Kalter Krieg mit Russland: Aussöhnen durch Ausblenden?

Margot Käßmann auf dem Reformationskongress 2013. Quelle: flickr/sekfeps
Margot Käßmann auf dem Reformationskongress 2013. Quelle: flickr/sekfeps cc

Margot Käßmann wirkt sympathisch. Jung und dynamisch für ihr Alter. Und sie steht gern im Mittelpunkt – nicht nur auf der Kirchenkanzel, umgeben von ihren Schäfchen. Wenn man sie so hört, denkt man, dass sie eigentlich auch gerne Politikerin geworden wäre oder Politikwissenschaftlerin oder beides. Sie redet gern und liebt das Gefühl, „gegen den Strom“ zu schwimmen. Schon deshalb mag ich sie. Bei uns in der Sowjetunion gibt es solche Frauen nicht. Kalter Krieg mit Russland: Aussöhnen durch Ausblenden? weiterlesen

Wenn Integration mehr Leid schafft als verhindert: Bleiberecht für Familie Nikonchuk?

Sollte Familie Nikonchuk in Deutschland bleiben dürfen? Vor Monaten setzten sich Sergej (40), seine Frau Jelena (35) und die Töchter Albina (16) und Ella (14) aus Donezk in ein Flugzeug nach Deutschland. Seit eineinhalb Jahren herrscht in einem kleinen Teil der Ostukraine ein mal mehr mal weniger intensiv geführter Krieg zwischen nationalistisch-pro-russischen Rebellen, die den Donbass von der Ukraine abspalten wollen, und der ukrainischen Regierung, die ihr Staatsgebiet nicht preisgeben will. Die Millionenstadt Donezk geriet seither immer wieder zwischen die Fronten. Insbesondere 2014 war die Stadt schwer umkämpft. Zahlreiche Menschen starben – Anhänger von Regierung und Rebellen gleichermaßen. Über Wochen mussten die Bewohner teils ohne Strom in Kellern hausen, das öffentliche Leben in der Stadt brach weitgehend zusammen. Dass hier das Weite sucht, wer immer kann – verständlich. Eine absolut menschliche Reaktion. Doch rechtfertigen ein regionaler Konflikt im flächenmäßig größten Land Europas und insbesondere die aktuelle Situation vor Ort Asyl in Deutschland?

Das Herz sagt ja, der Verstand zweifelt

Aus menschlicher Perspektive ist zumindest für mich persönlich die Sache klar: Ja, sie sollten bleiben dürfen. Weil jeder Mensch sein persönliches Glück und das seiner Familie suchen dürfen sollte. Und wenn die Familie dieses meint, in Deutschland zu finden, dann sollte man sie daran nicht hindern. So wäre meine Einstellung im Normalfall. Doch der Normalfall ist in Deutschland längst dem Ausnahmezustand gewichen. Zumindest muss man diesen Eindruck gewinnen, wenn man die 24/7-Berichterstattung in den Medien zur „Flüchtlingskrise“ und die wachsende allgemeine Hysterie in der Bevölkerung verfolgt. Doch selbst, wenn man all die Stimmungsmache ausblendet: Der Fall der Nikonchuks zeigt, wie schwer es ist, zwischen Recht und Mitgefühl abzuwägen. Denn rein vom asylrechtlichen Standpunkt her ist die drohende Abschiebung in die Ukraine absolut gerechtfertigt.

Mit dieser Petition auf Change.org wirbt eine Flüchtlingshelferin um Asyl für die ukrainische Familie Nikonchuk aus Donezk. Quelle: Change.org
Mit dieser Petition auf Change.org wirbt eine Flüchtlingshelferin um Asyl für die ukrainische Familie Nikonchuk aus Donezk. Quelle: Change.org

Nach Artikel 16a unseres Grundgesetzes genießt Asylrecht in Deutschland, wer politisch verfolgt ist. Politisch verfolgt aber sind die Nikonchuks in der Ukraine nicht. Deshalb sollen sie nun zurück. Dagegen wendet sich eine der derzeit wie Pilze aus dem Boden schießenden Online-Petitionen einer Flüchtlingshelferin in der unterfränkischen Gemeinde Rauhenebrach, die für das Bleiberecht der offenbar bereits bestens integrierten Familie kämpft. Fast 50.000 Menschen (Stand 4.11.2015) haben sie bereits unterzeichnet. Und doch lohnt ein genauer Blick nach Donezk, in die Ukraine und auf das bisherige Leben der Familie Nikonchuk.

Zunächst haben die Nikonchuks getan, was viele Flüchtlinge tun: Sie tricksen oder schummeln, weil sie sich in ihrer Not nicht anders zu helfen wissen. Soweit in meinen Augen durchaus verständlich. Doch lag bei den Nikonchuks nun wirklich eine solch große Notlage vor, dass sie ihr Land zwingend verlassen mussten? Abgesehen von dem Konflikt, der unbestreitbar in ihrer Heimatregion, dem Donbass, tobt, schien es der Familie in ihrer Heimat nicht allzu schlecht zu gehen. Das Touristenvisum für Deutschland (ohne das hätten sie nicht per Flugzeug hierher gelangen können) konnten sie sich – im Gegenzug zu vielen anderen Flüchtlingen aus Dritte-Welt-Staaten – offenbar leisten. Um ein solches zu bekommen, hätten die Nikonchuks normalerweise nachweisen müssen, dass sie für die Reise- und Aufenthaltskosten in Deutschland für vier Personen eigenständig aufkommen können. Oder aber sie hätten eine Einladung aus Deutschland vorweisen müssen, im Zuge derer die Einladenden eine Bürgschaft in Höhe von mehreren Tausend Euro hätten hinterlegen müssen – um sicherzustellen, dass die Familie sich keines Vergehens schuldig macht. Was aber noch wichtiger ist: Die Antragsteller müssen sich verpflichten, vor Ablauf des Visums (in der Regel 90 Tage) zurückzukehren und im Urlaubsland keinen Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung zu stellen. Genau das taten die Nikonchuks aber anscheinend: Sie stellten in Deutschland einen Antrag auf Asyl – und der wurde nun offenbar abgelehnt. Die Petiteurin aber will das nicht akzeptieren.

„Unvorstellbare Zustände“ in Donezk?

Ist es wirklich so, dass die Menschen in Donezk täglich dem Tod ins Auge schauen, wie etwa die Menschen in Aleppo oder Damaskus, wo bis zu 80 Prozent der Bausubstanz zerstört sind und täglich mit Bombenangriffen zu rechnen ist, denen in den letzten vier Jahren allein in Aleppo 25000 Bewohner zum Opfer fielen? Nein, dem ist nicht so. Auch stimmt es schlichtweg nicht, dass – wie in der Petition beschrieben – alle Zufahrtswege in die Stadt vom ukrainischen Militär dauerhaft „blockiert“ werden oder die Kinder nicht mehr zur Schule gehen können, wie etwa dieses Video vom diesjährigen Abschlussjahrgang der 140. Donezker Schule zeigt. Das Leben in der Stadt mag noch immer nicht einfach sein, aber Gefechte, die die innerstädtischen Gebiete erreichen, gibt es dort seit dem neuerlichen Waffenstillstandsabkommen von Minsk vom Frühjahr dieses Jahres so gut wie gar nicht mehr. Getroffen werden allenfalls noch ab und an Vororte in einzelnen Scharmützeln und dann insbesondere der Flughafen von Donezk.

Werbung für Bustransfers von Donezk in verschiedene andere Städte der Region in einem russischen sozialen Netzwerk.
Werbung für Bustransfers von Donezk in verschiedene andere Städte der Region in einem russischen sozialen Netzwerk.

Auch können die Menschen die Stadt durchaus verlassen und wieder dahin zurückkehren. Reiseanbieter werben sehr plakativ mit Buspassagen zu allen möglichen Zielen innerhalb der Ukraine. Der Erfindungsgeist und Lebenswille der Menschen in der Stadt scheint unerschöpflich und man versucht, am ganz normalen Leben festzuhalten. Es ist also nicht so, dass in Donezk derzeit die Welt untergeht. Selbst die Rebellen-Propganda, die noch Anfang dieses Jahres auf Hochtouren lief und im Minuten takt (meist gefakte) Meldungen von angeblichen Kriegsverbrechen der „Kiewer Junta“ und weinenden Kindern auswarf, hat spürbar an Fahrt verloren, weil es vergleichsweise ruhig ist im Osten der Ukraine und so gut wie keine Opfer unter der Zivilbevölkerung mehr zu beklagen sind. Man müsste all diese Gräuel an der Zivilbevölkerung komplett erfinden, statt sie wie früher einfach nur aufzubauschen.

Keine Verfolgung russischer Muttersprachler in der Ukraine

Doch da ist noch etwas, das einen ins Nachdenken geraten lässt. Sowohl Sergej als auch Jelena Nikonchuk verfügen über Profile in einem sozialen Netzwerk. Dort eröffnet sich ein sorgloses Familienidyll in Fotos. Offenbar machte die Familie im extrem umkämpften Donezker Sommer 2014 noch mit Freunden Urlaub am Meer. Vermutlich auf der im März 2014 von Russland völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim, auf der sie schon früher Urlaub machten. Fluchtgedanken scheinen die Nikonchuks offenbar erst entwickelt zu haben, nachdem Kiew der Stadt und ihren Bewohnern nach der Ausrufung der Volksrepbulik Donezk durch prorussische Rebellen Ende November 2014 den Geldhahn abdrehte. Seither bleiben Banken und Geldautomaten geschlossen. Immer wieder haben Jelena und Sergej Nikonchuk zudem ihre Zustimmung zu Beiträgen abgegeben, die die Regierung in Kiew für den Krieg im Donbass verantwortlich machen. Diese – so glaubt offenbar auch Jelena Nikonchuk – habe der russischen Sprache den Krieg erklärt, statt der Korruption oder der Kriminalität. Dabei war die russische Sprache in der Ukraine zu keinem Zeitpunkt bedroht – weder durch die zeitlich von vorn herein begrenzte Übergangsregierung noch durch die im Herbst 2014 demokratisch gewählte neue Regierung Poroschenko.

Nun darf jeder seine Meinung zur Genese und zu den Verwantwortlichkeiten im Ukraine-Konflikt haben. Und sicher darf man und will ich die Familie auch nicht verurteilen dafür, dass sie sich in all diesen komplizierten und schwer zu überblickenden Wirren irgendwie eine solche bildet. Auch will ich nicht so verstanden werden, als würde ich die Familie und ihre Motive irgendwie in ein schlechtes Licht rücken wollen. Es geht mir darum, den doch sehr emotionalisierenden und teilweise regelrecht falschen Darstellungen im Petitionstext die realen Verhältnisse vor Ort gegenüberzustellen. Vielleicht sehen auch die Nikonchuks die Lage in ihrem Land mit etwas Abstand heute schon wieder ganz anders. Trotzdem stellt sich die Frage, warum man nach Europa flieht, zu dem die neue Regierung sich ja gerade hinwenden möchte, und nicht etwa ins weit näher gelegene Russland? Dort hätte man der Familie sicherlich Asyl gewährt, weil man die russischsprachigen Ukrainer als verfolgte Angehörige des eigenen Volkes betrachtet, die man schützen muss. Die deutsche Position dazu sieht bekanntlich anders aus – und genau aus diesem Grund wurde der Antrag der Nikonchuks offenbar auch abgelehnt.

Tatsächlich muss man nicht einmal das Land verlassen, wenn man der ständigen Instabilität in Donezk entkommen möchte. Die Nikonchuks hätten genauso gut nach Kiew oder in die Westukraine ausweichen können. Dort herrscht Frieden. Und es gibt auch keinen Islamischen Staat, der kopfabhauend und brandschatzend immer weiter durchs Land zieht wie in Syrien oder dem Irak. Aber aus irgendeinem Grunde wollten die Nikonchuks ihrem Land den Rücken kehren. Vielleicht wollte man einfach auch auf der aktuellen Flüchtlingswelle, die Richtung Europa treibt, mitschwimmen. Nun mag man argumentieren, dass ja auch Menschen vom Balkan aus ganz ähnlichen Gründen herkommen, und Asyl beantragen. Richtig – und aus genau denselben Gründen werden ihre Asylanträge derzeit auch fast alle abgelehnt. Und warum – so muss man vielleicht auch die 23-jährige Europastudentin Lena Schuster fragen – sollte es den Nikonchuks da anders ergehen als etwa einer Familie aus dem Kosovo? Weil sie wohlhabend sind? Gebildet? Sollte nach diesen Kriterien wirklich über Hilfe für Menschen entschieden werden, die alle gleichsam ihr Glück suchen?
Nein. Deutschland muss – und diese Ansicht unterstütze ich mittlerweile – in der Asylfrage konsequenter und gerechter sein, wenn es sein geltendes Asylrecht gerade angesichts der momentan angespannten Situation nicht vollends ad absurdum führen will.

Zuwanderung nach Proporz sorgt für steigende Asylzahlen

Warum aber ist die Situation angespannt? Weil gerade im Jahr 2014 und Anfang 2015 weit mehr Menschen wie die Nikonchuks Asyl bei uns beantragt haben, die gar kein Anrecht darauf haben, als solche, die es hätten. Auch wenn ihre Anträge bereits abgelehnt wurden, leben viele von ihnen noch immer in Deutschland in Heimen und Wohnungen und sitzen ein Widerspruchsverfahren aus. Rechtspopulisten und Rechtsextreme wie AfD oder NPD würden jetzt sofort wieder die Keule vom vermeintlichen „Asylmissbrauch“ und „Asyltourismus“ schwingen. Aber das ist eben genauso einfach gedacht, wie man es der klassischen Zielgruppe dieser Parteien maximal zumuten kann. Das eigentliche Problem liegt ganz woanders und ist ein zutiefst strukturelles. Tatsächlich ist es so, dass der Asylantrag für Menschen aus Armutsregionen und mit unterdurchschnittlicher Bildung der einzige Weg ist, überhaupt erst einmal in Deutschland „einen Fuß in die Tür“ zu bekommen. Und genau DAS ist der Systemfehler, der uns jetzt auf die Füße fällt. Nicht etwa, dass unser Zuwanderungssystem noch nicht restriktiv genug wäre – es ist vielmehr zu streng, zu exklusiv, zu selektiv, da von vorn herein Menschen ausschließend, die wir in unserer Überheblichkeit als „nutzlos“ für unser eigenes Fortkommen und damit als „wertlosen Ballast“ betrachten.

Wer aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland oder nach Europa kommen will, sollte dazu auf legalem Wege Gelegenheit bekommen – allerdings in einem gesonderten Verfahren und damit keinesfalls unkontrolliert, wie manche befürchten mögen. Und es müssen vor allem ALLE EU-Mitgliedsstaaten dabei mitziehen und entsprechende Strukturen aufbauen. Europa muss sich von seiner Vorstellung, eine elitär-exklusive Blase des Wohlstandes mit christlich-abendländischem Kulturprimat bleiben zu wollen, verabschieden. Sonst wird es sich früher oder später mit Waffengewalt gegen jene zur Wehr setzen müssen, auf deren Kosten es in anderen Regionen der Welt Interessenpolitik betreibt. Wer sich dem verweigert und einzelne Staaten die ganze Last tragen lassen will, der hat meines Erachtens nach kein Anrecht mehr auf Mitgliedschaft in einer Solidargemeinschaft und deren Privilegien.

Weil es diese Möglichkeiten der legalen Zuwanderung von außerhalb der EU aber eben gerade in Deutschland kaum gibt, wird verstärkt das Asylrecht genutzt, um die Schranken zu umgehen. Mit „Missbrauch“ hat das imho in den wenigsten Fällen etwas zu tun, eher mit Perspektivlosigkeit und dem Gefühl, im reichen Europa vor verschlossenen Pforten zu stehen. Es spielt jenen in die Hände, die aus der Not der Menschen etwa auf dem Balkan Profit schlagen und gegen den letzten Pfennig der Hoffnungsvollen einen regelrechten Exodus aus diesen Ländern organisieren. Genau das hat zu der aktuellen prekären Lage geführt, in der eigentlich Asylberechtigte in der Kälte in Zelten hausen müssen, weil die Plätze in den Aufnahmeeinrichtungen von Menschen blockiert werden, die überhaupt keinen Anspruch auf Asyl haben. So gemein das klingen mag – aber die Nikonchuks gehören dazu. Wir brauchen die Plätze in Flüchtlingsunterkünften, Integrationsklassen und Deutschkursen dringend für jene, die derzeit zu Hunderttausenden vor Krieg und Elend in unser Land fliehen und sehr wahrscheinlich für lange Zeit hier bleiben werden. Menschen, die keine Möglichkeit haben, in ihrem eigenen oder dem Nachbarland in Frieden und Sicherheit zu leben. Die Nikonchuks aber hätten diese Möglichkeit in ihrem und auch in ihrem Nachbarland Russland (das zudem maßgeblich mitverantwortlich für die untragbare Situation im Donbass ist) durchaus – und das sogar in weit stärkerem Maße als etwa ein Roma aus dem Kosovo.
Was will ich damit sagen? Es DARF einfach nicht sein, dass in unserem so wohlhabenden Land Kriegs- und Armutsflüchtlinge derart schamlos gegeneinander ausgespielt werden, nur, weil unsere Zuwanderungsregelungen den Charakter einer Zweiklassengesellschaft haben, während man gleichzeitig beispielsweise Russlanddeutschen ohne große Bedingungen und Auflagen den deutschen Pass in die Hand drückt, sobald sie nach Deutschland einreisen. Zuwanderung sollte nicht nach sozialem Status oder Stammbaum erfolgen, sondern nach persönlichen Ambitionen, Einstellungen und Fähigkeiten.

Integrationschaos sorgt für Kräfteverschleiß und Abschiebeleid

Leute wie Lena Schuster, die die Online-Petition für die Nikonchuks gestartet hat, meinen es gut. Sie opfern sich auf, sie wollen helfen, wollen Leid verhindern. Sie haben monatelang darum gekämft, dass Menschen bei uns integriert werden, auch, um zu zeigen, dass Integration möglich ist. Ihre Arbeit ist richtig und von unschätzbarem Wert. Doch zeigen diese Petitionen auch, wo es in der derzeitigen Asylpolitik klemmt. Die Integrationsarbeit wird zu einem großen Teil von jenen Ehrenamtlichen und kommunalen Kräften bewerkstelligt, die sich oft mit Herzblut da reinhängen, aber (nach eigener Aussage) häufig auch hoffnungslos überfordert sind. Eine emotionale Einbindung bleibt da häufig nicht aus. Doch vielerorts fehlt eben auch ein Verständnis dafür, was unser Asylrecht besagt und dass Integration vor allem denen zuteil werden sollte, die ein dauerhaftes Bleiberecht zugebilligt bekommen haben. Eine zu frühe Integration insbesondere bei schlechten Aussichten auf eine Asylbewilligung schafft letztlich mehr Leid als sie verhindert, weil die betreffenden Menschen im Abschiebungsfall aus ihren neuen sozialen Bindungen herausgerissen werden – und das betrifft stets nicht nur die eigentlich Betroffenen, sondern auch das Umfeld. Trotzdem müssen auch Flüchtlingshelfer akzeptieren, dass nicht alle Asylbewerber dauerhaft hier bleiben können. Auch dann nicht, wenn sie noch so nett und noch so integrationswillig sind. Denn das Asylrecht DARF nicht nach Gefühl oder individuellen positiven Eigenschaften entscheiden, sondern objektiv und sachlich nach Bedrohungslage. Stattdessen müssen die Regelungen der regulären Zuwanderung in unserem Land neu definiert und vom Asylverfahren zuverlässig entkoppelt werden. Erst, wenn das gewährleistet ist, wird sich die Situation im Asylbereich auch unter dem derzeitigen Ansturm normalisieren. Eine Abschottung unseres Landes nach außen wird diesen Prozess nicht ersetzen können. Im Gegenteil – sie wird Unsummen Geld kosten und das Problem von Massenfluchten doch nicht lösen. Sie wird vielmehr in eine humanitäre Katastrophe ungeahnten Ausmaßes führen.

Leute wie die Nikonchuks, offenbar gut ausgebildet und keinesfalls Armutsmigranten, sollten hingegen die Chance bekommen, auf legalem Wege außerhalb des Asylrechts eine Zukunft in Deutschland anzustreben, wenn sie das denn unbedingt wollen. Wenn es gerade für Menschen außerhalb des Schengen-Raumes hierzu bessere Möglichkeiten gebe, dann hätten wir in Deutschland zwar noch immer einen hohen Grad an Zuwanderung, aber längst nicht mehr die aktuellen Probleme mit überquellenden Asylzahlen und Menschen, die man monatelang verwalten muss, während sie selbst zum Abwarten und Nichtstun verdammt sind, nur, um am Ende wieder zurückgeschickt zu werden.

Zum Tod von Boris Nemzow.

Clipboard01-swEs ist zu früh, mehr zu schreiben. Ich bin einfach noch zu sehr von Wut und Traurigkeit erfüllt, um mich mit den brutalen Fakten und den möglichen Hintergründen herumzuschlagen. Noch bin ich zu sehr damit beschäftigt, die Bilder zu verdauen, die mich vor zwei Tagen mitten in der Nacht völlig unerwartet und plötzlich von meinem Laptop her anschrien. Ich war aus unerklärlichen Gründen nachts gegen 3 Uhr aufgewacht, ging etwas trinken und stellte fest, dass die facebook-Seite noch offen, mein Profil noch online war. Ich wollte mich lediglich ausloggen. Und dann stand es da: Boris Nemzow ist tot, erschossen auf offener Straße. Im ersten Moment glaubte ich noch, ich albträumte vielleicht. Doch die Zeilen ließen sich weiterscrollen, und darunter diese Bilder. Nemzows Leichnam auf der Straße, von Polizei umringt, nicht abgedeckt. Und da merkte ich, wie mir übel wurde.

Sie haben ihn hingerichtet. Vier Schüsse brauchte es, um Wladimir Putins schlechtes Gewissen niederzustrecken und auszuschalten. Nemzow, der Jude war und den Bezug zum westlich-modernen Deutschland im Namen trug, war mir immer angenehm gewesen. Egal, wo er auftrat, was er sagte: Es sprachen eine Menschlichkeit, eine Klugheit und gleichzeitig eine Entschlossenheit und Ernsthaftigkeit aus seinen Worten, die ungewöhnlich waren für einen russischen Politiker. Noch mehr war außergewöhnlich an ihm: Anders als andere stellte er nicht die eigene Machtposition über alles andere und den Willen des eigenen Volkes: Als er in den 90er-Jahren im Zuge der wirtschaftlichen und politischen Krise der Jelzin-Regierung in Ungnade fiel, tat er etwas, das kein russischer oder sowjetischer Politiker in solch hoher Position (Nemzow war damals Vize-Premier) zuvor je getan hatte: Er trat von seinem Amt freiwillig zurück. Sicher war auch Nemzow kein lupenreiner Demokrat. Aber er war wohltuend modern, weltoffen und fürchtete sich nicht, dem respressiven und rückschrittlichen Regime Putin die Krallen zu zeigen, indem er dessen Schandtaten in Tschetschenien oder in der Ukraine, dessen manipulative, gegen jedwede Art von Opposition gerichtete Medien- und Informationspolitik offen anprangerte. Er war nicht der Erste, der dies mit dem Leben bezahlte. Ich denke, so viel kann man wohl auch jetzt schon sagen.

Es ist bitter, solch einen guten Mann leb- und würdelos auf einem Bürgersteig liegen zu sehen und zu wissen: Die Demokratie hat in Russland einen ihrer wichtigsten Fürstreiter verloren. Wer wird diese Lücke füllen? Mir fällt spontan niemand ein. Zumal den wenigen, die bisher ähnlich furchtlos agierten – etwa der Nationalliberale Alexej Nawalny -, nun deutlich gemacht wurde, wohin ein offensiv-oppositioneller, prowestlicher Kurs in Russland früher oder später führen wird: direkt unter die Erde.

Noch mehr weh tut aber gerade in diesen ersten Tagen nach seinem Tod die ekelerregende Welle des Hasses und der Menschenverachtung, die gerade durch die sozialen Netzwerke und Internetforen rollt und das Andenken des Toten beschmutzt. Sie nennen ihn einen Verräter, einen Schwulen, einen Spion, der sein Volk hintergangen habe. Ihn, der es aus der Diktatur des Chauvinismus und der Korruption heraus in eine demokratische, freiheitliche Zukunft führen wollte. Was mögen seine Mutter, seine Frau, seine Kinder in diesen Augenblicken fühlen? Es ist beschämend, zu sehen, wozu Wladimir Putin zwei Generationen von Menschen in seinem Lande erzogen hat. In etwas mehr als 15 Jahren hat er es geschafft, großen Teilen davon jedwede Menschlichkeit erfolgreich abzutrainieren und gegen einen stumpfsinnigen, sowjetnostalgischen, unterwürfigen Patriotismus auszutauschen. Ein Gutes hat das Ganze vielleicht: Boris Nemzow kann nun ausruhen. Er muss das alles nicht mehr ertragen.

Was zerreißt die Ukraine?

Darf man auf einen friedlichen Ausgang der Krise in der Ukraine hoffen? Gestern kamen die Konfliktparteien gemeinsam mit den USA und der EU in Genf zum Krisengipfel zusammen. Das Ergebnis überrascht – im positiven Sinne: Ein Friedensfahrplan wurde beschlossen mit dem Ziel eine Spaltung der Ukraine zu vermeiden. Überraschend ist das deshalb, als Russland über Wochen – seit der Eskalation des Konfliktes im Zuge der russischen Annexion der Krim im März – sich jedwede Einmischung durch EU und USA verbat, Gesprächsangebote Kiews kategorisch ablehnte und seine westlichen Amtskollegen regelrecht auflaufen ließ und gar öffentlich verhöhnte.

Doch wie sind die Beschlüsse von Genf wirklich zu bewerten? Hat Russland wirklich eingelenkt, oder ist die scheinbare Kompromissbereitschaft lediglich dem Wissen um die tatsächliche Lage geschuldet? Wer kann heute sagen, ob die Lawine, die Putin mit der Annexion der Krim und einer antiwestlichen Propagandamaschinerie in weitgehend gleichgeschalteten russischen Medien, die selbstverständlich auch in der Ukraine empfangen werden, in der Ostukraine losgetreten hat, nicht längst zum Selbstläufer geworden ist? Erstmals hat Russland zumindest indirekt die Bewertung westlicher und ukrainischer Vertreter bestätigt, dass es sich bei den Rebellen im Osten der Ukraine um „illegale Kräfte“ handelt. Zumindest wurde dieser im Beschluss gewählten Formulierung offenbar nicht widersprochen. Der Friedensfahrplan sieht die völlige Entwaffnung dieser Kräfte vor – im Gegenzug wird ihnen Straffreiheit gewährt. Ebenfalls eine Premiere: Wladimir Putin schlug parallel zur siebenstündigen Genfer Krisensitzung neue friedfertige Töne an: „Weder Flugzeuge noch Panzer können die Krise beenden“, so derselbe Mann gegenüber russischen Medien, der seit Wochen Truppen an der ukrainischen Grenze zusammenzieht und in „false-flag-operationen“ auch in der Ukraine selbst einsetzt. Die soll Putin nun laut dem Genfer Beschluss zurückziehen. Dass das aber alsbald der Fall sein wird, von der Vorstellung haben sich alle Beteiligten in Genf bereits jetzt verabschiedet. Russland macht den Rückzug der Truppen von der Umsetzung der Genfer Beschlüsse – und somit auch von einer tatsächlichen Beruhigung der Lage in der Ukraine abhängig.

Doch was, wenn die Rebellen ihre Waffen nicht abgeben wollen? Eine Befürchtung, die absolut real ist. Hinzu kommt, dass Russland weiterhin standhaft leugnet, selbst Truppen in der Ukraine einzusetzen. Und das, obwohl der ukrainische Vizepremier Vitali Jarema Name und Standort der in der Ukraine zum Einsatz kommenden russischen Einheiten benannt hat. Die Entsendung von Truppen ohne Nationalitätenkennzeichnung scheint wesentliches taktisches Moment russischer Militärstrategie in diesem Konflikt zu sein. Militärfahrzeuge, die von Bauart und Ausrüstungsgrad klar dem russischen Militär zuzuordnen sind, fahren mit entfernten Kennzeichen durch ostukrainisches Gebiet. Und selbst die 40000 Soldaten, die Putin an der Grenze zur Ukraine aufgestellt hat und diejenigen 15000, die noch auf der Krim weilen, tragen häufig keinerlei Nationalitätskennzeichnung.

Vor diesem Hintergrund sollten die Genfer Gespräche äußerst vorsichtig bewertet werden. Es ist derzeit nicht anzunehmen, dass Russland seinem Teil der Vereinbarungen – auf die bewaffneten Rebellen dahingehend einzuwirken, die besetzten Gebäude zu räumen, ihre Waffen abzugeben und ihre Aktivitäten zur Spaltung der Ukraine aufzugeben – tatsächlich nachkommen wird. Denn Bedingung hierfür wäre ja zu allererst der Rückzug der eigenen Truppen aus der Ukraine, die zu einem guten Teil die separatistischen Bemühungen unterstützen und ohne die die Rebellen nur halb so schlagkräftig wären.

Zerrüttung zwischen Moderne und Kommunismus

Ein weiteres großes Problem dürfte die Lage innerhalb der Ukraine selbst sein. Das Land ist bereits tief gespalten. Das Vertrauen eines erheblichen Teils der Bevölkerung in die Regierung insbesondere im Süden und Osten des Landes ist gleich null. Rechtsextremisten und Altkommunisten erleben über der wirtschaftlichen und politischen Krise einen nie geahnten Aufwind – Wladimir Putin kann das nur in die Hände spielen. Seine ganze Rhetorik im Zuge des heraufziehenden Konfliktes sprach dahingehend Bände. Gab sich der russische Staatschef sonst immer als moderner, weltoffener, fortschrittsorientierter Mann, der sein Land in den letzten Jahren mit westlichem Teufelszeug wie Mobilfunknetzen, Internettechnik, deutschen Autos und amerikanischer Ölfördertechnik ausstattete, so beschwor Putin nun den Zusammenbruch der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ (und verharmlost darüber die raumgreifenden territorialen Verschiebungen, der der Erste und Zweite Weltkrieg sowie Auseinandersetzungen im Zuge der Oktoberrevolution insbesondere durch die Feldzüge Deutschlands und Russlands mit sich brachte und die viele der zuletzt zum Sowjetreich gehörenden Gebiete überhaupt erst diesem zutrugen).

Putin weiß genau wie es um die Gemütslage seines und um die großer Teile des ukrainischen Volkes bestellt ist. Der Oppositionelle Michail Chodorkowsky, der mehr als 10 Jahre seines Leben in Haft saß und erst letztes Jahr freikam, meinte einst, dass Putin liberaler sei als 80 Prozent seiner Landsleute. Genau deswegen war Putin bei vielen – insbesondere unter den Anhängern des alten Systems – nicht sonderlich beliebt. Man duldete ihn quasi als „kleineres Übel“, denn den wirtschaftlichen Fortschritt unter dem kleinen, verbiesterten Mann – den konnte man schlecht leugnen. Doch genau diese große, duldsame Masse brachte Putin nun mit diesem einen Satz, nach dem das nostalgisch verklärte Volk viele Jahre lächzte, fast geschlossen hinter sich. Diesen Satz hatte er das letzte Mal 2005 auf einer Pressekonferenz gesagt – und für Aufhorchen im Westen gesorgt.

Putin, der in fast 20 Jahren an der Spitze des riesigen Landes nichts unternahm, um die Sowjetära irgendwie zum Thema gesellschaftlicher Auseinandersetzung zu machen, weiß um die Wirkung solcher Worte. In höchsten russischen Ämtern sitzen bis heute ehemalige Leistungsträger der kommunistischen Partei wie Nikolai Haritonow. Der heute 65-Jährige tritt für die Wiedererrichtung der Sowjetunion ein und wurde bei den Präsidentschaftswahlen 2004 mit diesem Anliegen mit knapp 14 Prozent der Stimmen Zweiter hinter Wladimir Putin. Zu Sowjetzeiten war Haritonow wie Putin beim KGB, verehrte dessen Urvater Felix Dzerdzinsky wie einen Gott und wollte 2000 sogar dessen 1991 vom Platz vor dem berüchtigten Moskauer KGB-Gefängnis Lubjanka entfernte Statue wiedererrichten. Und Haritonow ist nur ein Beispiel, das berühmteste freilich bietet Putin selbst, der 1985 im Alter von nur 33 Jahren bereits Leiter der Dresdner Dependance des KGB im Range eines Majors war.

Ein weiteres ist Walentina Matwijenko – die mächtigste Frau Russlands. Auch sie hat die einschlägige Karriere in der KPdSU hinter sich. Sie verhalf der Tochter eines einfachen Soldaten und einer Schneiderin zum Studium an der Akademie der Sozialwissenschaften der Partei und schließlich zum Aufstieg zur Leiterin des Ausschusses für Kinder und Familien im Obersten Sowjet 1989. Der Zusammenbruch der UdSSR tat Matwijenkos Karriere keinen Abbruch – im Gegenteil. Als erste Frau überhaupt wurde sie 2011 zur Vorsitzenden des Föderationsrates der Russischen Föderation ernannt und bekleidet seither das dritthöchste Staatsamt in Russland. Ihre Inthronisierung erfolgte unter mehr als fragwürdigen Umständen. Die Wunschkandidatin von Wladimir Putin und Dmitrij Medwedjew ist gleichsam wie diese Mitglied der Partei „Einiges Russland“ – und sollte anscheinend aus St. Petersburg entfernt werden, wo ihre Tätigkeit als Gouverneurin die Werte der Partei in den Keller getrieben hatte. Solche Machtschiebereien, Umbesetzungen und dergleichen mehr sind Alltag in Russland. Zum Nachfolger von Walentina Matwijenko im Amt des Gouverneurs von St. Petersburg wurde übrigens mit Georgij Poltawtschenko – wen wundert’s? – ein Ex-KGB-Offizier ernannt. Ernannt wurde er bereits 1999 von Wladimir Putin – zum Stellvertreter des Präsidenten für die Oblast St. Petersburg sowie später zum Generalgouverneur für die Region Zentralrussland.

Stalin, Lenin, Rote Armee … seither kam nichts mehr

Putin weiß, die Masse ist ihm deshalb nicht gram, weil sie selbst nicht verstanden hat und zu Teilen auch nicht verstehen will, WARUM die Sowjetunion unterging. Für viele ist ihr Ende noch immer das Werk feindlicher Kräfte aus dem Westen. In unzähligen Forenbeiträgen in russigsprachigen sozialen Netzwerken wird der Tag der Abrechnung förmlich herbeigesehnt – und in der aktuellen Krise um die Ukraine erblicken nicht wenige sein Heraufdämmern. Hunderte von Gruppen mit teils mehreren Zehntausend Mitgliedern bevölkern die soziale Netzwerklandschaft in den beiden größten Plattformen „Vkontaktje“ und „Odnoklassniki“ Das Volk hat die Demütigung von 1991 nicht vergessen, und es braucht sein Imperium, um stolz sein zu können: militärische Stärke und territoriale Größe waren das, worüber sich Russland seit Katharina der Großen definierte, nicht sein unermesslicher kultureller Reichtum – den wusste man dagegen umso mehr im Ausland zu schätzen. Ein wenig ist es so, als hätte ein ganzes Volk Angst, in diesen 80 Jahre tiefen schwarzen Brunnen zu schauen und möglicherweise – wie zwei mal zuvor das deutsche Volk – zu erkennen, dass man sich durch seine Duldsamkeit und sein Augenverschließen vor den grausigen Wahrheiten der Sowjetära mitschuldig gemacht haben könnte, dass man an einem Gesellschaftsideal mitgefeilt hat, dessen Preis das Unglück und oft genug auch der Tod von Andersdenkenden war. Wenig galt dabei das berühmte Zitat Rosa Luxemburgs, dass Freiheit immer auch die Freiheit der Andersdenkenden sei. Es gilt bis heute wenig in Russland. Ob Homosexuelle, Oppositionelle oder behinderte Menschen – sie alle haben keine Lobby in Putins Russland. Der Westen ist schon deshalb vielen Menschen dort ein Graus, weil hier ein Mann öffentlich einen Mann küssen und ihn sogar ehelichen darf. Stattdessen klammert man sich trotzig an den alten Helden fest: Stalin, Lenin, die Rote Armee und ihr großer Sieg über den Faschismus 1945. Seither kam einfach nichts mehr.

Von dem Gefühl der nationalen Verlorenheit und Demütigung ist die Ukraine als SU-Nachfolgestaat keinesfalls ausgenommen. In die mit dem Zusammenbruch ausgelöste Identitätskrise platzte die Existenzangst. Die Armee war einst ein Hauptarbeitgeber in der SU. Für viele ehemalige ukrainische Offiziere und Berufssoldaten, aber auch Zivilangestellte war die Unabhängigkeitserklärung 1991 in der Tat eine Katastrophe, denn der kümmerliche Rest, der nun das Fundament der neuen ukrainischen Armee bilden sollte, bot für viele von ihnen keinen Platz mehr.

Rapport eines in Meißen stationierten ukrainischen Oberfähnrichs in der Armee der GUS vom Juli 1992. Darin bittet er seinen Kommandeur um Mitteilung hinsichtlich der Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung in den ukrainischen Streitkräften. Quelle: Privat.

Stattdessen wartete Arbeits- und Wohnungslosigkeit, denn ihre einstigen zivilen Berufe, ebenso wie ihr Zuhause, hatten viele vor Jahren für die Armee aufgegeben. Die Selbstmordrate schnellte damals in die Höhe, und die Lebenserwartung der Männer sank auf ein Allzeittief von 61 Jahren, in Russland sogar auf 59 Jahre. Wer sich durchbiss, ist heute 50, 60 und dämmert im Regelfall einer kargen Rente entgegen. Nur wenige haben es zu echtem sozialem Aufstieg gebracht. Das funktionierte in Russland wesentlich besser, wo alte Parteistrukturen weitgehend erhalten blieben und man sich gegenseitig „half“. Geblieben ist häufig ein Groll auf alles Westliche und ein bewusster Rückzug in die Vergangenheit, die zum verlorenen Leben im Paradies der Gleichheit, des Glücks und der moralischen Anständigkeit verklärt wird, in der noch Recht und Ordnung herrschten und niemand um Lohn und Brot fürchten musste. Insbesondere diejenigen, die vor der Wende gut da standen und mit ihr tief fielen, ohne je wieder nach oben zu kommen, können das zeitlebens nicht verzeihen – und suchen Schuldige. Viele von ihnen haben nun die Uniformen wieder angezogen. Endlich kann man etwas tun, statt ohnmächtig im Sessel zu sitzen und alles stumm zu ertragen! Waffen und Uniformen – zwei Dinge, an denen es weder in Russland noch in der Ukraine einen Mangel gibt. Zu kaufen sind sie überall, fast jeder besitzt sie. Putins Satz von der größten Katastrophe des Jahrhunderts, dem Zusammenbruch der UdSSR, führt sie an. Denn er hat mal wieder ausgesprochen, was sie seit 23 Jahren dachten, und sie förmlich dazu aufgerufen, mit der Heimholung zumindest von Teilen des entrissenen „Brudervolkes“ die alten Strukturen wiederherzustellen.

Dass ihr Utopia zum größten Teil auf Pump und nicht zuletzt auf Kosten der Lebensqualität der Bürger errichtet wurde, die den ideologischen Wettstreit mit dem Westen und die damit verbundene absolute Konzentration der Ausgaben auf die Rüstung mit einem Größtmaß an Unfreiheit, absoluter Gleichschaltung und einer Mangelwirtschaft bezahlen mussten, die zu Versorgungsengpässen, völlig veralteten Technologien und Instrumenten im Sozial-, Medizin- und Agrarsektor und nicht zuletzt zum Kollaps der SU führte, ohne dass irgendwer von außen auch nur einen Schuss abgeben musste – man sieht es nicht, denn die SU brach zusammen, bevor die marode Technik in den Werken und Gruben es ihr gleichtun konnte. Die bescheidenen wirtschaftlichen Ausgangslagen in den SU-Nachfolgestaaten brachten viele Menschen dort nicht etwa mit fast einem Jahrhundert zentral gesteuerter Wirtschaft in Verbindung, die auf schnelles Wachstum, nicht aber auf Nachhaltigkeit und fortwährende Innovation ausgerichtet war, sondern mit einer schmählichen Niederlage im Kalten Krieg mit dem Westen.

In den 30er- und 40er-Jahren war das sowjetische System bestrebt, seine völlig veraltete Armee für eine Auseinandersetzung mit den westlichen Staaten zu rüsten. So wuchs der Fuhrpark an Panzern und Bombern innerhalb von nur 15 Jahren auf das x-fache der Ausgangslage an. In den sowjetischen Hangars und Panzerhallen stapelten sich Fuhrwerke, für die nach den Säuberungswellen des stalinistischen Terrors der 20er- und 30er-Jahre innerhalb der Armee kein adäquat ausgebildetes Personal mehr vorhanden war. Milliarden wurden dafür ausgegeben – für Technik, die nach wenigen Jahren veraltet war, bevor es überhaupt jemanden gab, der sie bedienen konnte. Natürlich brachte diese Massenproduktion vielen Menschen Lohn und Brot und kurbelte die Wirtschaft an – aber es sorgte auch dafür, dass nach 20 Jahren kein Geld mehr da war, die Produktionstechnik zu modernisieren. Hätte man dies ohne Schuldenaufnahme bewerkstelligen wollen, hätte man am Rüstungsetat sparen müssen, was nicht infrage kam. Das so viel gerühmte Sozial- und Gesundheitssystem der Sowjetunion – es hinkte schon in den 60er-Jahren weit hinter den westlichen Staaten zurück, weil versäumt wurde, in neue Technologien und Behandlungsverfahren zu investieren. Mehr als 10 Prozent des Bruttoinlandproduktes ballerte man stattdessen noch in den 70er-Jahren in Rüstung – zum Vergleich: Das war das Dreifache von dem, was Russland heute für Rüstung ausgibt (3,5 Prozent BIP). 1948 gab die Sowjetunion noch fast 20 Prozent ihres Etats für die Rüstung aus, da hatten die USA die Ausgaben bereits auf 3,5 Prozent zurückgefahren (siehe auch in „Krieg um Berlin“, Matthias Uhl). In der SU dagegen wurde die Armee als Hüterin der Heimat und des Imperiums zum Zentrum des gesellschaftlichen Lebens. Ihre Verehrung im Volk hält – trotz aller Skandale, die zwischenzeitlich ans Licht kamen – beinahe ungebrochen bis heute an.

So wundert es nicht, dass sich unter den Rebellen im Osten sowohl Russen aus den Grenzgebieten des Nachbarstaates als auch Ukrainer finden, die dem Nationalbolschewismus des Eduard Weniaminowitsch Limonow anhängen, der die Wiederherstellung der Sowjetunion anstrebt. Verstehen lässt sich das alles nur, wenn man berücksichtigt, dass sowohl seitens der Politik in Ukraine und Russland als auch in großen Teilen des Volkes 70 Jahre Sowjetherrschaft quasi in einer Zeitkapsel konserviert wurden. Wie schwer es ist, mit einer in der Stunde ihrer Geburt so großartig scheinenden Idee grandios zu scheitern, deren hässliches Gesicht voller Unmenschlichkeit, Zwang und Unfreiheit zu erkennen – keiner weiß es besser als die Deutschen. In Russland und auch in der Ukraine, die lange Jahre von Kreml-treuen und politisch unfähigen Leuten wie Leonid Kutschma und Viktor Janukowitsch autoritär regiert wurde, hat man sich diesen Albträumen der eigenen Vergangenheit und deren unzähligen Opfern nie wirklich gestellt. Die Folgen erntet die Welt heute. Nur wenn man der Annahme ist, dass die Ukraine nach wie vor Teil eines vor 23 Jahren in einem unrechtmäßigen Akt zerstörten Großreiches ist und ihre bzw. die Rückholung von Teilen von ihr legitimes Recht sei, kann man mit einer derartigen Selbstverständlichkeit von einem völkerrechtlich einwandfreien Anschluss der Krim sprechen, von „russischer Erde“ und dergleichen mehr.

Druschba bis zum bitteren Ende? Ohnmacht und schlechtes Gewissen verklären den Blick auf die Krise in der Ukraine..

Ein hervorragender Artikel zur Krise in der Ukraine, der einige unschöne Wahrheiten sowohl für Deutschland, den „Westen“ als auch den Autokraten in Moskau parat hält, erschien am Donnerstag in der ZEIT. Der Leitartikel „Wie Putin spaltet – Woran liegt es, dass so viele Bürger die Krimkrise ganz anders beurteilen als Politik und Medien?“ von Bernd Ulrich (Titel u. weiter auf S. 2) ist wahrlich beeindruckend. Keiner hat bislang so offen und ehrlich die Gründe für die derzeit scheinbar schwer zu fassenden Meinungsbildungsprozesse zum Thema in Deutschland und das Dilemma der Medien diesbezüglich benannt. Und mir – im Zug sitzend – entschlüpfte unvermittelt ein lautes „Endlich sagt’s mal einer!“, das prompt von einem jovialen „Genau!“ aus den Sitzreihen vor mir quittiert wurde.

„Hier wurden offenbar Erfahrungen von Ohnmacht und Anmaßung gemacht, die so fundamental sind, dass sie selbst einen Wladimir Putin als diskutable Figur erscheinen lassen“

Auslöser für den Artikel war im Vorfeld eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Forsa gewesen, die die Deutsch-Russische Außenhandelskammer (!) in Auftrag gegeben hatte. Darin hatten sich 69 Prozent der Deutschen gegen Wirtschaftssanktionen gegen Russland ausgesprochen. Doch auch wenn wirtschaftliche Ängste sicher eine bedeutende Rolle spielen, sich in der aktuellen Krise möglichst passiv und russlandfreundlich verhalten zu wollen, wie nicht zuletzt der anbiedernde Auftritt von Siemens-Chef Joe Kaeser in Moskau vor einigen Wochen zeigte – andere Gründe könnten von weit bedeutsamerer Tragweite sein.

Ulrich sieht die Anmaßung des Westens, insbesondere der USA und Brüssels, aber auch die deutsch-russische Geschichte als Hauptgründe dafür, dass die Deutschen in so großer Zahl die Frontbildung der westlichen Politik gegen Moskau skeptisch bis kritisch sehen. „Hier wurden offenbar Erfahrungen von Ohnmacht und Anmaßung gemacht, die so fundamental sind, dass sie selbst einen Wladimir Putin als diskutable Figur erscheinen lassen“, so Ulrich, der insbesondere Bezug auf die Kriege im Irak und in Afghanistan nimmt, aber auch die NSA-Spähaffaire, die von Deutschland alle mehr oder weniger mitgetragen wurden. Viele Menschen erkannten demzufolge in Putin endlich einen „starken Mann“, der nun den naseweisen Westen in seine Schranken weist, der „aufmuckt“ und den ganzen verhassten Trott nicht mehr mitmacht.

„Tatsächlich […] wird die Legitimität des Völkerrechts offensiv infrage gestellt, die von Putins nationalistisch-imperialer Ideologie aber ernstlich erwogen. Man übernimmt das Gerede von ‚russischer Erde‘, als wäre so etwas heute noch ein valides Argument. (Würde jemals wieder von deutscher Erde geredet – was Gott verhüten möge -, dann wäre hier – hoffentlich – die Hölle los).“

Doch Ulrich lässt das eben – anders als andere – nicht einfach so unkommentiert stehen, sondern er zeigt konsequenterwerweise die katastrophalen Folgen auf, zu denen dieses Ohnmachtsgefühl auch hierzulande führt: „Tatsächlich […] wird die Legitimität des Völkerrechts offensiv infrage gestellt, die von Putins nationalistisch-imperialer Ideologie aber ernstlich erwogen. Man übernimmt das Gerede von ‚russischer Erde‘, als wäre so etwas heute noch ein valides Argument. (Würde jemals wieder von deutscher Erde geredet – was Gott verhüten möge -, dann wäre hier – hoffentlich – die Hölle los).“ Und Ulrich hat recht. Es gibt keine bedrohlichere Triebfeder für Veränderungen als ein Gefühl von Ohnmacht. Dieses Gefühl war einst ausschlaggebend für den Aufstieg der Nationalsozialisten in den späten 20ern/frühen 30ern, als Deutschland am Tiefpunkt sowohl seiner moralischen als auch wirtschaftlichen Stärke angekommen und die für die innere Stabilität so wichtige Identität des Volkes durch die Niederlage von 1918 und die Antragung der alleinigen Schuld am Ersten Weltkrieg sowie die damit verbundenen Gebietsverluste und wirtschaftlichen Sanktionen in ihren Grundfesten erschüttert war. Und es war ausschlaggebend für zahlreiche schwerwiegende Umbrüche wie die französische oder die Oktoberrevolution. Es hält den Nahostkonflikt am Schwelen und es war verantwortlich für die politischen Unruhen in Nordafrika.

Auch viele Russen kennen das Gefühl. Nur übersetzen in Russland viele Menschen diese Ohnmacht erstaunlicherweise nicht in Energie, die gegen das eigene repressive System gerichtet ist, sondern in solche, die die Wiederherstellung der alten, noch weitaus repressiveren Machtverhältnisse zu Sowjetzeiten anstrebt.

Ulrich spricht auch harte Wahrheiten an: Viele Menschen in Europa waren nicht begeistert von den Bestrebungen der EU, mit der Ukraine „noch so ein Hungerleiderland voller primitiver Krimineller“ wie Griechenland, Bulgarien & Co. (Von MIR frei zitiert nach Hörensagen!) näher an sich zu binden, und fühlten sich von Brüssel bevormundet. Tatsächlich spricht daraus ein alter, ungesunder Geist von Überheblichkeit, Überlegenheit und Nationalismus, den man sich besser nicht zurückwünschen sollte.

Und noch etwas Wichtiges bleibt Ulrich nicht verborgen: Die Nebenrolle, die der sowjetische Anteil am Sieg über den Hitlerfaschismus insbesondere in Westdeutschland über Jahrzehnte in der dortigen Gedenkkultur einnahm. Das hat Wunden hinterlassen, die jeder zu spüren bekommt, der sich heute mit dem Thema irgendwie befasst. Ein „schlechtes Gewissen“ – so Ulrich weiter – führe nun dazu, dass man Moskau eine gewisse „Einflusszone“ zugestehe, da sie ja „durch den Verlust ihres Sowjetimperiums schon genug gekränkt und gestraft“ worden seien.

„Ein wenig erinnert diese Gemengelage an Schuld ans Jahr 1989. Da haben viele westdeutsche Linke auch gesagt, die deutsche Teilung müsse bestehen bleiben, sie sei eben die Strafe für Auschwitz. Das Argument hatte allerdings diese kleine, verlogene Pointe: dass allein die Ostdeutschen diese Strafe der Geschichte abzusitzen hatten.““

„Ein wenig erinnert diese Gemengelage an Schuld ans Jahr 1989“, resümiert der Autor. „Da haben viele westdeutsche Linke auch gesagt, die deutsche Teilung müsse bestehen bleiben, sie sei eben die Strafe für Auschwitz. Das Argument hatte allerdings diese kleine, verlogene Pointe: dass allein die Ostdeutschen diese Strafe der Geschichte abzusitzen hatten.“ Heute werde erneut mit Blick auf deutsche Schuld (am Zweiten Weltkrieg) einem anderen Volk das Recht auf Selbstbestimmung abgesprochen: den Ukrainern. „Sollen sie nicht in die EU dürfen, weil die Deutschen, zu Recht, gegenüber den Russen ein schlechtes Gewissen haben?“, fragt Ulrich. „Dass Deutsche und Russen abermals über das Schicksal der Ukraine entscheiden, wäre ein perverser Lerneffekt aus der GEschichte dieses Landes, das unter beiden Nationen wie kein anderes gelitten hat.“
Ulrich nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er von den Bequemlichkeiten hierzulande schreibt, wenn es um Sanktionen gegen Russland geht. „Soll Frieren für die Ukraine dem Westen schon zu viel sein? Suchen wir nach Argumenten, um nichts tun und nichts riskieren zu müssen?“

Sieht aus, als wären wir in Deutschland auf einem besorgniserregenden Kurs. Land und Gesellschaft sind an einem Punkt angekommen, da Verstöße gegen das Völkerrecht quasi als „völlig normal“ und „gegeben“ hingenommen und teilweise sogar befürwortet werden, solange sie geeignet erscheinen, eigenen Interessen Nachdruck zu verleihen oder politischen Gegenstimmen im eigenen Land einen Schlag zu versetzen. Dass es hier zu allererst um die Rechte eines Volkes geht, dem gegenüber gerade wir als Deutsche nach wie vor eine erhebliche historische Verantwortung haben und das sich Übergriffen eines ungleich stärkeren Nachbarn ausgesetzt sieht, gerät dabei erschreckenderweise zur Nebensache.

Dabei kann und DARF es nicht darum gehen, was die Regierung in Kiew vielleicht alles falsch gemacht hat, denn das rechtfertigte längst kein aggressives Einmischen Russlands. Keine Regierung in Kiew hat sich jemals in die nationalen Belange Russlands eingemischt oder Russland bedroht. Im Gegenteil: Dank Russlands Einfluss konnten autoritäre Staatschefs wie Leonid Kutschma und zuletzt wieder Viktor Janukowitsch in der Ukraine ihren Machtbereich immer weiter ausdehnen, das Land in alte Abhängigkeitsstrukturen von Moskau zurückführen und es so Stück für Stück zugrunde wirtschaften. Mit den Folgen hat nun eine Regierung zu kämpfen, die dieser Aufgabe anscheinend nicht gewachsen ist.
Weder die Ukraine noch Deutschland, die EU oder die USA stehen derzeit mit mehr als 40000 bis an die Zähne bewaffneten Soldaten in bzw. an der Grenze zur Ukraine – einem souveränem Land. Und nur weil die USA und Deutschland in Afghanistan so ziemlich alles falsch gemacht haben (beim Einmarsch angefangen), was man falsch machen konnte, gibt das Russland kein Recht, zulasten der Ukraine seine Großmachtphantasien auszuleben.