
Margot Käßmann wirkt sympathisch. Jung und dynamisch für ihr Alter. Und sie steht gern im Mittelpunkt – nicht nur auf der Kirchenkanzel, umgeben von ihren Schäfchen. Wenn man sie so hört, denkt man, dass sie eigentlich auch gerne Politikerin geworden wäre oder Politikwissenschaftlerin oder beides. Sie redet gern und liebt das Gefühl, „gegen den Strom“ zu schwimmen. Schon deshalb mag ich sie. Bei uns in der Sowjetunion gibt es solche Frauen nicht. Die wenigen solcher Art sitzen im Gefängnis oder in der Irrenanstalt. Selbst jetzt, in der Zeit der Perestroika, trauen sich die Frauen nur langsam, offen ihre Meinung zu sagen, geschweige denn, dass es Pfarrerinnen gäbe – wir stehen hier nicht auf Kirche. Es sei denn, sie lassen sich zu Schwimmhallen oder Kulturhäusern umfunktionieren.
Jetzt haben wir 1987. In zehn Jahren schon wird alles bei uns anders sein. Da wird Wladimir Putin an die Macht kommen, die Kirchen werden wieder aus dem Boden schießen, die Menschen wieder glauben. Und Frauen werden endlich offen ihre Meinung sagen, weil wir endlich eine Demokratie sind – allerdings werden sie dafür weiterhin umgebracht, wie diese nette Dame hier. Oder diese. Die meisten Oppositionellen, die in Wladimir Putins Russland auf Brücken erschossen oder vergiftet werden oder sich mit Steinen in den Taschen selbst in einem See versenken sind übrigens doch Männer. Das muss der Fairness halber dazugesagt werden. Alles in allem wurden in Putins Russland in zehn Jahren seiner Herrschaft bis 2006 fast 600 Journalisten getötet – mehr als in allen anderen Weltmächten zusammen. Viele davon wurden aufgrund ihrer regimekritischen Haltung liquidiert. Dazu kommen die Oppositionellen. Aufgeklärt wurden diese Taten so gut wie nie. Das birgt, in Verbindung mit der Haltung, die Margot Käßmann offensichtlich gegenüber diesem Russland Wladimir Putins einnimmt, einiges ausgesprochen delikates Potenzial. Aber darauf kommen wir noch. Zunächst mehr über Putin.
30 Jahre nach der Perestroika ist vieles anders in Putins Russland. Es gibt bessere Straßen und schönere Wolkenkratzer in Moskau und Leningrad, das nun wieder St. Petersburg heißt, und Westler wie Margot Käßmann sind dort gern gesehene Gäste – solange sie keine unbequemen Fragen oder Forderungen stellen. Anlass für solche Fragen bietet sich derweil genug, denn außerhalb der Glitzerzentren und auf dem Lande verfallen die Schulen und die Krankenhäuser. Dafür gehört die Krim jetzt wieder zu Russland, und den Osten der Ukraine hat uns Wladimir quasi auch wieder beschert. 10000 Menschen sind seit März 2014 dort gestorben, vor allem Ukrainer, und Putin propagiert ungeniert wieder alte sowjetische Positionen von militärischer Stärke, Macht und vom „bösen Westen“. Aber die sympathische deutsche Pfarrerin Käßmann scheint von alledem – ganz im Sinne des neuen sowjetischen Menschen, den wir einmal erschaffen zu haben glaubten – wenig beeindruckt:
Warum eigentlich tun wir uns mit Russland so schwer?
fragt sie in der aktuellen Ausgabe des Magazins „Chrismon“. Tun sich die Deutschen „schwer“ mit Russland? Also ich finde, die Deutschen haben in den letzten 25 Jahren seit dem Fall des Eisernen Vorhangs Hervorragendes auf dem Gebiet der deutsch-russischen Aussöhnung geleistet. Klar, sie haben uns damals aus dem Land geworfen, das war zugegeben keine sehr nette Geschichte, wenn man bedenkt, dass der Amerikaner noch heute in Deutschland steht. Aber – konnte man es ihnen wirklich verdenken, nach fast 50 Jahren Besatzung und Bevormundung? Nach Zigtausenden Toten, die das in ganz Europa kostete? Die Deutschen gaben uns vier Jahre Zeit zum geordneten Rückzug, und sie erließen uns Milliarden von Dollars an Staatsschulden. Für weitere Milliarden bauten sie Wohnungen für unsere heimkehrenden Offiziere, und weitere zig Milliarden investierten sie in unsere am Boden liegende Industrie und Wirtschaft – ohne Bedingungen, voll des Vertrauens in die künftige harmonische Koexistenz. Als es in unseren Läden nach dem Putsch 1991 und dem Ende der SU keine Lebensmittel mehr gab, schickte Deutschland Care-Pakete, um die größte Not zu lindern. Für nicht wenige waren das Ende der Sowjetunion und der freunschaftlich ausgestreckte Arm Europas der Beginn eines neuen Lebens in Wohlstand und Selbstbestimmung.
Kurzum, wenn man es sich recht überlegt, dann hat das postsowjetische Russland Deutschland, Europa und auch den USA im wesentlichen das zu verdanken, was es heute ist. Die Ukraine, nach der Putin heute wieder giert, hat ihre Atomwaffen abgeschafft, um Russland Sicherheit zu garantieren – und Russland sicherte ihr im Gegenzug die Unantastbarkeit ihrer Grenzen zu. Da waren die Ukrainer ja ganz schön naiv, uns alten Sowjet-Haudegen zu vertrauen. Heute haben sie den Salat. Und Margot Kässmann fragt:
Wer für eine Aussöhnung mit Russland ist, auf den prasseln antirussische Reflexe nieder. Warum eigentlich? … Wer erklärt, Russland gehöre doch am Ende zu Europa, wird mit Kritik an Präsident Wladimir Putin konfrontiert, als sei Putin das eigentliche Russland. Und wer fragt, ob US-geführte Militärmanöver in der Westukraine friedensdienlich sind, wird schnell als naive Russlandversteherin abgestempelt.
Liebe Frau Käßmann, lassen Sie sich’s von einem alten sowjetischen Gefreiten sagen: Sie SIND offensichtlich eine naive Russlandversteherin. Wobei das Wort nicht meint, dass Sie Russland tatsächlich verstanden hätten, sondern dass ihnen irgendeine andere Agenda vorgibt, es in einer gewissen Weise verstehen zu müssen, weil das für Sie auf die eine oder andere Art opportun scheint. Die Realität wird dabei teilweise ausgeblendet bzw. gefiltert wahrgenommen. So scheint Margot Käßmann als Reformationsbotschafterin der Evangelischen Kirche in Deutschland im 500. Jahr der Reformation in Russland offenbar auch ganz eigene Ambitionen zu verfolgen. Klar, in einem Land, in dem die Orthodoxie zu nie gekannter Macht gelangt ist, hat es die Reformation natürlich schwer. So schwer, dass man schon mal über das eine oder andere schreiende Unrecht hinwegsehen kann, um sich möglichst eigene Kanäle in Russland nicht zu verbauen? Dann allerdings wäre die Stellungnahme Käßmanns als Herausgerberin des Chrismon schon mehr als scheinheilig, um nicht zu sagen – verlogen. Denn am Ende geht es gar nicht um wahre Versöhnung, sondern um Reformation.
Wer meint, man könne politische Differenzen zwischen der EU und Russland allen Ernstes ohne Wladimir Putin ausräumen, sich also „aussöhnen“, ohne Putins Politik dabei zu berücksichtigen, der muss schon sehr naiv sein – oder aber er verwischt die Konturen ganz bewusst. Im Grund könnte Margot Käßmann auf dieselbe Weise auch nach einer Versöhnung mit Erich Honecker oder Nikolae Ceaucescu fragen. Auf politischer Ebene IST Wladimir Putin „das eigentliche Russland“ – oder mit wem wollen Sie sich da an einen Tisch setzen, Frau Käßmann? Was genau verstehen Sie unter Versöhnung mit Russland? Mich als alten Sowjet erstaunt es nicht wirklich, dass genau diese wichtigen Erhellungen in Käßmanns Beitrag fehlen.
Mit Russland können Sie nicht verhandeln oder diskutieren, da müssen Sie schon mit seinem Staatschef vorliebnehmen. Ein Mann, der sein Land seit 20 Jahren autoritär regiert, sich das Territorium eines souveränen Staates unter den Nagel reißt, diesen Staat zudem hinterrücks überfällt und teilweise besetzt, halb Syrien in Schutt und Asche bombt und damit die Flüchtlingskrise in Europa verstärkt, den US-Wahlkampf zugunsten eines Putin-Freundes manipuliert und der nicht zuletzt seit Jahren faschistische Organisationen und Parteien in ganz Europa unterstützt, um die EU zu schwächen – aber schuld am schlechten Verhältnis, am „neuen Kalten Krieg“, ist am Ende der Westen. Holla, Frau Käßmann, Sie hätten es bei uns ziemlich weit bringen können. Sogar unserem seligen Leonid Iljitsch hätten Sie mit solch einer ideologisch strammen Sichtweise wahrscheinlich große Freude bereitet.
Hm. Da fragt man sich: Warum tut eine so potent und belesen wirkende Frau wie Margot Käßmann das? Ist Sie nicht Christin quasi qua Berufung? Sollten Ihre Welt so hehre Tugenden wie Menschlichkeit, Friedensliebe, Toleranz und Gleichberechtigung sein? Wie aber, so muss man Frau Käßmann nach solch einem Statement schon fragen, lässt sich das vereinbaren mit einem System der Feindseligkeit gegenüber allem, was irgendwie anders ist, das Putin in seinem Russland errichtet hat? Seien es Homosexuelle, Frauen, Minderheiten oder Oppositionelle – in kaum einer der 20 großen Industrienationen dieser Welt haben sie solch einen schweren Stand wie in Russland. Wie kann Frau Käßmann denn darüber einfach hinwegsehen? Über die 10000 Toten in der Ukraine? Das Leid der Menschen in Syrien, an dem Russland seinen maßgeblichen Anteil hat? Reicht es wirklich dazu, auf die Verbrechen der Amerikaner im Irak hinzuweisen? Macht das irgendetwas ungeschehen?
Kann wahre Versöhnung auf solch tönernen Füßen überhaupt existieren? Umso verwunderlicher solch ein Standpunkt, wenn man bedenkt, dass genau das ja schon vor 25 Jahren nicht funktioniert hat: Versöhnung mit Russland, ohne innere Aufarbeitung und Erneuerung nach der Sowjet-Ära – sieht der Westen denn nicht, dass genau das der Hauptgrund für das heutige Wiederaufflammen des Kalten Krieges ist? Das Feuer löscht man nicht, indem man die Glut schwelen lässt. Dabei müssten das doch gerade die Deutschen besonders gut wissen. Und somit auch Frau Käßmann.
Und da ist abschließend noch etwas, das mich erstaunt den Kopf schütteln lässt:
Natürlich gehören Europa und Russland zusammen.
konstatiert Frau Käßmann scheinbar weltentrückt und freimütig in ihrer Kolumne. In der Sowjetunion gibt es nicht wenige, die sie für solch eine Aussage gerne lynchen würden – weil sie hier von vielen noch immer als Affront, als Kriegserklärung verstanden wird. In Putins Russland aber, das sich beinahe noch stärker als die Sowjetunion von Europa abgrenzt (weil sein Territorium auf europäischem Boden deutlich kleiner geworden ist), dürften es derer noch ein paar mehr geworden sein.