Stadt selbst gefällt mir sehr: sehr sauber, sympathisch und viel Grün in den Gärten. […]“

schreibt er kurz nach seiner Ankunft 1906 an einen Freund in der Heimat.

Das Bürgerhaus in der Trachenberger Straße 23 war bis 1990 im Besitz der Familie Rachmaninow. Foto: J. Jannke
Das Bürgerhaus in der Trachenberger Straße 23 war bis 1990 im Besitz der Familie Rachmaninow. Foto: J. Jannke

Die junge Familie wird der Barockmetropole zwei weitere Winter treu bleiben. Die 1907 geborene Tochter Tatjana macht ihre ersten Schritte an der Elbe. Vater Sergej erwirbt währenddessen zwei weitere Immobilien in Dresden. Das Bürgerhaus Trachenberger Straße 23 erstrahlt heute in neuem Glanz, erst mit der Wende 1990 verschwindet ein gewisser Eigentümer Sergej Rachmaninow mit Wohnsitz New York aus den Grundbüchern. Die Villa Fürstenstraße 28 in der heutigen Fetscherstraße hingegen verbrennt ebenso wie der Familiensitz in der Sidonienstraße beim Bombenangriff am 13. Februar 1945.

Langsam wird der Künstler in Dresden heimisch. Er erkundet seine barocken Schönheiten, besucht die Generalproben in der Semperoper und ist fasziniert von der Vielfalt des kulturellen Lebens in der Stadt. Auch künstlerisch ist Dresden ein fruchtbares Pflaster. Zahlreiche neue Werke entstehen, darunter die Zweite Sinfonie e-moll op.27, die Erste Sonate für Klavier d-moll op.28 sowie die sinfonische Dichtung „Die Toteninsel“ op. 29 nach einem Gemälde Arnold Böcklins.

Carl Rönisch gründete 1845 in Dresden die Königlich-Sächsische Hofpianofabrik. Foto: Carl Rönisch Pianofortemanufaktur
Carl Rönisch gründete 1845 in Dresden die Königlich-Sächsische Hofpianofabrik. Foto: Carl Rönisch Pianofortemanufaktur
Die Reste der Königlich-Sächsischen Hofpianofabrik im Wallgässchen in der Inneren Neustadt. Foto: J. Jannke
Die Reste der Königlich-Sächsischen Hofpianofabrik im Wallgässchen in der Inneren Neustadt. Foto: J. Jannke
Enge Kontakte pflegt er zur in der Dresdner Neustadt ansässigen Königlich-Sächsischen Hof-Pianofabrik von Albert und Hermann Rönisch – damals einer der namhaftesten Klavierproduzenten der Welt. Zahlreiche bekannte Musiker spielten auf Instrumenten Dresdner Provenienz, die seinerzeit zum Besten unter dem Modernen zählten. Bis heute ist jener Rönisch-Flügel Nr. 59183, auf dem unter anderem auf Rachmaninows Landsitz in Iwanowka sein berühmtes 3. Klavierkonzert entsteht, im dort befindlichen Museum zu besichtigen.

„Leider können wir heute nicht mehr sagen, wann genau er den Flügel erwarb oder was er kostete, da alle Dokumente und Unterlagen im Bombenangriff 1945 verloren gingen“, erklärt Rönisch-Geschäftsführer Frank Kattein. Die Manufaktur im Dresdner Wallgässchen, in der Rachmaninows Flügel entstand, wird am 13. Februar 1945 ein Raub der Flammen, seither produziert Rönisch in Großpösna bei Leipzig. Noch heute ist man hier auf den berühmten Kunden stolz. Reste des alten Fabrikgebäudes im Wallgässchen sind bis heute erhalten und beherbergen unter anderem das Museum Körnigreich zu Ehren des Künstlers Hans Körnig.

Im Frühjahr 1909 findet die unbeschwerte Zeit in Dresden zunächst ein Ende. Seiner Frau Natalia hat Rachmaninow versprochen, nie länger als drei Jahre im Ausland zu leben. Er hält Wort, obgleich er die Stadt ins Herz geschlossen hat. Wie schwer ihm der Abschied aus Dresden fällt, offenbart er in einem Brief in die Heimat:

„Wie schön ist es hier in Dresden, Sergej Iwanowitsch! Und wenn Sie wüssten, wie traurig ich bin, dass ich hier den letzten Winter verbringe!“,

schreibt er im März kurz vor seinem Abschied an seinen Freund und früheren Lehrer Sergej Tanejew. Doch es ist kein Abschied von Dauer. Konzerttourneen führen ihn schon bald wieder an die Elbe. Am 2. Dezember 1910 und am 15. März 1912 gibt er umjubelte Gastspiele in der Semperoper.

Auf einem Dresdner Flügel zum Erfolg: Das Rönisch-Exemplar Sergej Rachmaninows in Iwanowka. Foto: Carl Rönisch Pianofortemanufaktur.
Auf einem Dresdner Flügel zum Erfolg: Das Rönisch-Exemplar Sergej Rachmaninows in Iwanowka. Foto: Carl Rönisch Pianofortemanufaktur.
Die Oktoberrevolution in Russland und der Erste Weltkrieg, in dem sich Russland und Deutschland als Gegner gegenüberstehen, bilden eine schmerzliche Zäsur. Aus Furcht vor Pogromen flieht der aus begüterten Verhältnissen stammende Rachmaninow 1917 mit seiner Familie vor den Bolschewisten aus Russland in die USA, wo er bis zu seinem Tod leben wird. Die Beziehung zu Dresden aber reißt noch lange nicht ab.

In den Goldenen Zwanzigern gastiert er wieder regelmäßig mit seiner Familie in der Barockmetropole. Überliefert sind seine Aufenthalte in der Villa Fliederhof in der Emser Allee 5 (heute Goetheallee 26), einem bekannten Künstlertreff der Familie Schuncke. Hier feiert auch Sergejs Tochter Irina ihre Hochzeit mit dem Fürsten Pjotr Wolkonskij, mit dem sie am 24. September 1924 feierlich in der russisch-orthodoxen Kirche des Heiligen Simeon vom wunderbaren Berge in der Südvorstadt getraut worden war, die bis heute fortbesteht. Porträts der Dresdner Fotografin Ursula Richter, die in Blasewitz eine „Werkstätte für Lichtbildkunst“ betreibt, dokumentieren Treffen mit Sergej Zharow, der einst die Don-Kosaken-Chöre weltberühmt machte.
Viele Jahrzehnte später – zwei Weltkriege nahezu unversehrt überstanden – wird auch die Villa Fliederhof ein Raub der Flammen: Bei einem Brand infolge einer Familientragödie, bei der zwei Menschen ums Leben kommen, wird sie 1979 völlig zerstört. Bis heute erinnert eine Tafel an das Haus und seinen berühmten Gast.

Mit der Machtergreifung der Nazis 1933 findet Sergej Rachmaninows enge Beziehung zu Dresden ein jähes Ende. Ausländische Künstler werden bis auf wenige Ausnahmen von den Bühnen verbannt. Mit dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 verschärft sich die Lage weiter: Russische Interpreten werden nun gar nicht mehr gespielt.
Das Leben Sergej Wassiljewitsch Rachmaninows endet am 28. März 1943 mit der gleichen Dramatik, die ihn Zeit Lebens begleitete und sich auch in vielen seiner Werke widerspiegelt. Viel zu früh, mit nur 69 Jahren, stirbt der Komponist vier Tage vor seinem 70. Geburtstag in New York an Krebs. Sein inniger Wunsch, in der Heimat bestattet zu werden, bleibt ihm aufgrund des in Russland tobenden Krieges verwehrt. Seine letzte Ruhe findet er auf dem Kensico-Friedhof bei New York.

Dieser Beitrag ist die leicht modifizierte Fassung eines Artikels, der am 17. Juni 2013 auf dem Dresden-Portal Dresden-Kompakt erschien. Alle Rechte: Jane Jannke

Törö-Tärä – bald is mal wieder 13. Februää…

Alles Hoffen hat nichts genützt. Ich kann mich um das alljährliche Schmierentheater, an dem sich alle politischen Lager von ganz weit rechts bis ganz weit links gleichermaßen beteiligen, einfach nicht herumdrücken. Dabei ist schon jetzt ein Punkt erreicht, dass ich bald nicht mehr weiß, wie ich mich weiter möglichst unauffällig fremdschämen soll.

Das Bündnis Dresden-Nazifrei, das nicht mehr als ein Zweckbündnis ist, in dem sich ein aufrichtiger Kern insgeheim dafür schämt, dass die große Masse, die dieses Bündnis eigentlich trägt, ein radikaler Haufen ist, der jedwede Verbindlichkeit in Sachen Gewaltfreiheit ablehnt, darf nicht öffentlich trainieren, wie man eine genehmigte Demonstration aufmischt, wie man Polizeiketten „durchfließt“. Für Dresden-Nazifrei ein eindeutiges Zeichen für anprangerungswürdige „sächsische Verhältnisse“. Und während Eva Jähnigen von den Grünen auf dem Altmarkt noch „Demokratie“ forderte, ist wahrscheinlich keinem der rund 60 Demonstranten bewusst gewesen, dass man selbst – wenn auch unter allzu löblichen und nachvollziehbaren Vorzeichen – der guten alten Demokratie einen kräftigen Tritt in den Hintern zu versetzen im Begriff ist.

Demokratie, liebe Blockierer, bedeutet nach Voltaire oder auch Rosa Luxemburg, seine Hände für die Meinungsfreiheit ins Feuer zu legen, auch wenn einem die eine oder andere Meinung „zuwider ist“, den Andersdenkenden nicht allein deshalb zu verurteilen weil er anders denkt. Es bedeutet gerade nicht, lediglich seiner eigenen Meinung stets zu Geltung verhelfen zu wollen. Die Einschätzung, ob dieses „anders“ nun gut oder schlecht ist, wird immer subjektiver Natur sein und kann deshalb in einem demokratischen Rechtsstaat nur dann erfolgen, wenn streng juristisch anhand der Verfassung argumentiert wird. Unsere Gesellschaft gründet sich auf Antipoden. Die Rechten mögen die Ausländer und die Juden nicht, die radikalen Juden mögen die Muslime und die radikalen Muslime abermals die Juden nicht. Die Linken mögen wiederum die Rechten nicht, während die Rechten die Linken nicht leiden können. Die Anarchisten möchten am liebsten den Staat ganz abschaffen und der Staat setzt sie dafür auf die Liste der Verfassungsfeinde. Und alle haben wir immer eine vermeintlich hieb- und stichfeste Begründung für unsere jeweiligen Vorbehalte auf Lager. Wenn alle versuchen würden, dem jeweiligen Feindbild die Grundrechte streitig zu machen, befänden wir uns im Bürgerkrieg.

Damit wir uns richtig verstehen: Wenn ein Nazi einen Migranten totschlägt, dann ist das ein widerwärtiges Verbrechen, das eines gerechten Urteils bedarf, dann ist das etwas, das man nicht tolerieren darf. Und unser demokratisches Recht gibt uns hier auch alle Möglichkeiten in die Hand, zu strafen und den Tätern ihre Rechte bis auf ein Mindestmaß zu entziehen. Wenn ein Nazi aber eine Demo anmeldet, bei der keine verfassungsfeindlichen Symbole oder Tiraden auftauchen und bei der auch niemand ermordet wird, dann ist das – so schwer es mir fällt, das zu sagen – sein gutes, demokratisch verbrieftes Recht, solange die NPD (und somit ihre politischen Ziele) nicht als verbrecherisch geächtet und entsprechend verboten worden sind. Allein: Rechte Gewalttaten wird weder ein Verbot der NPD noch ein Verbot von Nazi-Demos verhindern können.

Wenn ein Nazi aus Hass tötet, dann ist das genauso schlimm und widerwärtig wie jeder andere Mord, der aus Menschenverachtung heraus geschieht. Dennoch ist es ein Fehler, von solchen Einzeltätern auf die gesamte rechtsradikale Szene zu schließen, die in ihren Strukturen und Zielen ähnlich heterogen ist wie die radikallinke Szene, in der Ökos neben Stalinisten und Kommunisten neben Anarchisten stehen. Hier geht es nicht darum, ob am Ende tatsächlich Menschen sterben, oder nicht, weil sie vielleicht einfach nur Glück hatten. Es gibt in der radikallinken Szene ein ebensolches Gewaltpotenzial wie in der rechtsradikalen. Es gibt linke Gruppen, die Bomben- und Brandanschläge verüben und dabei billigend Menschenleben in Kauf nehmen, und es gibt rechte, die das Gleiche tun. Verbindendes Element zwischen beiden sind die Ideologie, die über allem steht, der Hass auf den Staat und das unbedingte Feindbild des jeweils anderen Lagers, das es rücksichtslos zu bekämpfen gilt.

Wollte man mit einem ähnlichen Argument Ehrenmorde verhindern oder ächten, müsste man als Nächstes Demos von Muslimen untersagen. Ist es das, was das Bündnis Dresden-Nazifrei fordert? Nein? Aber die Frage ist doch: Wo führt es hin? Wer garantiert denn bitte, dass es bei den Nazis bleibt? Merken die Protagonisten denn nicht, auf welch dünnes Eis man sich mit dieser Position begibt, demokratische Grundrechte nach politischer Ansicht bzw. Zugehörigkeit zu einer bestimmten missliebigen Gruppe aberkennen zu wollen? Demokratische Rechte nur für die, die sich so verhalten, wie es eine bestimmte politische Gruppe möchte? Oder wie es eine Mehrheit möchte? Das hatten 1933 schon mal. Es darf eben NICHT reichen, dass jemand nationalistisches Gedankengut hegt, um ihn zum Rechtlosen zu stempeln, auch dann nicht, wenn dieser Mensch anderen Menschen das Gleiche zugedenkt. Genau durch diese Einsicht nämlich unterscheide ich mich als wahrer Demokrat von ihm. Und ich bin FROH, dass wenigstens unsere Justiz sich an demokratische Grundsätze noch hält. Vor allem DAS ist für mich ein Beweis für ihre Wehrhaftigkeit. Wo mancher Politiker bereits der Verlockung erlegen ist, auf der Welle der Anti-Nazi-Proteste den Sympathieträger zu mimen und jegliche demokratische Verpflichtung über Bord zu werfen, steht wenigstens die Justiz noch fest auf demokratischem Boden.

Als ausgesprochen weit links angesiedelte Demokratiegläubige schäme ich mich regelrecht für Politiker wie Eva Jähnigen oder Margot Gaitzsch und all die vielen anderen, die sich Jahr für Jahr neben autonomen Gewaltfanatikern und radikalen Linksaußen wie Marxisten/Leninisten und sogar Stalinisten in ein Bündnis einreihen, das Demokratie lediglich als schlagkräftiges „Argument“ auf Protestplakaten schätzt, die im gleichen Atemzug nach Exklusivrechten schreien. Ein Widerspruch, der maßgeblich dafür verwantwortlich ist, dass insbesondere die Linke für mich trotz meiner geistigen Nähe zu einer Vielzahl ihrer politischen Positionen nicht wählbar ist. Demokratie darf insbesondere bei unserer Geschichte nicht zum Kraftwort verkommen, das man rauskramt, wenn es einem passt, und das unbequem wird, wenn es nicht darum geht, zu profitieren, sondern zu tolerieren. Es gibt eben leider nicht nur eine Partei, die damit anscheinend Schwierigkeiten hat.

Dresden am 18. Februar. Morgenidyll mit Ninja.

Sonnabend, 18. Februar 2012, um 9 Uhr morgens in Dresden. Ein ruhiger, milder Februarmorgen mit Vogelgezwitscher, der Lust auf Brötchen und Milchkaffee macht. Die Sonne überlegt noch, ob sie sich zeigen sollte. Ein trügerisches Idyll, wie das langsam aufziehende, stetige Brummen eines Helikopters am grauen Himmel unmissverständlich zu verstehen gibt. Das Brummen wird einen wohl durch den Tag begleiten. Seufz.

Draußen im Gesträuch des Hinterhofes huscht etwas Schwarzes umher. Mit entschlossenem Blick und listigem Grinsen klettert ein junger Mann vom Nachbargrundstück über den Lattenzaun. Wie ein Äffchen schwingt er sich gekonnt am Ast des Holunderbusches über das Gatter. Uff, das hat geklappt. Er verharrt für eine Sekunde und lächelt selbstzufrieden. Der Jüngling sieht ein wenig aus wie ein Ninja-Kämpfer, der aus seinem Martial-Arts-Film ausgebrochen ist: Schwarze Schließer-Hosen, bei denen die vielen Taschen anscheinend ein absolutes Muss sind, schwarze Snowboard-Jacke, dunkler Hoody, schwarzer Rucksack. Auf dem Gepäckstück prangt ein Blockade-Aufnäher.
Die Kapuze hat er sich tief ins Gesicht gezogen, ein schwarzer Schal wartet auf Kinnhöhe darauf, den Rest des Gesichts zu bedecken. So trägt man das, wenn man blockieren geht. Auch, wenn es eigentlich gar nichts zu blockieren gibt. Auch, wenn man doch eigentlich „gar nichts macht“ und total friedliche Absichten hegt. Wer das Fass am 13. Februar und auch am darauffolgenden Wochenende regelmäßig zum Überlaufen bringt, das sind schließlich die Scheiß-Cops mit ihren Wasserwerfern, ihrem Pfefferspray und ihren Schlagstöcken, die sie morgens schon voller Vorfreude auf das Gemetzel vorwärmen…

Zurück zu unserem jungen Ninja-Kämpfer. Wachsame Blicke um sich werfend, huscht er über den Hof und klettert etwas unbeholfen über die brüchigen Mauerreste, die unseren Hof vom angrenzenden nicht wirklich trennen. Geschafft! Was dann passiert, ist so wohlbekannt wie peinlich. Unser kämpferisch aufgemachter Blockade-Held drängt sich mit gespreizten Beinen in die Mauerecke und pinkelt in den Nachbarhof. Geschafft! Keiner hat ihn gesehen (denkt er), kein Spießer hat gemeckert. Mit triumphalem Grinsen jagt er über Mauern und Zäune zurück. Jetzt ist er gewappnet für was auch immer heute noch kommen mag. Wer so was schafft, der nimmt es auch mit dem grimmigsten aller Gegner auf – seien es Nazis, Polizisten oder hochgefährliche Müllkübel.

Keine fünf Minuten später – der nächste schwarz vermummte Karate-Kid flitzt durch den Garten. Der erfolgreiche Coup seines Vorgängers scheint sich herumgesprochen zu haben: Hier lässt es sich herrlich ungestört urinieren. Wieder bekommen Mauer und Busch im Nachbarhof eine warme gelbe Dusche, der Harnpegel im Boden steigt bedenklich, der Grad der Geruchsbelästigung vermutlich auch. So sehen Helden aus! Der Gang in eine der unzähligen Kneipen mit echten WCs wäre ja auch viel zu uncool, viel zu spackenhaft. Man sucht den Kick. Es könnte ja ein empörter Anwohner ein Fenster öffnen und sich beschweren, und man findet sich mal wieder bestätigt: alles Nazis hier in Deutschland… Wenn heute schon aller Wahrscheinlichkeit nach keine echten Nazis zum Auf-die-Fresse-Hauen zur Verfügung stehen. Morgen früh wird der Hof wohl ein Fall für die Schadstoffsanierung sein.

Der Weg zum Bäcker ist gesäumt mit schwarz gekleideten jungen Leuten. Ihre Kluft ähnelt sich auffallend. Trauern gehen die aber nicht. Sie alle streben Richtung Innenstadt, denn dort beginnt um 11 Uhr der Aufmarsch des Bündnisses Dresden-Nazifrei. Nazis marschieren heute zwar wohl keine durch die Stadt (zumindest ist keine Demo angemeldet), aber absagen is nich. Die Aktionen sind lange vorbereitet, viel Geld da reingesteckt worden, da lässt man sich jetzt von ausbleibenden Nazis keinen Strich durch die Rechnung machen. Und das aufgeregte Blitzen des Adrenalins in den Augen der jungen Wilden lässt sich jetzt auch nicht mehr löschen. Und schließlich hat man ja eine Stadt nazifrei zu bekommen. Psst: Klar ist das bloß ein Vorwand, ein hehres Ziel, unter dessen Deckmantel sich wunderbar die eigenen Ansichten zu Opfern und Tätern des 2. Weltkrieges, zum alliierten Bombenangriff auf Dresden und zu Staat, System, Kapital und Ordnung propagieren lassen. Aber wayne juckt’s?

Am 18. Februar morgens um neun in Dresden.

Die zweifelhaften Früchte des „Sieges“ vom 13. Februar 2010 – Gleich vier Nazi-Demos im Februar 2011 in Dresden geplant.

„Dresden nazifrei!“ lautet das Motto des Dresdner Bündnisses, das es sich zum Ziel gesetzt hat, Naziaufmärsche aus der Stadt zu verbannen, damit man die „Glatzen“ mit unserer schönen Stadt möglichst nicht mehr in Verbindung bringt, damit der Dresdner sie möglichst nicht mehr zu Gesicht bekommen muss. Bundesweit hängen die kreischend-pinkfarbenen Plakate und werben mit Slogans wie „Nie wieder Faschismus!“ oder „Nie wieder Krieg!“ für eine erneute Blockade von Nazi-Demonstrationen in Dresden. „Nach Dresden mobilisieren“, heißt der Vorgang der seit letztem Herbst laufenden Vorbereitungen im Aktivisten-Jargon.

So lautete auch im vergangenen Jahr schon das Motto der Blockade, die zwar den Marsch der Nazis durch die Neustadt und Teile der Innenstadt verhinderte, jedoch nur unter billigender Inkaufnahme der stundenlangen Nazi-Belagerung eines Holocaust-Denkmals sowie eines Seniorenheimes am Schlesischen Platz vor dem Neustädter Bahnhof. Als „Sieg“ wurde der vermeintlich verhinderte Aufmarsch in der links-alternativen und linksextremen Szene gefeiert, ein Sieg, den man auch verbissen und mit Schmackes gegen die drohende Überflügelung durch die innerstädtische Menschenkette in Sachen mediale Aufmerksamkeit zu verteidigen suchte. Dabei hatte man im Prinzip nur den Marsch, nicht aber den Aufmarsch der Faschisten verhindert.

Doch was ist eigentlich dabei herausgekommen? Was wurde mit der Blockade erreicht?
Abgesehen von den bereits erwähnten unschönen Folgen für das Holocaust-Mahnmal am Bahnhof und die armen Omis und Opis im Seniorenheim, die stundenlang den braunen Mob direkt vor der Nase hatten, den Unmengen an Kosten des dadurch notwendig gewordenen Polizeieinsatzes, die jeder Einzelne mittragen muss, hat die Blockade vor allem eines erreicht: Nach dem gescheiterten Marsch am 13. Februar 2010 bleiben die Nazis der Stadt nun nicht etwa fern, nein, vielmehr planen sie für Februar 2011 gleich MEHRERE Veranstaltungen dieser Art für Dresden. Zunächst einen Trauer- bzw. Fackelmarsch am 13. Februar und schließlich noch weitere Demonstrationen mit insgesamt Tausenden Teilnehmern unter dem Motto „Recht auf Gedenken – Der Wahrheit eine Gasse!“ (!omg!) am 19 Februar.

Der verhinderte Großaufmarsch vom letzten Jahr hat die Nazis nicht etwa abgeschreckt, sondern vielmehr dazu angestachelt, ihr Konzept zu ändern. Statt eines einzigen großen Aufmarsches am 13. Februar, beschränkt man sich nun an dem heiklen Datum auf einen zahlenmäßig kleineren Fackelmarsch und verschiebt den Großmarsch auf den 19. Aus der Schmähung des letzten Jahres lernend, wird der Aufmarsch zudem nicht in einem stattfinden, sondern anscheinend plant man, sich zu verteilen und stattdessen gleich mehrere Demonstrationen auf verschiedenen Routen gleichzeitig stattfinden zu lassen. Die Junge Landsmannschaft Ostsachsen droht auf ihrer Homepage bereits: „Klare Ansage an alle Blockierer: Hände weg vom Trauermarsch der JLO!“
So weit ist es nun schon gekommen, dass die vermeintlichen Antifaschisten teils offen auf die demokratischen Errungenschaften pfeifen, während die Nazis einen auf schmerzhafte, bigotte, oberlehrerhafte Weise daran erinnern müssen: „Die Verhinderung einer ordnungsgemäß angemeldeten Demonstration ist rechtswidrig!“ Was bei den Linken das „Bündnis Dresden Nazifrei“ ist, ist bei den Neonazis mittlerweile das „Aktionsbündnis gegen das Vergessen“.

Ich muss schon sagen, zu diesem „Sieg“ – zweifellos kann man das nicht anders bezeichnen – muss man den Blockierern wahrlich gratulieren, ich vergehe geradez in Ehrfurcht und Dankbarkeit.
Dank ihres heldenhaften Mutes und ihres klugen Einsatzes wird die Polizei in diesem Februar wohl gleich zweimal zum Einsatz anrücken müssen, die Dresdner müssen vier Nazi-Demonstrationen über sich ergehen lassen, statt einer, und die Medien dieser Welt werden gleich zweimal, statt nur am 13. Dresden mit marschierenden Nazis in Verbindung bringen. Vor so viel geheuchelter Sorge um den Ruf Dresdens, so viel unbelehrbarer Dummheit (man kann es nicht anders nennen) und Selbstbeweihräucherung möchte man fast kapitulieren. Zumal diese Tendenz, dass die teils gewalttätigen Proteste gegen die Nazi-Aufmärsche am 13. Februar jene eben nicht fernhalten, sondern geradezu magisch anziehen, bereits seit Jahren offenbar wird. Die Entwicklung nach der letztjährigen Blockade bestätigt dies eindrucksvoll.

Der Vorwurf der Heuchelei ergibt sich zwangsläufig aus der Diskrepanz zwischen dein scheinbar heheren Zielen, die sich die Blockierer auf die Fahnen geschrieben haben („Dresden nazifrei!“, „Nie wieder Faschismus!“, „Nie wieder Krieg!“) und den teils gewaltsamen und rechtsstaatswidrigen Methoden der Durchsetzung zum einen sowie den Folgen, die diese Aktionen offensichtlich haben, und die maximal im Widerspruch zu dem stehen, was man sich vorgenommen hatte, zum anderen.
Die Blockade dient mitnichten dem Kampf gegen Rechtsextremismus, sie dient allein dem kollektiven Aggressionsabbau und der Pflege von Feindbildern, zu denen allerdings nicht nur die Rechten zählen, sondern offensichtlich auch der Staat und seine Ordnungskräfte (Polizei), alles Deutsche, Spießbürgertum, der Raubtierkapitalismus und vieles mehr. Die Blockade findet nicht etwa statt, um Krieg und Faschismus zu bekämpfen, sondern um selbst Krieg spielen zu können – und am Ende Sieger zu bleiben. Anderenfalls hätte man längst aus der Erfahrung der offensichtlichen Kontraproduktivität aus dem letzten Jahr gelernt und sich selbst in seinen Zielen als gescheitert erkannt.

Wohin soll das führen? Reicht es nicht, dass Dresden Jahr um Jahr stärker in den Fokus der Nazis gerät, ja regelrecht zum Schlachtfeld degeneriert, an einem Tag, an dem eigentlich der Opfer von Krieg und Gewalt gedacht werden sollte? Schande über all jene, die diesen Tag auf welche Art auch immer für ihre politischen Scharmützel missbrauchen und alljährlich aufs Neue ohne zu überlegen den Krieg in die Stadt tragen!

Dresdner Kleinkrieg um den Gedenktag gegen Krieg und Gewalt

Die Überschrift bildet, so denke ich, recht trefflich das ab, was alljährlich in Dresden geschieht, sobald der 13. Februar ins Sichtfeld gerät. In allen politischen Lagern ist derzeit jene Phase auf Hochtouren gekommen, in der die Waffen gewetzt, Bündnisse geschmiedet, Schlachtpläne erstellt und die Kämpfer auf die jeweiligen politischen bzw. ideologischen Ziele eingeschworen werden: In Dresden hagelt es derzeit die üblichen Kriegserklärungen, um am 13. Februar – jenem Tag, an dem eigentlich der Opfer mutwilliger und brutaler Zerstörung und Gewalt während des Zweiten Weltkrieges und inbesondere des 13. Februar 1945 gedacht werden sollte – dem jeweiligen ausgemachten Gegner nicht Schlachtfeld und Sieg zu überlassen.
Selbsternannte Anti-Rechts-Aktivisten (darunter mögen durchaus auch einzelne Gruppen und Vereine wie etwa Bürger Courage sein, die sich auch über den Rest des Jahres durchaus mit Aufklärungsarbeit gegen rechtes Gedankengut hervortun) erklären sowohl den Nazis als auch dem konservativ-bürgerschaftlichen Lager den Krieg. Den Nazis möchte man keinen Fuß breit Marschroute lassen – frei nach dem Motto: Sehen wir sie nicht marschieren, lassen sie sich besser ignorieren… -, das bürgerliche Gedenken in der Innenstadt, das sich um die Köpfe der Stadt in Gestalt der Menschenkette etabliert hat, empfindet man wiederum als „verlogen“, „heuchlerisch“ und „populistisch“: Während die „echten Antifaschisten“ in der Neustadt die „Drecksarbeit“ machen, sich den Nazis heldenmutig „entgegenwerfen“, hielten die „Spießbürger“ in der Innenstadt derweile Händchen und feierten sich selbst.

Die Nazis wiederum sehen sich ohnehin von allen Seiten bedroht und verfolgt: Die Stadt hätte ihre „demokratischen Rechte schützen“ und den genehmigten Marsch im vergangenen Jahr durchsetzen müssen. Und „die Linken“ sollte man eh am besten „abstechen“. Jaja, wenn es darum geht, die Freiheiten einer Gesellschaft, die man im Prinzip verachtet, für sich selbst zu nutzen, wird man sogar schon mal zum Rechtsstaatsbefürworter.

Von ganz links außen formiert sich derweil alle Jahre wieder die ultimative Hassfront – und die richtet sich gleich gegen alles Deutsche, egal, ob links, rechts oder in der Mitte. Auch in diesem Jahr werden die Antideutschen wieder marschieren, ihre hasserfüllten Salven wahllos gegen Passanten oder trauernde Rentner schleudern, die am 13. Februar 45 Angehörige verloren und ihrer gedenken wollen.
Komisch nur, dass unserer selbsternannten Antifaschisten das faschistoide Potenzial dieser Randgruppe noch nicht entdeckt haben, ja, dass sie sich mit eben jenen sogar teils verbünden, um schlagkräftiger gegen Nazis vorgehen zu können.
So tauchten bei der Blockade am Albertplatz im letzten Jahr verdächtig viele dieser schwarz vermummten, mit Israel-Fahnen bewaffneten Antideutschen in der Menge auf; sie standen neben Ökos, selbsternannten Menschenfreunden und linken Politikern wie Katja Kipping und Jens Hoffsommer, die ihrerseits wiederum Seit an Seit standen mit den Stalin-Apologeten der MLPD und Radikalen Kommunisten der DKP.

Da stellt man sich zwangsläufig die Frage, wie ernst man die Dresdner Blockade-Bewegung eigentlich nehmen kann. Geht es um den Kampf gegen Extremismus? Sicher nicht, denn unter den Blockierern selbst waren so viele Extremisten, dass der Rest eigentlich hätte stutzig werden müssen, so es ihm denn tatsächlich um den Kampf gegen Extremismus ginge.
Stattdessen hat man sich auf den „Kampf gegen Rechts“ eingeschossen – doch steht der zu großen Teilen eben auf keiner geschlossenen weltanschaulichen Grundlage, sondern vielmehr auf diffusen Feindbildern von der „Glatze, der aufs Maul geschlagen gehört“ und noch etwas weit Banalerem: Eigennutz. Aktiv „gegen rechts“ vorzugehen, ist „in“, besonders in der Neustadt. Es garantiert – inbesondere am 13. Februar in Dresden – ein Maximum an medialer Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit, man wirkt „an etwas Großem“ mit, es gibt einen „Sieg“ zu erringen: Wir oder die. Das stiftet Gemeinschaft und Anerkennung – etwas, das der Mensch zum Leben braucht wie die Luft zum Atmen.

Es ist stark zu bezweifeln, dass die Mehrzahl der Blockierer an der Blockade mitwirkt, weil sie das Problem des Rechtsextremismus tatsächlich durchstiegen hätte, was zwangsläufig ein Inbeziehungsetzen mit gesellschaftlichen Ursachen zur Folge haben müsste. Eine Auseinandersetzung mit diesen Ursachen wird im Gegenteil von den Protagonisten (nicht von allen wohlgemerkt!) als lästig und überflüssig empfunden. Durchstiege man das Wesen des Rechtsradikalismus müsste man zudem mit derselben Konsequenz dem Linksradikalismus entgegentreten – ohne beides in seiner heutigen Wirkweise und Bedeutsamkeit in Deutschland gleichsetzen zu wollen. Gegen Extemismus sein, heißt, gegen totalitäre, inhumane, unfreiheitliche Überzeugungen zu sein. Sämtliches ist im linksextremen politischen Spektrum mit den stalinistischen Diktaturen des Ostblockes und auch während der 60er- bis 80er-Jahre mit der RAF zur Genüge unter Beweis gestellt worden.
Zu sagen, man müsse gegen Rechts sein, weil die Rechtsextremen mehr Menschen umbrächten, hieße, gegen Symptome anzugehen, nicht gegen die Ideologien, denen sie entspringen können.

Hätte die Polizei im letzten Jahr durchgreifen und den Marsch der Rechtsextremen durchsetzen müssen? Das jüngste Verwaltungsgerichtsurteil sagt Ja. Doch schon im verlinkten Artikel des geschätzten Kollegen Christoph Springer wird die eigentliche Botschaft des Urteils zur Groteske verdreht: Es besagt eben nicht, dass die Polizei „mehr für Nazis tun“ muss, sondern dass die Polizei als staatliche Ordnungskraft verpflichtet ist, Recht und Gesetz durchzusetzen – denn nach Recht und Gesetz war der Nazi-Aufmarsch legal, da angemeldet und genehmigt, und die Blockade nicht. Ebenso, wie sie verpflichtet ist, den Aufmarsch der Linksextremen, die Bürgerkette und andere genehmigte Veranstaltungen zu schützen, ist sie auch verpflichtet, den Marsch der Rechtsextremen zu schützen. Simple as that.

Ich wiederhole es auch in diesem Jahr: Keine Blockade der Welt wird dazu beitragen, dass man die „rechten Hackfressen“ nicht mehr zu Gesicht bekommt, dass sie sich in Luft auflösen und das Problem des Rechtssextremismus irgendwann von selbst verschwindet. Aber vielleicht will man das im Lager der Blockierer ja auch gar nicht wirklich, denn was würde man dann jedes Jahr am 13. Februar bloß tun? Keine Massenkundgebungen mit Fahnen und Kampfparolen mehr! Keine Schlägereien mit Nazis! Keine brennenden Container! Kein Grund, sich sinnlos zu besaufen und anschließend die Hauseingänge der Neustadt voll zu urinieren! Keine Gelegenheit, sich als Held und Sieger selbst zu feiern!