Titel der Dresdner Neuesten Nachrichten am 4. September 1939. Repro: Jannke

Von Medien und Vertrauen

Heute Morgen in der Kurilka: Eingenebelt in die vertrauten Rauchschwaden und geschützt durch die bröckelige Mauer der Panzerhalle, neben der wir hinter einem selbst gezimmerten Bretterverschlag auf ausgedienten Ural-Reifen sitzen, kommt das Gespräch im Flüsterton auf ein allgegenwertiges Thema: Den heutigen Medien könne man nicht mehr vertrauen, meint Korsakow, der es mit seinen 23 Lenzen immerhin schon zu drei ausgefallenen Zähnen und einem Ausbilderposten und damit zu einigem Einfluss geschafft hat – dafür, dass er vor der Armee in der Küche der Dorfkolchose das Essen ausgegeben hatte. Nein, vom Leben ist Korsakow wahrlich nicht geküsst. Kein Wunder, dass er freiwillig noch drei Jahre drangehängt hat. Jetzt teilt er sich mit Pinchenko ein warmes, geräumiges Zimmer im „Pinguin“, kann sich von seinem Sold so viel Fusel leisten wie er will, und selbst für eines der auf dem Schwarzmarkt erhältlichen Schmuddelheftchen aus dem Westen bleibt noch was übrig. Mit den Bildchen schmückt er die eingezogene Trennwand aus Pressholz neben seiner Koje, den Rest verhökert er zu Wucherpreisen an die Mannschaften. Dass man den Medien nicht trauen darf, darf man nicht laut sagen, jemand von Macht könnte es auf die Armeezeitung beziehen. Nur hier in der Kurilka geht das, hier darf man die Wahrheit noch aussprechen, das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Seltsamerweise suchen unsere schäbige Kurilka auch nie Leute auf, die gegen die Wahrheit sind. Die Brillenträger aus den Städten, die in die Bibliothek zum Lesen gehen statt bei Wind und Wetter mit uns hier draußen zu hocken wie echte Männer, auf die können wir gut verzichten mit ihrer versnobbten Art, ihren Fakten und Theorien und ihrem Intellektuellengewäsch. Das sagt Korsakow zumindest.

Titel der Dresdner Neuesten Nachrichten am 1. September 1939. Repro: Jannke
Titel der Dresdner Neuesten Nachrichten am 1. September 1939. Repro: Jannke

Die Wahrheit dieses Tages also kommt wie so häufig von Korsakow und lautet: Die Medien belügen uns nach Strich und Faden, sie schreiben nur dem Staate nach dem Mund, sind korrupt und gekauft, gleichgeschaltet. Früher da war das noch anders. Aber jetzt – nein, das geht auf keine Kuhhaut mehr. „Gar nicht mehr lesen, verbrennen diesen Schund!“, gröhlt Korsakow in die Runde und duckt sich im nächsten Moment in Erkenntnis seiner Unbedachtheit. Ein paar lauernde Blick nach rechts und links – die Luft ist rein, niemand hat ihn gehört. Dafür hängen die Jungs an seinen Lippen. In ihren Dörfern gibt es kaum Fernsehen oder Zeitungen. Aber Korsakows Worte machen irgendwie Sinn: Sie alle kennen das Gefühl, verraten und belogen zu werden, nur zu gut. Von wegen im Sozialismus sind alle gleich! Deshalb hausten sie selbst in den 80ern noch in windschiefen Holzhütten mit Sickergrube im Hof und schufteten sich krumm in den Minen, Stahlwerken und Kolchosen, während die Eliten in ihren Moskauer Palästen immer fetter wurden. Und auch hier war das wieder so: Für die Offiziere zog man komfortable Neubaublöcke hoch, während sie zu 80 Mann in ungeheizten Baracken hockten, in denen es durchregnete und durch die Fenster zog. Und dann all die Schwarzärsche aus Zentralasien und dem Kaukasus, die neuerdings die Westtruppe überfluteten! Wo sollte das noch hinführen?

Zwischen zwei tiefen Zügen an meiner Dukat und zwei krächzenden Hustern, die mich durchschütteln, schiebe ich das olivgrüne Schiffchen weit auf den Hinterkopf.  So kann ich besser nachdenken: Ist das wirklich so, dass man der Presse früher vertraut hat und heute nicht? Ist sie heute wirklich korrupter als früher? Und hat es eigentlich überhaupt irgendetwas mit Vertrauen zu tun, ob man eine Zeitung liest oder nicht? Und selbst wenn das Vertrauen in die Medien nachgelassen hat – ist das per se etwas Schlechtes? Neben an zerscherbelt irgendein Depp in der Teeküche ein paar Tassen. Vermutlich Rudenskij, dieser Tolpatsch von einem Küchenjungen. Das Gepolter lässt mich schlagartig auftauchen, Korsakow schimpft gerade über Newskij, den Redakteur der Regimentszeitung, den er einen „Drecksjuden“ schimpft, spuckt wütend aus und trifft dabei Frtakins Stiefelspitze.

Wo war ich stehengeblieben? Ach ja… Also, Vertrauen, das ist etwas, das ich Dingen oder Menschen entgegenbringe, auf die ich mich blind verlasse, weil ich es immer getan habe und nicht anders kenne. Vertrauen bedeutet, gar nicht erst nachdenken zu müssen, sondern einfach zu glauben. An das Gute, Aufrichtige. Ich schenke vertrauen, weil ich das Gefühl von Sicherheit, Verlässlichkeit und Bestätigung liebe. Aber ist es nicht genau das, was staatlich gelenkte Medien wollen? In Sicherheit wiegen, Vertrauen aufbauen durch Wiederholung immer derselben vermeintlichen Wahrheiten und Tatsachen, damit der Leser irgendwann nicht mehr selbst denkt? Ist es dann nicht aber ein Widerspruch in sich, den Medien einerseits vorzuwerfen, nicht vertrauenswürdig zu sein, andererseits aber zu behaupten, sie seien korrupt und staatsgesteuert, wenn blindes Vertrauen vor allem etwas ist, auf das korrupte Staatsmedien setzen? Wer den Medien vertraut, der ist doch im Prinzip selbst schuld – und damit Teil des Problems in unserem Land. Im Idealfall sollten Medien kein Vertrauen erwecken, sondern zum Nachdenken anregen.

Ich gestehe, dass ich die „Kraznaja Svezda“ auch ab und an lese, wenn wir sie zu Wandzeitungen verarbeiten sollen. Ein Lobeshymnus auf unseren Kompanieführer, von dem alle wissen, dass er ein echtes Schwein ist, das uns drangsaliert, wo es nur geht und zudem die ganz grünen Jungs zum Klauen losschickt, veranlasste mich neulich dazu, den besagten Artikel mit einem anderen aus der „Komsomolskaja Prawda“ über die neue Untersuchungskomission zu überkleben, die die Todesumstände Jurij Gagarins im Jahr 1968 aufklärt. Ja, so was schreiben die Zeitungen neuerdings nämlich. Unser Polit ist völlig ausgeflippt, riss die gesamte Wandzeitung runter und knallte sie mir um die Ohren. Ich verbrachte die nächsten drei Tage in der Guba.

Dass man der Presse nicht mehr traut, liegt das nicht vielmehr daran, dass es heute viel mehr Möglichkeiten gibt, sich zu informieren als früher? Dass es längst nicht mehr so einfach ist, Wahrheiten von oben zu verordnen? Dass die markerschütternden Veränderungen im Zuge der Perestroika in den letzten ein-zwei Jahren zu tiefer Verunsicherung geführt, unsere Gesellschaft tief gespalten haben in Gegner und Befürworter, sodass das Festhalten an unverrückbaren „Wahrheiten“ für manche im gefühlten Untergang zum einzigen Anker wird?
Könnte es also nicht auch sein, dass die Korsakows dieses Landes wütend auf diese Entwicklung sind, weil dasselbe System, das sie einst aus ihrem provinzialen Scheißloch herausholte und ihnen einen festen Platz zugewiesen hatte, auch durch die offenere mediale Berichterstattung zunehmend an Renommee einbüßt, während sich das neue einfach nur als unfähig und erniedrigend erweist? Ein Platz, der zumindest unserem Korsakow Autorität verlieh und damit Macht und um den er nun vielleicht fürchtet. Wegen der vielen Schwarzärsche zum Beispiel, die ihm diesen Platz streitig machen könnten, obwohl sie die niedersten Posten in der Armee und selbst in den einfachen Mannschaften den niedersten Status inne haben. Vielleicht hat Korsakow also einfach nur Angst. Aber nicht davor, dass das Land den Bach runtergehen könnte, sondern davor, dass die Medien so lange bohren könnten, bis sein ruhiges, geregeltes Leben in den alten Bahnen gehörig ins Wanken geraten würde? Wer will die Leiter schon gerne wieder runterklettern.

Ich komme zu dem Schluss, dass, wer seine Zeitung heute abbestellt, dies nicht etwa tut, weil die Medien heute weniger vertrauenswürdig sind als früher, sondern weil er es nicht gewohnt ist, seine bisherige Lebensrealität und damit auch sich selbst zu hinterfragen. Weil selbst die hinterwäldlerische Enge des weit abgelegenen Dorfes ihm keinen Schutz vor Veränderungen und der sie begleitenden Unsicherheit mehr bietet. Weil er sich vielmehr danach sehnt, dass ihm einfache Lösungen und ein klar identifizierter Schuldiger für die Misslagen ihres Lebens präsentiert werden, nach jemandem, der ihre Wut versteht, statt sie zu verurteilen – und die heutigen sich langsam öffnenden Medien diesem Anspruch zunehmend nicht mehr nachkommen. Er muss jetzt selbst nachdenken und abwägen, ein objektives und menschliches Urteilsvermögen entwickeln – und entscheidet sich mit abnehmendem Bildungsstand zunehmend für das wohl Vertraute am kostenlosen Dorfstammtisch oder beim Ortsgruppentreff der KP, wo die alten Werte nach wie vor uneingschränkten Bestand haben und Pluralismus und Faktentreue Teufelszeug sind.

Ich bin verwirrt über den Taumel meiner Gedanken. Der pure Defätismus ist das, sodass ich sie lieber für mich behalte. Sonst muss ich ab morgen alleine zum Rauchen – und nachts um meine Eier fürchten.

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