Die rechtsextreme NPD darf fortbestehen. So hat es das Bundesverfassungsgericht am gestrigen Tage (17. Januar 2017) entschieden. Verfassungsfeindlich, antidemokratisch, ausländerfeindlich, ihre Überzeugungen zu guten Teilen aus dem Nationalsozialismus entlehnt – und doch politisch so unbedeutend, dass für unsere Demokratie von ihr keine Gefahr ausgeht. Wer sich mit der Geschichte unseres Landes und unseres politischen Systems befasst hat, für den war dieses Urteil absehbar. Gerade vor dem Hintergrund eines erstarkenden Rechtspopulismus. Insofern ist es weise und weitblickend. Unser feinsinniger sowjetischer Gefreiter hätte vermutlich mit der Zunge geschnalzt und geraunt: „Ganz schön clever für eine Gerichtsinstanz einer dem Kommunismus angeblich haushoch unterlegenen Ordnung.“
„Wegweisend“ nannte es gestern der SPIEGEL. Doch warum es das tatsächlich ist, darauf geht der Autor im Grunde gar nicht ein.
Vor allem ist das Urteil als Warnschuss in Richtung der AfD zu verstehen. Denn anders als die NPD hat sie sehr wohl einen gesellschaftlichen Anerkennungsgrad und politischen Wirkungskreis erreicht, der sie schon bald dazu ermächtigen könnte, weitgehenden politischen Einfluss zu nehmen. Das Urteil gegen die NPD lässt diese zwar fortbestehen, hat aber andererseits einen juristischen Präzedenzfall geschaffen, auf dessen Grundlage eine Partei wie die AfD irgendwann verboten werden könnte, die enge inhaltliche und strukturelle Verflechtungen mit der NPD aufweist und gleichzeitig europa- und weltweit Netzwerke aufbaut und pflegt, die im Kern die Restauration der nationalstaatlichen Vorkriegsordnung in Europa anstrebt (ohne EU, ohne NATO, mit starken Nationalstaaten), offen deren völkisch-rassistische Grundcharakteristik propagiert und unverhohlen alte Fronten wiederaufbaut, deren mühevoller Abbau Jahrzehnte dauerte. Denn ein wesentlicher Zusatz ist nun gegeben, den es etwa beim Verbot der KPD 1956 noch nicht gab, der aber sicherlich schon damals in das Urteil mit hineingespielt hatte: Die zu verbietende Partei darf nicht nur anhand ihrer Programmatik erkennbar verfassungsfeindlich sein, sie muss auch aktiv gegen das System operieren und dabei eine gewisse Schlagkraft erreicht haben, das sie – ähnlich Anfang der 30er-Jahre der NSDAP – dazu befähigt, das bestehende System gewaltsam zu zerschlagen oder aber auf parlamentarischem Wege entsprechend Einfluss auf die Bundesgesetzgebung zu nehmen.
Nur unverbesserliche Linksideologen, denen es weniger um den Erhalt unseres freiheitlich-demokratischen Systems denn um das Verfolgen eigener (verfassungsfeindlicher) Ziele und Machtansprüche geht, dürften das Urteil des 2. Senats völlig weltentrückt als „Bestätigung des Gründungsmythos der BRD“ bewerten. Ein Schelm, wer hier rhetorische Parallelen ausgerechnet zu rechtsextremen Gruppierungen wie etwa den Reichsbürgern erblickt. Auch wenn die Anhänger dieses Spektrums es nicht sehen wollen: Die Causa NPD ist eine andere als die der KPD zum Zeitpunkt ihres Verbots 1956. Das kam damals in einer Situation, da der Kalte Krieg zwischen Ost und West massiv Fahrt aufgenommen hatte und blutige Konflikte in der DDR sowie in Ungarn gezeigt hatten, dass der Machtanspruch des Kommunismus marxistisch-leninistischer Prägung aggressiver Natur war und dass hinter ihm vor allem mit der Sowjetunion auch ein ernst zu nehmender politischer Akteur stand, der explizit die kommunistische Weltherrschaft anstrebte. Die BRD bildete damals geografisch gesehen das Bollwerk des Westens gegen den Ostblock mit direkten Grenzen zur DDR und zur Tschechoslowakei, wo bereits marxistisch-leninistische Regime etabliert waren. Die KPD fungierte seinerzeit als kämpferisches Sprachrohr und verlängerter Arm Moskaus in Westdeutschland. Erst kurz vor dem Urteil des Verfassungsgerichts im Sommer 1956 entfernte sie mit dem „revolutionären Sturz des Adenauer-Regimes“ eines ihrer erklärten politischen Hauptziele aus ihrem Programm. Nichts dergleichen findet sich heute im NPD-Programm und auch nichts dergleichen wäre da, auf das sich die NPD sützen könnte. Kein mächtiger Potentat, der die faschistische Weltrevolution anstrebte. Und anders als die KPD, die 1949 noch im Bundestag vertreten war, schaffte die NPD dies bislang nicht mal ansatzweise.
Politisch erwies sich das Verbot der KPD seinerzeit dennoch als Fehler. Es zwang deren politische Arbeit in den Untergrund und erschwerte sie somit erheblich. Das von ihr vertretene und transportierte revolutionäre Gedankengut aber wurde mit dem Verbot nicht ausgelöscht. Im Gegenteil, es hatte vielmehr eine Radikalisierung bestimmter Kreise ihrer Anhängerschaft zur Folge. So war die Außerparlamentarische Opposition (APO) eine jener Gruppierungen, die auch auf Initiative von ehemaligen KPDlern entstanden, wie etwa deren einstigem Mitbegründer und späteren taz-Journalisten Christian Semler. In den von der APO maßgeblich organisierten Studentenrevolten ab Mitte der 60er-Jahre entlud sich der Zorn einer Generation, die sich von Altnazis regiert und unterdrückt fühlte. Das Verbot der KPD und das langjährige Abblocken ihrer Wiederzulassung wurden als rein politische Entscheidung verstanden, die in der Fortsetzung unseliger NS-Tradition von ehemaligen Nationalsozialisten wurzelte, um den Fortbestand der eigenen Herrschaft zu sichern. All diese semirevolutionären Bewegungen fanden letztlich ihren Höhepunkt mit der Gründung der „Roten Armee Fraktion“ 1970, die sich eindeutig zum Kommunismus sowjetischer Prägung und zum bewaffneten Kampf bekannte, sich als Teil einer internationalen Bewegung verstand, die der kommunistischen Weltherrschaft zum Durchbruch verhelfen sollte. Im Nachgang steht die Frage, ob es so weit überhaupt gekommen wäre, wäre die KPD nicht verboten worden.
Haben wir also auch ein wenig aus unserer bewegten Nachkriegsgeschichte gelernt? Die NPD als kleines Übel verkraftbar, wenn mit ihrem Fortbestand eventuell verhindert werden kann, dass der Druck im Kessel steigt? Das Urteil legt diesen Schluss nahe, denn es schielt unverkennbar auch in Richtung AfD, wenn der vorsitzende Richter Hennig Voßkuhle darauf hinweist, dass „bislang“ keine andere Partei bereit sei, mit der NPD auch nur zu kooperieren. Es ist offensichtlich, dass die AfD längst als die größere Gefahr für die Demokratie in unserem Lande eingestuft wird. Und mit dieser Erkenntnis liegt man meines Erachtens nach auch richtig, denn mit ihr ist eine Dynamik enstanden, die staats-, demokratie-, europa- und menschenfeindliche Elemente aller politischen Lager aufzusaugen und zu einer neuen rechtesnationalistischen Bewegung zu werden droht, die unserem System sehr wohl gefährlich werden kann. Das haben letztlich die letzten Kommunal- und Landtagswahlen eindrucksvoll gezeigt, als viele einstige NPD-, aber eben auch viele frühere weit-links-Wähler ihr Kreuzchen neuerdings bei der AfD machten. Schmerzlich deuten sich Parallelen zu ähnlich krisengeschüttelten Zeiten Ende der 20er-/Anfang der 30er-Jahre an. Längst sind die Parallelen zur NSDAP hinsichtlich ihrer martialischen Rhetorik und psychologischen Kriegsführung nicht mehr zu übersehen. Und sie verfehlen auch heute, 80 Jahre und 70 Millionen Weltkriegstote später, ihre Wirkung nicht. Außerparlamentarisch gibt es sie zudem längst, die Kooperation zwischen AfD und NPD. Das Urteil dürfte somit auch als Schuss vor den Bug interpretiert werden: Sollte sich die Kooperation auch politisch etablieren, könnte das sowohl das Ende für die NPD bedeuten als auch der AfD bei wachsendem Einfluss gefährlich werden.