Ein junger Mann steht am Düsseldorfer Hauptbahnhof am Bahnsteig. Plötzlich Tumulte: ein scheinbar Irrer schlägt wahllos mit einer Axt auf die Wartenden ein, nachdem er zuvor bereits in einem Zug wildfremde Passagiere attackiert hatte. Der junge Mann wird am Kopf getroffen, schwerz verletzt. In einem Krankenhaus verlegt man ihn ins künstliche Koma, um sein Leben zu retten. Seine Mutter eilt an sein Krankenbett. An dieser Stelle machen wir kurz einen Punkt.
Versetzen Sie sich in die Lage der Mutter. Sie sind die Mutter dieses schwer verletzten Jungen. Sie stehen verzweifelt an seinem Bett. Was fühlen Sie? Was geht Ihnen durch den Kopf? Was tun Sie? Vermutlich weinen sie. Sie sprechen mit Ihrem Kind, mit den Ärzten, telefonieren vielleicht mit besorgten Verwandten und fragen sich sehr wahrscheinlich „Warum? Warum mein Kind?“ Vielleicht empfinde Sie auch Wut, Hass auf den Täter. Alles ganz normale Empfindungen in einer solchen extremen Stresssituation.

Vermutlich hat auch die Mutter von Domenico L. (31) all das getan. Denn den Fall gibt es wirklich. Domenico L. wird am Donnerstagabend gegen 21 Uhr am Kopf getroffen, von der Axt in den Händen von Fatmir H. Fatmir, dem „Glücklichen“. Domenico L. kämpft in der Klinik um sein Leben. Doch seine Mutter Claudia L. tut noch etwas anderes. Sie fotografiert ihren erwachsenen Sohn in seinem Überlebenskampf. Hilflos liegt der junge Mann im Pflegebett, intubiert, angeschlossen an eine Beamtungsmaschine, im tiefen Koma. Das Gesicht von den medizinischen Maßnahmen, die sein Leben retten sollen, entstellt. Die Mutter hält ihm das Handy direkt ins Gesicht. Doch es ist kein privates Erinnerungsfoto an einen schlimmen Moment. Claudia L. lädt dieses Foto auf ihrem Facebook-Profil hoch. Darunter der Kommentar:
So liegt mein Sohn Domenico in der Uni auf der Intensivstation…
Amoklauf in Düsseldorf am HBF
Man hat ihm von hinten eine Axt in den Kopf geschlagen… Wurde lange operiert
Die Medien spielen alles runter
Das ist schlimm und unverständlich
Ihr dürft das auch gerne teilen …
Ich Liebe Dich mein Sohn
Und es wird geteilt. Binnen weniger Stunden über 160000 Mal. Fast 40000 Menschen klicken auf „like“, 23000 hinterlassen einen Kommentar. Und in den Kommentaren wird neben Mitgefühl und Genesungswünschen vor allem auch eines zum Ausdruck gebracht: Unverständnis und Empörung.
Warum tut eine Mutter das? Domenico L. wurde nicht gefragt, ob er in einem solchen Zustand der Hilflosigkeit und Verletzlichkeit über die Bildschirme von Hunderttausenden flimmern will. All diese Menschen können sein deformiertes Antlitz mit dem Tubus im aufgesperrten Mund downloaden, speichern und es theoretisch auch für eigene Zwecke benutzen – ohne, dass Domenico L. davon etwas weiß oder dazu sein Einverständnis gegeben hätte. Es sind Tatsachen, die geschaffen wurden durch einen einzigen Klick, und die auch nicht wieder rückgängig zu machen sind. Würden Sie das an seiner Stelle wollen? Würde ich es wollen? Mitnichten. Genau genommen könnte Domenico L. seine Mutter auf Schadenersatz verklagen.
Dennoch gibt es zahlreiche Stimmen, die das Vorgehen der Mutter verteidigen. Das sei ihr gutes Recht, die Kritiker „herzlos“ und sich zu „Richtern“ aufschwingend – empörte sich etwa der Russland-kritische Journalist Boris Reitschuster auf seinem Facebook-Profil – und bekam dafür u.a. Beifall von Erika Steinbach, bis 2014 Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, just aus der CDU ausgetreten und immer ausgeprägter ausgesprochene Affinität für Positionen der rechtsnationalen AfD an den Tag legend.
Doch ist es wirklich das „gute Recht“ von Claudia L., ihren schwer verletzten Sohn vor der halben Welt ohne seine Zustimmung zur Schau zu stellen? Nein. Und gerade ein Journalist sollte das wie kaum ein Zweiter wissen. Die Veröffentlichung von Fotos einer Privatperson in den Medien bedarf IMMER der vorherigen Zustimmung derselben. Domenico L. konnte die aber aufgrund seines Zustandes nicht geben. Umso schlimmer, wenn man um den Umstand weiß, dass gerade ein out-of-control-Medium wie Facebook solche Fehltritte nicht verzeiht.
Aber warum tat sie es? Stand sie tatsächlich einfach nur „unter Schock“, wie viele Fürsprecher mutmaßen. Sehr wahrscheinlich stand und steht sie als Mutter des Opfers unter starkem Stress, ohne Frage sogar. Doch sie war nicht schockiert genug, um eine ganz klare Botschaft zu senden. Und sie nahm das Foto auch bis jetzt nicht vom Netz, auch dann nicht, als sich der erste Schock längst hätte gelegt haben müssen. Im Gegenteil, offenbar war Claudia L. in ihrem Tun sogar ausgesprochen reflektiert.
Ein Fingerzeig in Richtung ihrer möglichen Motive könnte der Passus im Kommentar sein, der auf die vermeintliche Beschönigungstaktik der Medien abzielt („Die Medien spielen alles runter“). Hört man da den altbekannten „Lügenpresse“-Vorwurf klingeln? Ein genauerer Blick in das Profil von Claudia L. zeigt: Die Frau teilt immer wieder rechte Parolen, die u.a. syrische Flüchtlinge als „feige Dreckschweine“ schmähen oder sie als Sozialschmarotzer darstellen, die vom Staat gegenüber Deutschen bevorzugt werden. Viele der „Liker“ zeigen ebenfalls diese erstaunliche Vorliebe für fremdenfeindliche Positionen.
Am Ende hat Claudia L. ihren schrecklich zugerichteten Sohn einfach nur benutzt. Sie hat sein Schicksal instrumentalisiert, um Stimmung zu machen – gegen die Medien, gegen Flüchtlinge. Denn inzwischen weiß jeder (über die angeblich herunterspielenden Medien übrigens), dass der Täter Fatmir H. heißt und aus dem Kosovo stammt. Die Kommentatoren sowohl in L.s Profil als auch in dem von Boris Reitschuster werden denn auch nicht müde, auf dessen vermeintliche muslimische Religionszugehörigkeit anzuspielen. Dabei dürfte die so irrelevant für die Tat selbst gewesen sein, wie sie es nur sein kann – denn Fatmir H. ist psychisch krank, leidet offenbar unter paranoider Schizophrenie (entsprechende Hinweise wurden in seiner Wohnung gefunden). Aber vermutlich besteht das Herunterspielen durch die Medien allein schon in der Tatsache, dass sie diesen möglichen Tathintergrund überhaupt erwähnen.
Und so komme ich noch einmal auf meine eingangs formulierten Fragen zurück: Hätten Sie am Krankenbett Ihres schwer verletzten Sohnes dasselbe getan? Hätten Sie Ihr Handy gezückt, ihm ins Gesicht fotografiert und dieses Bild gegen ein paar Likes Hunderttausendfach verbreitet, unter wildfremde Menschen? Um ehrlich zu sein: Mir wäre nicht einmal der Gedanke gekommen vor lauter Sorge und Verzweiflung. Hat das also etwas mit Trauer zu tun? Mit Entsetzen? Mit Schock?, wie Boris Reitschuster meint, wenn er schreibt:
Darf man eine Frau, die derartiges erlebt, attackieren, weil sie ihren Schock, ihre Trauer und ihr Entsetzen in einer Form kundtut …? Sie zu beschimpfen, sie verstoße damit gegen Persönlichkeitsrechte, halte ich für herzlos. … Wer die Mutter so angreift, will wohl das Leid nicht sehen, und ist innerlich sauer auf sie, dass sie ihn nicht verschont von diesem Entsetzen…
Also zunächst mal muss festgehalten werden, dass die überwiegende Mehrheit der Kritiker die Frau keinesfalls „attackiert“ hat. Vielmehr übten die meisten ausgesprochen sachlich Kritik an der Zurschaustellung des eigenen Sohnes, die selbstverständlich gegen dessen Persönlichkeitsrechte verstößt. Dies festzustellen ist für sich weder herzlos noch ist es ein Angriff auf die Mutter. Insgesamt wird man hier das Gefühl nicht los, als ginge es Reitschuster gar nicht um die Frau und schon gar nicht um den Sohn, sondern als ginge es hier vielmehr um eine persönliche Sache, so viel Herzblut, so viel Emotion legt der weithin bekannte Journalist (u.a. Focus, Huffington Post), in seine Anklage. Das ist gerade vor dem Hintergrund umso weniger zu verstehen, als es den Kritikern der Mutter ja gerade um das Opfer geht, das nicht für sich selbst sprechen kann. Schwingt sich jemand „zum Richter“ über Menschenwürde und Trauerkultur auf, der in erster Linie die Interessen des Hilfslosen im Auge hat, die versuchen, sich in SEINE Lage zu versetzen in dem Moment, in dem er erkennt, dass sein Gesicht bundesweit wie ein bunter Hund für den Inbegriff eines hilflosen Opfers steht? Oder schwingt sich nicht eher Boris Reitschuster zum Richter über die öffentliche Meinung auf?
Nach seiner Auffassung stellt Claudia L. mit dieser Aktion nicht ihren Sohn, sondern „den Täter“ bloß. Einen Täter, der wohlgemerkt psychisch krank ist und damit sehr wahrscheinlich nicht einmal mehr eine Erinnerung an seine Tat haben wird, sobald seine Medikamentierung wieder richtig eingestellt ist. Aber das scheint Reitschuster nicht mal eine Überlegung wert zu sein, ebenso wenig wie die offen rechtsgerichteten, fremdenfeindlichen Ergüsse von Claudia L. in ihrem Facebook-Profil: Den Post, den L. teilte, in dem syrische Flüchtlinge als „feige Dreckschweine“ diffamiert werden, wertete der Journalist in seinem Facebook-Profil gar scheinbar völlig realitätsvergessen als „abweichende Meinung“, denjenigen, die ihre rechte Gesinnung problematisieren, wirft er hingegen „Hate speech“ vor, sodass man sich ernstlich fragt, was ihn da eigentlich geritten haben mag. Er selbst glaubt sich derweil fest „auf der Seite der Menschlichkeit“. Auf das eigentliche Opfer scheint die aber mitnichten abzustrahlen.
Tatsächlich gibt es keinen Grund, der moralisch irgendwie haltbar wäre, warum man sein eigenes Kind derart bloßstellen müsste. Dieses Foto nützt niemandem etwas, außer der Mutter, die sich darüber inszenieren kann. Niemand wird deswegen irgendwie mehr wissen, mehr verstehen von dem, was da in Düsseldorf passierte. Stattdessen werden Hass und Angst geschürt. 40000 Likes – das gibt es nicht alle Tage. Keine der rechten Hetzparolen, die Claudia L. hin und wieder postete, brachte eine solche Resonanz. Facebook ist in erster Linie ein Medium. Aber schon an zweiter Stelle folgt das Machtpotenzial. Likes und Kommentare verleihen dem eigenen Anliegen Schlagkraft. Und dass es genau die Wirkung zeitigt, zeigt die Tatsache, dass schon nach wenigen Stunden zahlreiche offen rechtsextrem daherkommenden Profile das Foto von Domenico L. breit streuen – mit eindeutigen Botschaften versehen. Auch das islamophobe Hetzportal Politically Incorrect, das der rechtsextremen Pro-Bewegung zuzurechnen ist, hat den Facebook-Eintrag von Claudia L. bereits wohlwollend aufgegriffen – und schlägt dabei erstaunlicherweise in dieselbe Kerbe wie Reitschuster: Die Mutter gebe „den Opfern ein Gesicht“, heißt es dort. Und auch die Kommentare direkt unter dem Foto sprechen nicht selten eine deutliche Sprache. Hier ein paar Zitate:
Gute Besserung an dein Sohn wir sollten zusammen halten zusammen auf die Straße gehen und sie platt machen damit nicht noch mal so etwas passiert. Kilian W.
Der Linksextremismus versucht nun wie immer die Wahrheit unter den Tisch zu kehren. Lassen Sie das nicht gechehen. Die Wahrheit muss auf den Tisch. Die Globalisten setzen uns mit ihrem Multikulti unglaublichen Gefahren aus. Wolle S.
Wir haben eben zensierte Berichterstattung!!!!
Das Volk soll dumm gehalten werden!!! Andreas F.
Bedenklich, dass Reitschuster, der selbst nicht müde wird, fehlende Meinungsfreiheit und Repression in Russland anzuprangern, von einem „Pranger“ spricht, an den Kritiker dieses Vorgehens die Mutter stellten, davon, dass jene, die solche Zusammenhänge ansprechen, doch besser „den Mund halten“ sollten, wenn sie der Mutter „nicht einfach sein Beileid aussprechen“ könnten. Ich frage mich die ganze Zeit, ob seine Reaktion ähnlich engagiert zugunsten der Mutter ausgefallen wäre, hätte es sich um eine pro-russisch eingestellte Mutter aus Donezk gehandelt, deren Sohn im Zuge von Kampfhandlungen durch eine ukrainische Granate verletzt wurde. Ich denke, in diesem Fall wäre die Zurschaustellung bei Reitschuster wohl eher in der Kategorie „Propaganda“ gelaufen. Und er hätte sehr wahrscheinlich damit richtig gelegen.