Kleine Geschichte der Gentrifizierung – oder wie ein Stadtteil sein menschliches Antlitz verlor.

Februar 1987. Dresden, ach Dresden. Einem jeden von uns blutet das Herz beim Gedanken daran, dass wir die Stadt vielleicht schon in wenigen Wochen wieder verlassen müssen. Wann hat man je einen Ort von solch erhabener Schönheit gesehen? Das heißt, eigentlich ist die Stadt ja weniger schön mit all ihren noch immer sichtbaren Kriegswunden und -narben, als dass man ihre einstige Schönheit noch immer erahnen kann, und an manchen Stellen schwingt sie sich zu voller Blüte auf. Im Zwinger zum Beispiel, ja, ich erinnere mich noch gut an unseren Besuch dort im letzten Juni. Tschemuschin, unser damaliger Alter und ein echter Schlächter, hatte uns – damals noch blutige Grünschnäbel kurz nach dem Grundwehrdienst – die halbe Nacht lang traktiert: antreten, Liegestütze, die Nationalhymne singen, hinlegen, wieder antreten… und so weiter. Und dazwischen mit Schlägen und Tritten nicht gespart. Der Teufel soll in holen, den alten Drecksack. Am nächsten Tag sind wir jedenfalls völlig ramponiert zu dem Ausflug aufgebrochen, auf den wir uns alle so gefreut hatten – fest entschlossen, uns das von keinem verfluchten Tschemuschin der Welt verderben zu lassen. Der Zwinger war beeindruckend, besonders die Inschrift dieses Teufelskerls Hanutin, des Minenräumers, die auch über 40 Jahre später noch in der Zwinger- und auch an der Schlossmauer erkennbar ist.
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Doch auf dem Weg dorthin offenbarten sich uns in einem Anflug von grausamem Realismus die Schattenseiten der Stadt. Ein Viertel unweit unseres Städtchens, fast scheint es von Gott und aller Welt vergessen: dreckig, die Häuser schwarz von Ruß und Abgasen, manche kriegsversehrt, vor sich hinmodernd oder bereits ruinös, nur teilweise noch bewohnt. Tschemuschin lachte grimmig, als er unsere betroffenen Blicke angesichts all des Verfalls sah, an dem wir mit der Straßenbahn vorbeiholperten. Es war unser erster richtiger Ausflug aus der Kaserne gewesen und irgendwie hatten wir mit so viel offensichtlichem Elend in einem Land, das bei uns daheim für seine Fortschrittlichkeit bewundert wurde, nicht gerechnet. „Soll eh alles bald weg“, hatte Tschemuschin, der verwitterte Mittdreißiger, abfällig hinter seiner Zigarette hervorgenuschelt. „Wird mal ein echtes Sternenstädtchen, alles neu und sauber. Aber nicht für so kleine Verlierer wie euch. Da kommen die Anständigen hin, die Fleißigen, die, die dem Vaterland Ehre machen.“

Was Tschemuschin, die anderen und auch ich damals nicht wussten: Das Viertel, die Neustadt, am nördlichen Elbufer gelegen, wird nicht fallen zumindest nicht sofort. Und es gibt auch noch Menschen, die dort wohnen. Sie wird nicht fallen, weil sich viele dieser Bewohner dagegen organisieren werden. Sie werden auf die Barrikaden gehen, um ihre Heimat vor dem Abriss zu retten – und damit auch ein Stück Kultur- und Lebensraum. Die Neustadt ist für sie ein Refugium, in dem sie sich vergleichsweise frei bewegen können, wo in verfallenen Hinterhöfen kreative Impulse Raum finden, sich zu entfalten, wo sich verräucherte Kneipen, Ateliers und Wohnungen auf wundersame Weise in abrissreifen Häusern halten. Viele junge Familien wohnen dort, Studenten, Künstler, die junge Intelligenz, aber auch gesellschaftlich Ausgestoßene, Penner. Omelnitschenko, Unterleutnant und der Zugführer unseres achten Panzerausbildungszuges unserer vierten Kompanie des ersten Bataillons, hat mir nach einem seiner mehr oder weniger legalen Ausflüge in eine bei sowjetischen Offizieren beliebte Bar im besagten Viertel in lebendigen Farben davon erzählt. Omelnitschenko ist in Ordnung, man kann im vertrauen. Einer der wenigen hier aus dem Offizierskorps. Hat mir sogar versprochen, mich mal dorthin mitzunehmen, sollte ich nach der Ausbildung in Dresden stationiert werden und meine Balken erhalten. In der Neustadt, so schilderte nun Omelnitschenko, herrsche quasi Anarchie. Dort lebe jeder, wie es ihm gefiel, und ein allseits bekannter Wirt weise jedem, der nachfragte, den Weg in eine Kommunalka in einem besonders verfallenen Haus, in der freie Liebe praktiziert werde – jeder mit jedem. Der gute Jaschka Omelnitschenko, kaum zwei Jahre älter als ich, hat mich geneckt und ausgelacht, weil ich ganz rote Ohren bekommen hatte. Nun ja, ich gestehe, wir Kursanten haben hier nach einem halben Jahr auf dem Trockenen alle ein ziemliches Defizit in Sachen Liebe entwickelt – und anderthalb weitere Jahre noch vor uns!

So ist das also mit dem hässlichen Dresden: Die Neustadt, eine Enklave wie aus einer anderen Welt. Und deren Bewohner, deren harter Kern der Kampf um Wohn- und Lebensraum und um freie Entfaltung zusammengeschweißt hat. Wahrscheinlich wissen sie ganz genau, dass die sozialistisch-futuristischen Neubauten, die hier geplant sind, nicht für sie gedacht sind. Aber vielleicht können sie sich auch einfach gar nicht vorstellen, in solch beengten Verhältnissen, in einem mit dem Lineal gezogenen, tristen Trabanten, zu hausen? 10000 Menschen leben noch in der ausblutenden Neustadt. Immer mehr ziehen weg. Würden die Neubaupläne verwirklicht, würden es plötzlich Zigtausende sein, die sich dieselbe Fläche teilen müssten, zu teureren, für viele unerschwinglichen Mieten. Der Kampf dieser Menschen um ihr Stückchen Heimat und sei sie auch in einem noch so desolaten Zustand, und die vielen Geschichten und Mythen, die sich in unseren Reihen um das angeblich freizügige Leben dort ranken, faszinieren mich auf eine Weise, die schwer zu erklären ist. Bei uns daheim kenne ich niemanden, der mit derartigem Verve um ein paar alte Bauten kämpfen und sich dafür auch noch mit der Staatsmacht anlegen würde. Denn das werden sie. Zunächst mit Erfolg.

Jahre später.

Die Neustadt wurde nicht abgerissen, stattdessen kam die Wiedervereinigung. Unsere Truppen jagten die Deutschen zum Teufel, gut, dass ich das nicht mehr miterleben musste. Aber im Prinzip fand ich es richtig so. Fast 50 Jahre waren doch wirklich genug. Zumal ich von Jaschka wusste, dass wir einfachen Jungs vielen Deutschen einfach nur leidtaten. Und nichts könnte schlimmer sein als bemitleidet zu werden. Dabei konnten einem eigentlich die Deutschen leidtun: zu Befehlsempfängern degradiert im eigenen Lande und der Willkür einer fremden Macht vollends ausgeliefert. Das änderte sich nun schlagartig. Und die logische Konsequenz für uns konnte nur lauten: Abzug. Und überhaupt hatten wir ja alsbald bei uns daheim mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen.

Aber was wurde aus der modrigen Neustadt, die mich so fasziniert hatte? Sie wurde zum Sanierungsgebiet. Es gab also erst mal kaum neue Häuser, sondern die alten, eigentlich so herrlichen Gründerzeitbauten wurden aufwendig saniert, manche abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Die Neustadt füllte sich langsam wieder mit Leben. In den folgenden 30 Jahren wird sich die Zahl ihrer Bewohner fast verdoppeln. Doch die Menschen, die damals so gekämpft haben, haben den Kampf trotzdem verloren. Sie kämpften ja nicht nur um den Erhalt der Bausubstanz, sondern vorrangig um ihre Lebensphilosophien und Träume, um das, was sie in all den Jahren der Nichtbeachtung durch den Staat mit eigenen Händen geschaffen hatten. Das waren vor allem soziale Errungenschaften: Arbeitslosentreffs, trockene Wohnungen für Familien und alte Menschen, Räume für Kunstschaffende, Kinderspielplätze, Straßenfeste – alles Dinge, die der Gemeinschaft dienten, nicht dem Einzelnen. Von alledem ist heute kaum etwas geblieben. Die Häuser sind neu und schick – aber sie gehören nicht mehr den Menschen, sondern raffgierigen Kapitalisten – so wie fast alles andere auch. Raum für freie Entfaltung gibt es kaum noch. Die Menschen treten sich gegenseitig auf die Füße, und der einstige Geist von Freiheitlichkeit, Aufmüpfigkeit und Solidargedanke ist im Grunde hinweggeblasen, niedergewalzt von der Planierraupe des Kapitalismus. Längst ist sich in der Neustadt jeder selbst der Nächste. Anders als damals hat das Viertel heute den Ruf eines Party- und Amüsierviertels weg. Die Straßen sind gesäumt von Kneipen, ein Club reiht sich an den nächsten, schließt der eine, öffnet ein anderer. Und die Betreiber rühmen sich gar des Monsters, das da erschaffen wurde, ja sie wetteifern förmlich um den Status des Wegbereiters dieser „neuen Neustadt“. Und sie sehen sich – und das ist das eigentlich Groteske dabei – in der Tradition ausgerechnet jener, für deren Träume sie im Grunde zum Totengräber wurden. Es ist ein seltsames Klima, wenn man durch die Straßen geht: ein Viertel, das in sich selbst verliebt ist für etwas, das es längst nicht mehr ist, das nur noch als Tagebucheintrag in den Aufzeichnungen der Altvorderen existiert, als gerahmtes Kalenderblatt in der Stadtteilchronik des hiesigen Museums.

Bei uns daheim gibt es ein schönes Sprichwort: „Alle sind Leute, doch längst nicht alle auch Menschen.“ Damals, als ich kurz vor meiner Entlassung aus der Armee im Herbst 1988 mit Jaschka durch die Neustadt lief, traf ich fast ausschließlich Menschen. Gute, herzliche Menschen, denen die Gemeinschaft am Herzen lag. Die meisten waren arme Künstler, Querdenker oder hart arbeitende Leute, aber alle anständig und ehrlich und tief mit ihrem Viertel verwurzelt. Mit dem wenigen, was sie hatten, versuchten sie es zu verschönern, bunt zu machen. Sie halfen einander gegenseitig dabei und versetzten auf diese Weise ganze Häuser wieder in einen bewohnbaren Zustand. Manchmal versteckten sie auch Unsere, wenn manche sich unerlaubt aus der Kaserne gestohlen hatten, um ein wenig Spaß zu haben, und ihnen die Schasskommandos auf den Fersen waren. Sie haben mein Bild von den Deutschen tiefgreifend verändert. Zum Positiven.

Wenn ich heute durch die Straßen der Neustadt gehe, ist nichts von der alten Faszination geblieben. Ich sehe ein Viertel wie so viele andere: protzig, geschäftig, übervölkert, eng, schmutzig und nur ganz vereinzelt noch trotzig – und wenn, dann an den falschen Stellen. Aufmüpfigkeit äußert sich allenfalls noch im Herumgelunger auf Straßen und Gehwegen, in den Grafitti an den Hauswänden, weniger in geistiger Beweglichkeit und solidarischer Initiative. Stattdessen hat der Profit das Ruder übernommen. Längst ist es wichtiger geworden, dass der eigene Laden läuft, sich selbst darzustellen, als dass die Nachbarn in ihren Wohnungen ruhig schlafen können. Schmutz und Lärm aus unzähligen Clubs und Restaurants verlangen den Bewohnern immer mehr Nervenstärke und Kompromissbereitschaft ab. Viele der Menschen, die damals für den Erhalt eines Gemeinwesens kämpften, sind lange schon fort. Geflohen vor dem Moloch, den die Entourage der Modernisierung und Erneuerung erschuf – auch gern als Gentrifizierung bezeichnet. Die alten Idealisten von damals – sie waren machtlos gegen die gewaltige Sogkraft des Geldes und gegen das Besitzdenken, sie passten sich an oder warfen schließlich ernüchtert das Handtuch.

„Auf der Wiese der Hoffnung weiden viele Narren“… noch so ein altes russisches Sprichwort. Sie haben wirklich geglaubt, sie könnten die Neustadt retten und die weitere Entwicklung des Viertels dauerhaft im Sinne des Gemeinwesens gestalten. Und scheiterten, nachdem die DDR Geschichte war und andere den neuen Zeitgeist für sich arbeiten ließen. Sie brauchten gar nicht viel dafür zu tun. Fast schon ein – wenn auch trauriges – Musterbeispiel für die Systematik des Kapitalismus, das jedem sowjetischen Sachbuch über den Marxismus-Leninismus zur Ehre gereicht hätte.

So viel dazu, wie der Lauf der Dinge sich manchmal auf unschöne Weise verselbständigt. Wirklich schändlich aber ist der teils schmutzige Kampf um die verbliebenen Ressourcen im fast totgespielten Viertel. Mit dem Tempo, mit dem die letzten Freiflächen mit Wohnhäusern vollgestopft werden, wächst auch das Gerangel um Vorrechte, Besitzansprüche und Deutungshoheiten. Wer war zuerst da? Bewohner oder Kneipen? Es ist verlockend, auf den Neustadt-Express aufzuspringen, der mit so originell klingenden Attributen wie „alternativ“ und „Szeneviertel“ mit Werten für sich wirbt, die längst an den Rand gedrängt wurden vom routinierten Alltag eines Handels- und Geschäftsviertels. Wohnungen werden immer teurer – und die Clubs immer lauter, um sich gegen die wachsende Konkurrenz durchzusetzen. Was ironischerweise immer seltener gelingt. Ihre Gäste kommen oft von außerhalb und treiben die Einheimischen nachts mit Gegröhle und Gelächter und am nächsten Morgen durch ihre zahlreichen Hinterlassenschaften in Straßen und Höfen in den Wahnsinn. Die Clubs selbst wiederum rauben den Anwohnern mit allnächtlichem Bass-Gedröhn den Schlaf. Es ist mir ein Rätsel, warum so viele Leute das mehr oder weniger klaglos über sich ergehen lassen. Zu Zeiten unseres guten alten Leonid Iljitsch wären solche Chaoten im Arbeitslager gelandet. Doch wer sich in der Neustadt beschwert, der sieht sich sofortigen Überprüfungen auf „Stallgeruch“ ausgesetzt: Wieso ziehst DU hierher, wenn’s dir hier bei UNS nicht gefällt? Wenn DIR egal ist, was WIR hier geschaffen haben? Da wird von „Kulturschutz“ gefaselt, wo eigentlich der Schutz der eigenen Geschäftsinteressen gemeint ist, die möglichst unbehelligt bleiben sollen von den berechtigten Interessen der Anwohner. Und wenn wir schon dabei sind: Ja, die Bewohner waren zuerst da! Als ich in die Neustadt kam 1988, da gab es eine Handvoll Kneipen, die ohne die Menschen im Viertel aufgeschmissen gewesen wären, und ansonsten einfach Menschen, die hier lebten und versuchten, das Beste draus zu machen. MITEINANDER, nicht gegeneinander. Heute dagegen sind den Kneipiers die Anwohner meist herzlich egal, interessant ist vielmehr, dass die hauptsächlich auswärtigen Gäste genug Platz zum Parken haben und die Musik möglichst bis fünf Uhr morgens auf voller Lautstärke laufen kann, damit die Bude voll bleibt und der Rubel rollt.

 

Um ehrlich zu sein: Die Leute, die hier heute wohnen, haben mein Deutschen-Bild erneut nachhaltig erschüttert. Diesmal zum Negativen Ich dachte immer, die Deutschen wären ein kluges, kultiviertes Volk. Aber das Geld und der Profit haben sie zu willenlosen Sklaven gemacht, die fast ausschließlich an sich selbst und das eigene Fortkommen denken. Kaum irgendwo lässt sich das anschaulicher beobachten wie in der Dresdner Neustadt.

Drei Jahre nachdem ich aus Deutschland nach Hause zurückkehrte, putschten die Reformisten um Boris Jelzin gegen die Kommunisten. Eines ihrer Hautquartiere lag nur ein paar Hundert Kilometer südlich von Sewerouralsk, in Swerdlowsk, dem heutigen Jekaterinburg. Vor sechs Jahren bin ich mit der Frau in einen Vorort Jekaterinburgs gezogen, um im Alter doch etwas näher an den medizinischen Versorgungszentren und bei den Kindern zu sein, von denen zwei schon seit Langem in Jekaterinburg leben. Sadovny hat etwas mehr als 3000 Einwohner. Es gibt im Zentrum einen kleinen Boulevard mit einigen netten Geschäften, Cafés. Wenn ich mit meiner Frau abends ausgehe, dann kehren wir in Ninotschkas kleiner Wirtschaft an der Baltym ein. Im Grunde ist hier auch 25 Jahre nach dem Ende des Kommunismus noch alles wie eh und je, nur die neuen Häuser hinter dem Teich zeugen von der Veränderung. Viele neureiche Jekaterinburger bauen sich hier draußen im Grünen ihre Wochenendsitze. Aber das ist nicht vergleichbar mit den Eintwicklungen in Dresden, der Stadt, in der ich zwei Jahre meiner Jugend zubrachte. Als ich nun von einem Besuch, auf den ich mich gefreut hatte wie ein kleines Kind und den ich im Großen und Ganzen auch sehr genossen habe, wurde mir eines klar: wie glücklich ich in meiner kleinen, dörflichen Welt doch bin, wo sich die Menschen gegenseitig achten, einander helfen und sich vor allem als Menschen betrachten, nicht als Kaufkraftfaktor.

Ostwindkinder – in den Weiten Russlands verschwunden, nach Europa verschleppt? Vermisst: Danil Beliy (12)

Kind sein in Russland ist nicht einfach. 25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion sterben fast 1800 Mädchen und Jungen unter 18 Jahren jedes Jahr einen gewaltsamen Tod. Zum Vergleich: Bei mehr als halb so vielen Einwohnern sterben in Deutschland jährlich circa 150 Kinder infolge eines Verbrechens. Sie werden Opfer von häuslicher uns sexueller Gewalt mit Todesfolge oder einfach umgebracht. Jedes zweite in dem größten Land der Erde begangene Sexualverbrechen wurde 2009 gegen Kinder verübt. Dabei besonders erschreckend: Jeder dritte Fall bleibt ungeklärt. In einem Land, in dem die Aufklärungsrate von Verbrechen allgemein bei unter 30 Prozent liegt, wenig verwunderlich. 2008 waren zudem mehr als 120000 Kinder erwiesenermaßen Gewalt und Misshandlungen ausgesetzt – die Dunkelziffer dürfte erfahrungsgemäß weitaus höher liegen. Nach mehr als 12000 Minderjährigen wird in Russland ständigt gesucht,  oft gelten sie bereits seit Jahren als vermisst. Mangelnde Präventions- und Aufklärungsarbeit in den Schulen, kaum Wissen über Sexualität sowie die sich seit dem Niedergang der Sowjetunion stetig verschlechternde soziale Lage vieler russischer Kinder außerhalb der großen Entwicklungszentren sorgen dafür, dass sie häufig leichte Opfer sind.

Gleichzeitig blüht in Europa, vor allem in Italien und den Niederlanden, aber auch in Deutschland, der Kinderhandel, insbesondere zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung. Schätzungsweise 80 Prozent aller in Deutschland ausgebeuteten Kinder stammen aus Osteuropa und den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Ihre Spur verliert sich zumeist im Niemandsland zwischen EU und Resteuropa. Derweil suchen ihre Eltern häufig immer noch über soziale Netzwerke nach ihren verschwundenen Kindern. In meinem Blog möchte ich diesen kleinen, gequälten Seelen einen Platz einräumen. In unregelmäßigen Abständen werden hier Suchmeldungen in Russland und anderen postsowjetischen Staaten vermisster Kinder veröffentlicht. Wer die abgebildeten Mädchen und Jungen gesehen hat, glaubt, gesehen zu haben, egal wie wenig realistisch dies scheinen mag – bitte melden Sie sich. Sie können mir eine E-Mail schreiben oder sich direkt an die betreffende Polizeidienststelle vor Ort wenden. Daten und Informationen werden streng vertraulich behandelt und nur im Einverständnis der Zeugen an Ermittlungsbehörden weitergereicht. Vielen Dank für Ihre Mithilfe.

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DANIL BELIY – geboren 14. Januar 2002 – heute 12/13 Jahre alt

Danil zu Hause vor seinem Verschwinden. Diese Jacke trug er auch, als er vermutlich gekidnappt wurde.
Danil zu Hause vor seinem Verschwinden. Diese Jacke trug er auch, als er vermutlich gekidnappt wurde.

Danil Beliy, genannt Danja, verschwand am 2. Mai 2012 auf dem Weg zum Schulbus in der Ortschaft Bolschaja Kusminka, Bezirk Lipezk, Lipezker Gebiet. Die Großstadt Lipezk liegt in Südwestrussland, rund 400 Kilometer südöstlich von Moskau. Damals war Danja zehn Jahre alt. Laut Aussage seiner Mutter ging der schlanke, etwa 1,40 Meter große Junge gegen 12 Uhr am Mittag aus dem Haus, um mit dem Schulbus zur Schule zu fahren – kam dort aber nie an. Seine Spur verliert sich an der Bushaltestelle. Zeugen haben den Jungen gesehen, wie er zur Haltestelle ging. Doch der Bus fuhr ohne Danja ab.

Danil Beliy zwei Monate bevor er verschwand.
Danil Beliy zwei Monate bevor er verschwand.

Danil hatte zum Zeitpunkt seines Verschwindens kurze mittelblonde Haare und trug ein blaues Hemd mit weißen Streifen, schwarze Hosen, eine schwarze Jacke mit dem weißen Schriftzug „Adidas“ darauf und eine Schirmmütze aus Jeansstoff. Das Kind trug zudem einen schwarzen Schulranzen mit Adidas-Aufschrift bei sich.
Danil hat braune Augen und auffällige Sommersprossen im Gesicht.

Danil ist heute knapp 13 Jahre alt.
Danil ist heute knapp 13 Jahre alt.

Der Junge wäre heute 12 (fast 13) Jahre alt und könnte 1,50 bis 1,60 Meter groß und schlank sein. Wahrscheinlich spricht er ausschließlich Russisch, eventuell gebrochen Deutsch oder eine andere Sprache. Seine Mutter, sein Vater, sein Großvater und seine kleine Schwester hoffen sehnsüchtig auf seine Rückkehr. Mit Stand 30. Oktober 2014 ist Danil noch immer vermisst. Danil ist ein hübsches Kind und kann leicht Opfer von Menschen- oder Kinderpornohändlern geworden sein, die ihn nach Europa verschleppt haben, um ihn sexuell auszubeuten. Womöglich hält er sich heute in Deutschland auf oder wurde hier zeitweise festgehalten. Wer Angaben zu seinem Verbleib machen kann, glaubt ihn gesehen zu haben – bitte melden Sie sich. Jeder Hinweis kann helfen, dieses Kind wieder zurück zu seinen Eltern zu bringen.