Frantz – Ein Film. Ein Plädoyer gegen den Krieg. Und für die Menschlichkeit.

Gestern Abend traf ich den Tod. Und ich traf die Auferstehung. Die Auferstehung gewissermaßen des Menschlichen in einer Zeit, in der die Menschen unter dem grausamen Regiment des Todes standen, der Hass die Herzen vergiftete, weil Schmerz und Demütigung nichts anderes zuließen. Die Auferstehung des Menschlichen aber auch in einer Zeit, gut 100 Jahre später, in der Hass und Überlegenheitsdünkel erneut um sich greifen und vermeintlich Gedemütigte in den ach so warmen Schoß eines übersteigerten Nationalgefühls flüchten, nach Schuldigen suchen für vermeintliche Missstände und selbst richten wollen. Frantz – Ein Film. Ein Plädoyer gegen den Krieg. Und für die Menschlichkeit. weiterlesen

Der zweite Streich der Amira Willighagen – wenig überzeugender Reality Check.

Mit „Merry Christmas“ legt Klassik-Prinzessin Amira Willighagen aus den Niederlanden bereits ihr zweites Album vor. Nach dem Debüt „Amira“ von 2014, mit dem die damals knapp Zehnjährige nach ihrem Talentshow-Sieg vom Dezember 2013 mit Gold durchstartete, wirkt der Zweitling deutlich gereifter – sowohl stimmlich als auch, was die Songauswahl betrifft. Letztere ist durchweg als wirklich gelungen zu loben: Herrschten auf dem Erstling noch vorrangig leichtere Kost in Gestalt häufig interpretierter und beinahe schon abgegriffener Arien wie „O Mio Babbino Caro“ oder „Nella Fantasia“ vor, wechseln sich auf „Merry Christmas“ Perlen klassischer Musik wie „Ave Verum Corpus“ (Mozart), „Panis Angelicus“ (Cesar Franck) oder „Nulla in Mundo Pax (sincere)“ (Vivaldi) mit selten zu Ehren gelangenden Stücken wie dem wunderschönen „Bist du bei mir“ von Gottfried Stölzel oder Pietro Mascagnis „Sancta Maria“ sowie internationalen Weihnachtsklassikern („O Holy Night“, Silent Night“) ab. Diese durchaus anspruchsvolle Mischung überraschte, und sie macht „Merry Christmas“ zu einer Platte, die zumindest vom Hörgefühl her tatsächlich gut in die besinnliche Jahreszeit passt. Dazu kommt, dass die Instrumentalisierung der Stücke durchweg ansprechend realisiert wurde. Die Tonqualität ist auch sehr gut. Volle Punktzahl gibt es deshalb für Liedauswahl und Arrangement von mir.

Bei allem Lob kommt nun aber das große Aber. So schön die Liedauswahl aufs Hören auch ist – sie hat auch ihre Tücken. So sind mir persönlich zu viele Stücke dabei, in denen es um Tod und Abschied geht – dabei ist Weihnachten ja eigentlich das Fest einer Geburt, also neuen Lebens. Und gerade solch schwermütiges Liedgut wie die Requiems oder Ave Verum Corpus möchte ich zudem eigentlich nicht aus dem Munde eines elfjährigen Kindes hören. Bestes Beispiel: der Stölzel. Text:

„Bist du bei mir, geh‘ ich mit Freuden zum Sterben und zu meiner Ruh‘. Ach, wie vergnügt wär so mein Ende, es drückten deine lieben Hände mir die getreuen Augen zu!“.

Man nenne mich altmodisch – aber ich wüsste einfach Besseres, über das Kinder singen könnten, als über das Sterben und „ihr Ende“.

Allzu oft überfordert zudem die anspruchsvolle Literatur die Fähigkeiten Willighagens spürbar. Und das ist auch der Grund, warum es keine Lobesarien mehr von mir gibt, so wie noch beim Debüt. Hat man einer Neunjährigen den einen oder anderen Wackler oder Defizite in Ausdruck und Aussprache noch augenzwinkernd verziehen und das tatsächlich enorme Talent des Kindes gepriesen, sind die Vorschusslorbeeren nun schlicht und ergreifend aufgebraucht. Dass sich diese Auffassung nun zunehmend auch im Laien-Publikum durchsetzt, zeigen die Verkaufswerte des Albums. Während das Debüt „Amira“ im vergangenen Jahr mit dem Sensationsgeheische der Talentshow direkt von null auf eins in den holländischen Albumcharts schoss, landete der Zweitling gerade mal auf Platz 69 und fiel schon in der zweiten Woche wieder komplett aus den Top 100 heraus.

Zweifellos ist Amira Willighagen knapp zwei Jahre später für ihr Alter immer noch ein großes Talent, das vielversprechende stimmliche Ansätze mitbringt. Dabei bleibt es dann aber vorerst auch. Hier wird dann doch sehr deutlich, dass die Opernbühnen dieser Welt nicht umsonst von wahrhaftigen Persönlichkeiten bevölkert werden. Um etwa eine Arie wie „Panis Angelicus“ so zu singen, dass sie eben nicht wie ein Kinderlied klingt, sondern wie die ergreifende Hymne, als die sie von Cesar Franck einst konzipiert wurde, braucht es Reife – sowohl stimmlich als auch persönlich. Es macht einen großen Unterschied, ob ich ein Lied in wenigen Wochen vor der Studioaufnahme auswendig lerne, oder ob ich in der Lage bin, mich voll und ganz darauf einzulassen, hineinzudenken und -zufühlen. Wenn ich an „Panis Angelicus“ denke, dann habe ich Elisabeth Schwarzkopf oder – jüngeren Datums – Elina Garanca im Ohr. Und dagegen muss Amira Willighagens zwar durchaus hübsch anzuhörende, aber eben doch sehr glanzlose Version einfach verblassen.

Doch dies soll keineswegs ein Verriss werden. Angesichts ihres Alters ist die Leistung Willighagens immer noch außergewöhnlich zu nennen. Im Gegensatz zu manchen ihrer Live-Darbietungen ist auf „Merry Christmas“ zudem deutlich das Bemühen zu erkennen, die im letzten Jahr verstärkt zutage getretenen Defizite in Sachen Atemtechnik und Stimmsicherheit gerade in den sehr hohen und sehr tiefen Tonlagen zu minimieren. Dennoch bringt die Stückauswahl die junge Künstlerin an ihre (derzeitigen) Grenzen. Insbesondere in den Koloraturen (schnell aufeinanderfolgende Tonlagenwechsel), die häufig alles andere als sauber gesungen werden, werden ihre Schwächen offenbar. Besonders deutlich wird das in „Nulla in Mundo Pax (sincere)“. Auch fehlt es Willighagen noch immer an der Fähigkeit, die jeweiligen Stimmungslagen der Stücke zu transportieren. Hier ragt vor allem Vavilovs „Ave Maria“ negativ heraus, das viel zu schnell und ohne jede Regung durchgesungen wird, Willighagen zudem in den Höhen überfordert. Ebenfalls eher enttäuschend: ausgerechnet der Weihnachtsklassiker schlechtin, „Silent Night“. Hier hat man das Gefühl, dass der Interpretin die Bedeutung des Anlasses (Geburt des Heiland) entweder überhaupt nicht bewusst ist oder sie es aber nicht versteht, die damit für die Christenheit verbundene Gefühlswelt entsprechend in Gesang zu übersetzen. So hart es klingt – aber jede Version des Dresdner Kreuzchores würde ich mir lieber anhören.

Jetzt mag mancher sagen: Mein Gott, es ist halt noch ein Kind – mit Engelsstimme, die halt noch wachsen muss. Dem kann man jedoch ohne Weiteres entgegenhalten: Wenn das Kind dem gewählten Repertoire offensichtlich noch nicht gewachsen ist, muss man etwas am Repertoire ändern – so allerliebst beides auch ist. Genau an diesem Verständnis fehlt es dem Umfeld Willighagens aber offenbar. CD-Verkäufe und bezahlte Auftritte scheinen da wichtiger als diesem anspruchsvollen Repertoire und vor allem dem stetig wachsenden Auftrittspensum angepasster Gesangsunterricht. So wurde Willighagen lediglich im Zuge der Studioaufnahmen zum Album von einer professionellen Gesangslehrerin betreut, die auf klassischen Gesang spezialisiert ist – im Auftrag der Plattenfirma, die offenbar auf Nummer sicher gehen wollte. Sonst erhält die Elfjährige nach wie vor lediglich Unterstützung von einer Musikstudentin (23), die bereits die Studioaufnahmen zu Amiras erstem Album begleitete.

Und so hat man bei Willighagen ständig das Gefühl, als säße ein Traktorist am Steuer eines kostbaren Ferrari – sie weiß all ihr Potenzial ganz einfach noch immer nicht auszuschöpfen, weil ihr dazu das technische Rüstzeug, vor allem aber auch die Ausstrahlung fehlt. Eine schöne Stimme allein reicht eben nicht aus, man muss sie auch steuern und kontrollieren können. Und genau das erfordert jahrelanges Training. Klare Punktabzüge gibt es daher für die gesangliche Umsetzung der Stücke, ebenso wie für Ausdruck und Gefühl.
Es sind Defizite, die man ehrlicherweise anerkennen und würdigen muss, wenn man die darbgebotenen Stücke mit den Darbietungen der etablierten Klassikgrößen vergleicht. Wer sie leugnet, tut Amira Willighagen keinen Gefallen, sondern bedient stattdessen eigene Eitelkeiten. Und an diesem Vergleich wird sie auch in Zukunft nicht vorbeikommen: Wer sich mit dieser Art Repertoire in die Öffentlichkeit begibt, muss ihm standhalten können.

Dennoch tut die junge Künstlerin auf „Merry Christmas“ ihr Möglichstes und liefert am Ende auch ein durchaus schön anzuhörendes Werk ab, das für Entzücken unterm Weihnachtsbaum sorgen wird. Wer besonders schöne Kinderstimmen mag, wird hier glücklich werden. Nur von einer Vorstellung muss man sich wohl definitiv verabschieden: Amira Willighagen sei der kommende Opernstar oder gar schon die neue Maria Callas oder Anna Netrebko. Wer sich nicht sicher ist, ob er die CD kaufen möchte – auf Spotify (dort kann man sich z.B. über seinen facebook-Account ganz leicht anmelden) kann man sich das gesamte Album kostenfrei anhören und dann seine Entscheidung treffen, ob sich der Kauf lohnt.

Im selben Wortlaut am 21. November 2015 auf Amazon veröffentlicht.

In Russland verboten, im Westen gefloppt: „Kind 44“ zeigt die Stalin-Ära ungeschminkt, scheitert aber an der grandiosen Vorlage.

Am 22. Oktober kommt die Hollywood-Verfilmung von Tom Rob Smiths Bestseller „Kind 44“ in den deutschen Handel. Bereits im Juni enterte die millionenschwere Produktion die deutschen Kinos. Voll Erwartung, was Daniel Espinosa aus dem spannenden und äußerst authentischen Original über den Terror der Stalin-Ära in der Sowjetunion gemacht haben würde, tauschte ich die rustikale Holzbank der Kurilka gegen den weichen Sessel eines Multiplex-Kinos, um mir ein Bild zu machen. Im Ergebnis standen gemischte Eindrücke.

Ehe es ans Eingemachte geht, muss zur Einordnung des Films eines festgehalten werden: „Kind 44“ ist definitiv einer von nur wenigen Filmen, die den Finger derart in eine Wunde legen, die seit Jahrzehnten in der russischen Seele schwärt. Heilung hat sie bis heute nicht erfahren. Nach verschiedenen Schätzungen zehn bis 20 Millionen Menschen, eigene Landsleute, hat Josef Stalin in den fast 30 Jahren seiner Alleinherrschaft in der Sowjetunion liquidiert und in den Tod getrieben, bis zu 40 Millionen kehrten nach Jahren in der Knochenmühle der Gulags dauerhaft seelisch gemordet zurück. Allein während der Zeit des „Großen Terrors“ in den Jahren 1936 bis 1938 ließ der „Generalissimus“ fast 800000 Menschen erschießen. Dennoch hält die Hälfte der Russen Stalin noch heute für einen Helden, zumindest aber für einen großen Staatsmann. Das macht einen Film wie „Kind 44“ wichtig – auch wenn er gerade in jenem Land, das just in diesen Tagen mehr denn je diesen kleinen Realitätscheck hätte gut gebrauchen können, kaum jemanden erreicht haben dürfte: Wladimir Putin ließ den Streifen in Russland kurzerhand verbieten.

Trotz (oder vielleicht gerade wegen?) seiner starken politischen Botschaft ist der Film an den Kinokassen ein absoluter Flop – auch in seiner US-Amerikanischen Heimat, wo er hohe zweistellige Millionenverluste einspielte. Als ich ihn im Juni im Kino sah, saß ich mit vier weiteren Leuten in dem riesigen Saal. Stalinismus und Kalter Krieg scheinen offenbar in den Köpfen weniger verankert als etwa Erster oder Zweiter Weltkrieg. Und das, obwohl Erstere – zusammengefasst als eigene Epoche – mit beinahe 70 Jahren weit länger währten und mit weltweit geschätzten 20 bis 30 Millionen Todesopfern (Vietnamkrieg und Koreakrieg als „heiße“ Stellvertreterkonflikte des Kalten Krieges mitgerechnet) sogar teilweise mehr Opfer forderten als etwa der lediglich vier Jahre dauernde Erste Weltrieg (17 Millionen Tote) oder der Zweite Weltkrieg (5,5 Jahre, 60 Millionen Tote).

Viel Feind, viel Ehr mochte man (wohl-)meinen. Doch bei genauem Betrachten enttäuscht „Kind 44“ zwar nicht auf der ganzen Linie, aber doch spürbar – was nicht heißt, dass er nicht auch seine starken Momente hat. Den gleichnamigen Bestseller von Tom Rob Smith zur Vorlage, nimmt Regisseur Daniel Espinosa den Zuschauer mit in die Sowjetunion der Stalinzeit, genau gesagt ins Jahr 1953: Angst regiert das Land. Die Angst davor, dem falschen Menschen zu vertrauen. Wer anders ist, macht sich potenziell verdächtigt. Wer nicht denunziert, läuft Gefahr, selbst denunziert und als Verräter hingerichtet zu werden. Schuld oder Unschuld sind Hülsen ohne jede Bedeutung. Schwer und düster lastet die Angst, fahl und finster zeichnet Espinosa die Gesichter der Menschen in ihrem Überlebenskampf. Es sind die besten Momente dieses Films: die Atmosphäre dieser furchtbaren Epoche der Gewalt und der Willkür, die dem Zuschauer in jede Pore kriecht – großartig! Auch, wenn der Höhepunkt des Stalin-Terrors sicherlich nicht gegen Ende seiner Herrschaft anzusiedeln ist, sondern im „großen Terror“ um die 15 Jahre eher – der Film erfindet nicht und übertreibt auch nicht: Er zeigt Stalins Russland so, wie es auch wirklich war.

Wer beim MGB – dem gefürchteten Ministerium für Staatssicherheit und Vorgänger des KGB – arbeitet, ist es gewohnt, zu foltern, ganze Familien ans Messer zu liefern. Mitleid gibt es nicht. So einer ist Leo Demidow. Im Film – wie auch im Buch, an dessen Plot sich Espinosa nicht durchweg hält – entspricht Leo Demidow jenem Mann, der nach dem Sieg über Deutschland in Berlin auf dem Reichstag fürs Propagandafoto die sowjetische Fahne hisst (tatsächlich wurde für diese Rolle damals eigens Meliton Kantaria ausgesucht – ein Sergeant der Roten Armee, ebenfalls wie Stalin aus Georgien stammend). Aus dem verstörten Waisenjungen, der während der von Stalin zur Ausrottung des ukrainischen Volkes herbeigeführten Hungersnot, dem Holodomor, zu Beginn der 30er-Jahre Schreckliches durchmachte, seine Familie verlor und selbst nur knapp überlebte, war ein hoch dekorierter Kriegsheld geworden. Aufgewachsen im respressiven Stalin-Regime, hat Demidow (gespielt von Tom Hardy) nie gelernt, zu hinterfragen. Er führt Befehle aus – bis eines Tages seine schöne Frau (Noomi Rapace) ins Fadenkreuz gerät – und Leo vor die Wahl gestellt wird: entweder sie denunzieren, oder ihrer beider und das Leben seiner Eltern aufs Spiel setzen.

Der Film hat ein Riesen-Problem: Es gelingt nicht, glaubwürdig die Handlungsantriebe herauszuarbeiten, die die Hauptfigur des Leo dazu bringen, plötzlich sein Herz für das Leid anderer Menschen zu entdecken. War er gerade noch hartherzig und skrupellos, schwingt er sich im Verlauf des Films zum wahren Frontreiter der Gerechtigkeit auf. Ein Mann, der den Anblick des Todes, auch toter Kinder, kennt, der den Geist des Systems wie kaum ein Zweiter verinnerlicht hat. Wie kann das möglich sein in einem System, in dem das Liquidieren von Gegnern und unbequemen Menschen ebenso wie unbedingter Gehorsam grundlegende Bedingung für den Aufstieg innerhalb der Nomenklatura war? Nicht dass es gänzlich gänzlich auszuschließen wäre. Allein, es fehlt ein schlüssiges Motiv für den plötzlichen Sinneswandel. Der Umstand, dass sein Freund unmittelbar von einer grausamen Tat betroffen ist, kann als alleiniger Auslöser nicht tragen, denn Tom Rob Smith erzählt uns über den Alltag im Stalinismus Folgendes: Selbst deine engsten Angehörigen konnten dich jederzeit denunzieren und in den Tod schicken, niemandem durfte man trauen. Und nun gilt es auch noch, eine Mordserie an 44 Kindern zu lösen – in einem Land, in dem es offiziell keine Verbrechen gibt. Ein ganz heißes Eisen also, denn Morde sind im Stalin’schen Mikrokosmos allein Produkt kapitalistischer Umtriebe. Und so finden sich denn Leo und seine Frau Raissa, die den Mörder trotz aller Risiken auf eigene Faust finden wollen, auch alsbald auf der Abschussliste des MGB wieder.

Noomi Rapace als Raissa war übrigens für mich die größte Enttäuschung am gesamten Film – und das, obwohl ich sie sonst wirklich gerne sehe. Blass und unscheinbar bleibt die Frau, die im Buch noch so bewundernswert energisch gegen ihren skrupellosen Mann aufbegehrte, den sie einst aus Angst, nicht etwa aus Liebe heiratete. Diesen Schlüsselkonflikt der beiden ertränkt der Film in einer Welle von Sentiment und flachen Dialogen, die völlig fehl am Platze wirken. Glaubte man dem Buch noch, dass Raissa es mit ihrer Mischung aus Schutzlosigkeit und innerer Stärke gewesen sein mochte, die Leo zu Verstand brachte, fehlt dem Film dieses Moment völlig. Dazu kommt, dass mir persönlich die deutsche Synchronstimme Rapaces einfach nur auf die Nerven ging. Passte die verbrauchte Reibeisen-Röhre von Sandra Schwittau in „Verblendung“ auf Rapaces Rolle noch wie die Faust aufs Auge, trägt sie in „Kind 44“ wesentlich mit dazu bei, dass der Charakter der Raissa, diese stille und doch so kluge, starke, aber eben auch feinfühlige Frau, die das Buch vorgibt, einfach nicht rüberkommen will. Schwittau gibt ihr stattdessen eine aufgekratzte, schräge Sprache, die einfach nicht passen will.
Ungewöhnlich und durchaus sympathisch gerade für einen Hollywood-Streifen ist hingegen, dass der gesamte Film fast völlig ohne Sex auskommt – eine absolute Rarität für eine Produktion der Glitzerschmiede, die gemeinhin dafür berühmt-berüchtigt ist, selbst in den grauenhaftesten Weltuntergangsszenarien noch eine heiße Bettszene einstreuen zu müssen. So bleibt „Kind 44“ in angenehmer Weise auf das Wesentliche reduziert: Angst. Angst und Grauen.

Ein Hauptkritikpunkt, den sich der Film allerdings gefallen lassen muss, ist, dass ausgerechnet er, der hier wahrlich grandios mit Bildern hätte arbeiten können, auf die historische Einordnung der Handlung fast völlig verzichtet. Die Szenen, die im Buch auf den Tod Stalins im März 1953 Bezug nehmen, lässt er vollends außen vor. Der Tod des Diktators – er findet im Film einfach nicht statt. Erst gegen Ende, als Demidow, der zwischenzeitlich mehrfach dem Tod von der Schippe gesprungen ist, quasi rehabilitiert wird, fällt endlich der erlösende Satz: „Jetzt herrschen andere Zeiten“. Dennoch muss sich der historisch unbedarfte Zuschauer selbst zusammenreimen, was denn damit nun genau gemeint ist.

Wenig Glaubwürdigkeit versprühen zudem die eklatanten Wissenslücken hinsichtlich der Besonderheiten russischer Namensgebung. Da wird aus Jura Alexejewitsch Andrejew (der Sohn von Leos bestem Freund Alexej Andrejew und „Kind 44“) Jura Alexej Andrejewitsch. Es scheint banal – und kann doch viel kaputt machen, weil es einfach offenbart, dass die Besonderheiten russischer Kultur nicht bis zu Ende recherchiert bzw. vernachlässigt wurden.

Im letzten Drittel des Filmes überstürzen sich zunehmend die Ereignisse. Teilweise hat man regelrecht Mühe, zu folgen, ohne den Faden zu verlieren. Trotzdem ist der Film durchaus sehenswert – schon wegen der politischen und menschlichen Botschaft, die er trägt. Bis zuletzt bleibt es zudem (für die, die das Buch nicht kennen) spannend, der Serienmörder ein Phantom. Das Ende sollte eigentlich ein Paukenschlag sein – so war es zumindest im Buch. Doch im Film verpufft der Umstand, dass der Mörder Leos seit der Hungersnot verschollener jüngerer Bruder Andrej ist. Denn im gesamten Film wurde sich nicht die Mühe gemacht, auf die Geschichte der beiden und die unmittelbar auslösenden traumatischen Erfahrungen Andrejs mit Hunger und Kanibalismus in Jugendtagen hinzuweisen – als selbst andere Menschen zu essen, um zu überleben, Alltag war.

Schade, muss man insgesamt konstatieren. Ein wichtiges und vor allem viel zu selten filmisch besprochenes Thema, toll inszeniert mit großartigen Bildern. Aber auch eine Vorlage, an der Daniel Espinosa spürbar verzweifelt ist. Und am Ende fragt man sich, warum Wladimir Putin eigentlich solche Angst vor diesem Film hatte, in dem der Massenmörder im Grunde nicht mal eine Nebenrolle innehat: Weder wird er überhaupt gezeigt noch zitiert oder sonst irgendwie in die Handlung einbezogen. Schon irgendwie ein Armutszeugnis – für den Film und auch für Putin.

Fazit: Sechs Sterne auf einer Skala von 1 bis 10 für die künstlerische Umsetzung, aufgrund des wichtigen Themas Kaufempfehlung.

Eine Stimme zum Niederknien.

Als ich eines schönen Tages bei youtube nach Songmaterial von Jackie Evancho suchte, begegnete ich Amira Willighagen das erste Mal – und endete den Tränen nahe. Diese Stimme!! Oh – mein – Gott… und das mit sage und schreibe neun Jahren. Unglaublich, dass so viel Leidenschaft und Kraft dem Körper eines solchen Persönchens entströmen können. Sie können. Dieses kleine Mädchen steht auf der Bühne, öffnet den Mund – und legt einen Schalter um. Man muss nur in ihr Gesicht schauen und ist einfach sprachlos, denn sobald sie singt, wird aus dem kleinen, süßen Mädchen eine wahre Künstlerin.

Nichts anderes ist Amira Willighagen. Sie ist weder ein Star noch das Opfer verzweifelter Karrieristen, die über ihre Tochter hinwegtrampelnd Rampenlicht und Reichtum suchen, wie immer wieder von bösen Zungen behauptet. Warum melden Eltern ihre talentierten Kinder bei Casting Shows an? Wirklich nur, weil sie das schnelle Geld suchen? Nicht etwa auch, weil sie sich fragen, was sie mit dem unfassbaren Talent ihres Kindes denn nun anfangen sollen? Lohnt es sich, das Kind weiter zu fördern? Was könnte es daraus machen? Was irgendwann erreichen? Es gibt viele Gründe. Und man wird das Gefühl nicht los, als neideten die Kritiker den Eltern dieses Kindes diesen „Goldschatz“ und ergingen sich rein deshalb in gehässigem Bashing. Dabei ginge es vorrangig darum, die Qualität des vorliegenden Albums und die gesanglichen Fähigkeiten der jungen Sängerin zu beurteilen. Amiras Eltern haben immer wieder betont, dass sie ihr Kind nie verheizen würden, dass Amira weder zu Auftritten noch zu Gesangsstunden gezwungen werde. Die wenigen Auftritte in der Öffentlichkeit, die sie absolviert, lassen sich im Jahr an einer Hand abzählen – und das ist auch gut so. Mit ihren mittlerweile 10 Jahren besucht sie die sechste (!) Klasse. Ich kenne kein Kind, das von Auftritt zu Aufritt gepeitscht wird, das das mal eben nebenbei mit schafft. So was schafft man nur, wenn man dafür auch genügen Zeit und Ruhe hat.

Was die CD betrifft, so finde ich die Songauswahl durchaus gelungen für ein Debüt. Das Repertoire besteht aus weithin bekannten Opernklassikern, aber auch einigen weniger bekannten Stücken. Allesamt wunderschöne Melodien, von Amira in unvergleichlich schöner und für ein Mädchen ihres Alters nahezu perfekter Weise dargeboten. Ein wenig schade finde ich persönlich, dass die kleinen Ecken und Kanten, die ihre Stimme im Original so einzigartig machen, so ziemlich mittels Studiotechnik „weggebügelt“ wurden.

Ich wünsche mir für dieses kleine, stimmliche Kraftpaket, dass es sein Talent im Laufe seiner Adoleszenz voll zur Entfaltung bringen kann. Nicht schon jetzt, sondern dann, wenn sich Amira wirklich für eine Karriere im Operngeschäft entschieden haben sollte. Und bei dieser Stimme kann man das eigentlich nur hoffen. Sie wäre sicherlich zu Großem bestimmt.

Im gleichen Wortlaut am 14.Juni 2014 als Rezension auf Amazon veröffentlicht.