Kalter Krieg mit Russland: Aussöhnen durch Ausblenden?

Margot Käßmann auf dem Reformationskongress 2013. Quelle: flickr/sekfeps
Margot Käßmann auf dem Reformationskongress 2013. Quelle: flickr/sekfeps cc

Margot Käßmann wirkt sympathisch. Jung und dynamisch für ihr Alter. Und sie steht gern im Mittelpunkt – nicht nur auf der Kirchenkanzel, umgeben von ihren Schäfchen. Wenn man sie so hört, denkt man, dass sie eigentlich auch gerne Politikerin geworden wäre oder Politikwissenschaftlerin oder beides. Sie redet gern und liebt das Gefühl, „gegen den Strom“ zu schwimmen. Schon deshalb mag ich sie. Bei uns in der Sowjetunion gibt es solche Frauen nicht. Kalter Krieg mit Russland: Aussöhnen durch Ausblenden? weiterlesen

Paris, Garissa, Ankara, Brüssel. Vom Krieg, der nicht zu gewinnen ist.

Es ist wohl eines der schlimmsten Bilder, zu denen man an seinem Geburtstag erwachen kann: Dutzende Tote, zerfetzt von heimtückisch gelegten Bomben, begraben unter eingestürzten Decken und pulverisierten Zügen. Die Opfer wurden zufällig zu solchen, die Täter nicht. Die Täter wurden über Jahrzehnte aufgebaut – durch verfehlte Entwicklungspolitik in Staaten der Dritten Welt, durch eine maximal kontraproduktive oder ganz fehlende Integrationspolitik in Europa. Ausgrenzung und Gettoisierung waren und sind stattdessen an der Tagesordnung. Und so machen Menschen, deren Eltern einst nach Europa kamen – häufig auf der Flucht vor den Folgen kolonialer Auswüchse,etwa im Maghreb oder Palästina, oder aber vor den Folgen der zahlreichen Kriege, die die westliche Welt insbesondere im Nahen und Mittleren Osten ausfocht oder interessensgebunden unterstützte – die Erfahrung, dass man sie nicht will, sie nicht braucht, sie gar offen verachtet in jenem Teil der Welt, der ihnen die Heimat einst nahm. Der Westen führt Krieg im Irak, Krieg in Afghanistan. Er führte Krieg in Somalia und unterstützte aktiv den arabischen Frühling. Er liefert Waffen in Kriegs- und Krisengebiete, um gezielt eine Kriegspartei zu unterstützen, die den eigenen Zielen zuarbeitet. Beispiele: Israel, Syrien. Täglich sterben dadurch unzählige Menschen. Andere leben dauerhaft im Elend, in zerbombten Vierteln, im Untergrund. Wenn sie es trotz maximal restriktiver Asylbestimmungen bis in die EU schaffen, treffen sie auf Ablehnung, auf Protest, auf neue Gewalt. Selbst wenn sie bleiben dürfen, kommen sie nicht an in der westlichen Gesellschaft. Schon ihr Glaube, ihr Anderssein und Andersdenken reicht häufig aus, um ausgegrenzt und gar angefeindet zu werden.

Wenn dann in Europa irgendwo eine Bombe explodiert, ist das Entsetzen groß. Explodierende Bomben und dadurch getötete Menschen sind hier – anders als anderswo – noch immer ein katastrophales Ereignis besonderen Ausmaßes von Seltenheitswert. Doch aus der Sicht nicht unmittelbar Betroffener fast noch schwerer zu ertragen als die furchtbaren Attentate selbst sind mit schöner Regelmäßigkeit die offiziellen Reaktionen darauf: Gebetsmühlenartige Betroffenheits- und Beileidsbekundungen in Textbausteinform von Politikern rund um den Globus. „Entsetzen“, „abscheuliche Tat“, „brutal“ sind vielgehörte Kommentare dieser Tage. Als wüsste das nicht jeder selbst, der das Herz noch am rechten Flecke hat. Nach den Gründen und Zusammenhängen fragt dagegen niemand. Dabei liegt in ihnen der Schlüssel zur nachhaltigen Eindämmung des islamistischen Terrors in Europa und im Rest der Welt. Stattdessen Frankreichs Präsident Francois Hollande unter dem Eindruck von Brüssel: „Der Krieg gegen den Terror muss in ganz Europa mit aller Härte geführt werden.“

Entweder ist Hollande wirklich so naiv oder man müsste ihm Kalkül unterstellen: Der „Krieg gegen den Terror“ ist hausgemacht, denn er wird von denen geführt, die ihn erschufen. Es klänge ziemlich takt- und gefühllos, einfach zu sagen: Europa bekommt, was es verdient. Und in all seiner Pauschalität wäre das so auch nicht richtig. Aber es war und ist ein ehernes Gesetz, dass die Menschen früher oder später das einholen wird, was sie über längere Zeit in die Welt hinaussenden.
Der Terror ist das Resultat einer über Jahrzehnte verfehlten Innen- und Außenpolitik, das letztlich durch die Jahr um Jahr zunehmenden Waffenexporte in Krisengebiete und den Siegeszug des digitalen Zeitalters möglich wurde. Und bekämpfen will Hollande ihn mit Waffen, statt mit Weisheit und Vernunft. Waffen gegen Hass und im Untergrund schwelenden Radikalismus. So viel fatale Fehlleitung wäre zu verkraften, wenn es sich nur um Hollande handeln würde. Doch in diesem Punkt steht der Westen fest an seiner Seite. Auch Deutschland. Und so sind die Reaktionen auf den neuerlichen Anschlag insofern katastrophal, als sie das feste und feierliche Versprechen des nächsten Blutbades auf europäischem Boden bereits in sich tragen.

Das Signal, das die Politik damit an die Terroristen und auch an die Menschen in Europa aussendet, ist erschreckend. Denn es sagt: Wir haben keinen vernünftigen Plan, wie wir den zunehmend auf europäischen Boden übergreifenden Krieg der Kulturen stoppen können. Denn alles, wozu wir in der Lage sind, ist Krieg zu führen und/oder zu fördern. Als der große Krieg um die politische Hoheit zwischen Ost und West zu Ende war, musste es neue Schauplätze für die Kriegstreiberei der Großmächte geben, denn wozu brauchte es sonst Rüstungsbetriebe und Militär? Und so kam es zum Kampf der Kulturen, denn irgendeinen Feind braucht es immer. Was wir in Paris und Brüssel erlebten, sind die direkten Konsequenzen dieser Politik. Doch wenn man die Politik im unmittelbaren Nachklang solcher Attacken erlebt, stellt man mit Entsetzen fest: Solcherlei Folgen werden offenbar in keinster Weise erwartet oder einkalkuliert. In Brüssel war man trotz der Spuren der Attentäter von Paris, die in die Hauptstadt der EU führten, kaum  auf solche Art Anschläge vorbereitet und auch danach gibt es nur ungenügende Sicherheitsvorkehrungen. Europa spielt mit dem Leben seiner Bürger. Und selbst, wenn die Bombe dann geplatzt ist, ist man unfähig oder Unwillens, die wahren Zusammenhänge zu benennen und entsprechend Konsequenzen zu ziehen. Wie viele Menschen müssen noch sterben, bis sich etwas ändert?

Die Welt nach Paris : Statt Vernunft und Besinnung – baden in Symbolik und plumpen Nationalismen.

Berlin, Brandenburger Tor: Sind wir Frankreich? Quelle: „Pray for Paris 22623096829 cropped“ von hans-jürgen2013. Lizenziert unter CC BY-SA 2.0 über Wikimedia Commons.
Berlin, Brandenburger Tor: Sind wir Frankreich? Quelle: „Pray for Paris 22623096829 cropped“ von hans-jürgen2013. Lizenziert unter CC BY-SA 2.0 über Wikimedia Commons.
Tag zwei nach dem Massaker von Paris mit 129 Toten. Es ist Volkstrauertag in Deutschland. Und anders als sonst gibt es tatsächlich aktuellen Anlass zu trauern. Und doch ist eigentlich alles wie immer. Wie immer, wenn die westliche Zivilisation schmerzlich von dem eingeholt wird, was für den Rest der Welt Alltag ist, folgen auf Schock und Trauer wieder nur fast ausschließlich Trotz, Kampfgeschrei und die gebetsmühlenartig wiederholte und doch seltsam leblose Frage nach dem Warum. Leblos, weil man das Gefühl hat, dass diese Frage quasi automatisch gestellt wird, weil die Menschen glauben, das müsse in so einer Situation so ein. Nicht, weil man sich wirklich für die Gründe dafür interessierte, warum Menschen zu so etwas fähig sind, was sie so grausam werden lassen kann. Stattdessen wird wieder nach einfachen Erklärungen gesucht, sich in symbolische Gesten geflüchtet. Weltweit leuchten prägnante Bauwerke dieser Tage in den Farben der Tricolore. Von Politikern rund um den Globus wird die grausame Tat, bei der vermutlich auch alle sieben Haupttäter starben, als „Angriff auf Frankreich“, „Angriff auf die ganze Welt“ (Obama) oder „Angriff auf die Freiheit“ bzw. „die freie Welt“ (Hollande/Merkel) verurteilt. Die Medien berichten den dritten Tag in Folge quasi rund um die Uhr.

Noch vor wenigen Wochen eröffnete Francois Hollande den Franzosen, Luftangriffe auf Ausbildungscamps des IS in Syrien zu fliegen – zur Sicherheit des französischen Volkes. Irgendwo sogar verständlich nach den terroristischen Attacken, die Frankreich in diesem Jahr bereits zu erdulden hatte. Die mit dem offenen Eingreifen in den syrischen Konflikt verbundenen Risiken für eben jene Sicherheit der Franzosen verschwieg Hollande den Bürgern trotzdem. So wie von offizieller Seite her für gewöhnlich nie auf das Risiko eines wie auch immer gearteten Gegenschlages für das eigene Land hingewiesen wird, wenn die Großmächte (und das betrifft keineswegs nur die westlichen) irgendwo am anderen Ende der Welt einen Krieg anzetteln oder sich in einen solchen einmischen. Wer über die Langzeitfolgen solcher Konflikte und die daraus erwachsenden Risiken für die westliche Welt Kenntnis erlangen möchte, der muss sich schon auf wissenschaftlichem Parkett bewegen.

Gestern nun musste Francois Hollande seinem Volk erklären, warum nach Maßnahmen für die Sicherheit der Franzosen mitten im Herzen von Paris 129 Menschen sterben mussten – durch die Hand des IS. Doch statt Aufrichtigkeit kamen doch wieder nur die üblichen Phrasen und Parolen. Und das nicht nur vo ihm. In der schwärzesten Stunde der „Grande Nation“ seit dem Zweiten Weltkrieg beschwor Frankreichs Erster Mann Staat, Nation und Freiheit. „Zusammenstehen“ müssten nun das Land und auch die freie Welt. Doch wie gut oder eher wie schlecht es um das Zusammenstehen allein auf europäischer Ebene bestellt ist, haben die letzten Monate eindrucksvoll gezeigt. Diese ganze Rhetorik hat etwas Verlogenes und Verstörendes, weil sie typische Kulturkampf-Stereotype bemüht: Wir hier, die freie, aufgeklärte Welt, und auf der anderen Seite die Barbaren, die Feinde der freien Welt, die ein freiheitliches Land aufgrund seiner Freiheitlichkeit feige und hinterrücks angegriffen haben. Das bedeutet, dass die Masse der unbeteiligten Dritten kaum eine Wahl hat. Man wählt zwischen der massiv beworbenen Solidarität mit Frankreich (was meiner persönlichen Ansicht nach zu Unrecht gleichgesetzt wird mit Solidarität mit den Opfern von Paris und deren Angehörigen) und einer bedachten Zurückhaltung, die im von offizieller Seite her beförderten Strudel der kollektiven Agonie und Bestürzung meist zumindest als fragwürdig empfunden wird.

Doch nicht nur von „Zusammenhalt“ ist dieser Tage die Rede. Der Ton wird zusehends rauer. Francois Hollande sprach von einem „Kriegsakt“ gegen Frankreich, vom „Kampf“, den man nun engagierter denn je weiterführen müsse. Russlands Präsident Wladimir Putin, der seinerseits seit Wochen Luftangriffe in Syrien fliegt, bläst zum „Kampf gegen den Teufel“. Zeit für Reflektion bleibt da keine. Und vielleicht ist Reflektion auch gar nicht gewollt, denn die könnte zu der Erkenntnis führen, dass Krieg in der Regel nicht nur von einer Partei geführt wird, sondern mindestens von zweien.
Um nicht missverstanden zu werden: Es soll hier in keiner Weise diese barbarische Tat wohl offenbar hauptsächlich französischer Islamisten gerechtfertigt, beschönigt oder verharmlost werden. Die willkürliche und brutale Ermordung unschuldiger Menschen im Stile eines Massakers in der Stadt der Liebe muss jedem zur Empathie fähigen Menschen das Herz brechen. Doch wie oft hätte unser Herz schon gebrochen sein müssen angesichts der Schrecken und Gräuel im Irak, in Syrien oder in Afghanistan, an denen die Großmächte dieser Welt stets eine nicht zu verachtende Mitschuld trugen und tragen? Doch es brach nicht. Zumindest bei den meisten Menschen. Tatsächlich blenden wir häufig aus, was in sicherer Entfernung von unserem Lebensmittelpunkt geschieht – und sei es noch so grausam. Entsprechend fehlt häufig das Verständnis für globale Zusammenhänge, wenn dann das Grauen doch einmal mitten in unsere friedens- und wohlstandsverwöhnte Idylle platzt.

Gerade Frankreich und Großbritannien blicken als ehemalige Kolonialmächte im Nahen und Mittleren Osten auf eine mehr als unrühmliche Vergangenheit zurück. Und als quasi ungeschriebenes Gesetz bestehen alte Machtansprüche in der Region bis heute fort. Der Kolonialismus stand sinnbildlich für eine grausame und blutige europäische Expansionspolitik seit dem späten Mittelalter bzw. der frühen Neuzeit. Vergessen hat man das im kollektiven Gedächtnis der arabischen Staaten bis heute nicht. Doch anders als etwa beim Holocaust, der das jüdisch-israelische Selbstverständnis bis heute massiv prägt, bringt der Westen für die vom ihm verschuldeten Traumata der arabischen Welt noch immer keinerlei Verständnis auf – im Gegenteil: Der Westen bohrt in dieser Wunde, indem er das institutionalisierte Judentum in Palästina gegen die islamische Welt aufbaut. Zu tief klafft der Graben zwischen Abend- und Morgenland. Grund dafür ist die tief im westlichen Selbtverständnis verankerte Überhöhung der eigenen Kultur. Wie selbstverständlich erheben wir den Anspruch, jederzeit auch in anderen Weltregionen eigene Interessen durchsetzen zu können. Wann hätten wir je das Einverständnis eines anderen Staates eingeholt, wenn uns die dortige Politik nicht passte? Beginnend beim Sturz des iranischen Schah-Regimes in den 50er-Jahren, der den Weg frei machte für die Herrschaft der tiefreligiösen Ayatollahs und Mullahs, über die Unterstützung der afghanischen Mudschaheddin im Kalten Krieg, die Aufrüstung von Al-Quaida bis hin zur Aufrüstung Israels als „westliche Bastion“ im Nahen Osten sowie dem Sturz des Saddam-Regimes im Irak des Regimes Gaddafi in Libyen – immer waren es die großen Global Player, die meinten, die Geschicke anderer Völker lenken zu können – zu ihrem eigenen Vorteil, versteht sich. Millionen Menschen sind in den Konflikten, die daraus hervorgingen, ums Leben gekommen. Weitere Millionen wurden zu Flüchtlingen, ohne Rechte, ohne Heimat, ohne Perspektive. Bis heute.

Der Islamwissenschaftler Michael Lüders arbeitete vortrefflich heraus, dass auch der 11. September 2001 vermutlich niemals möglich gewesen wäre, wenn die USA Osama bin Ladens Al-Quaida nicht über Jahre hinweig zum Kämpfer gegen die verhasste Sowjetunion aufgebaut hätten. Den gleichen Fehler machten die Russen, die über Jahrzehnte Waffen etwa nach Syrien oder in den Iran lieferten. Es sind Waffen aus westlichen Waffenschmieden, die heute vorrangig in den Krisen- und Kriegsgebieten im Nahen und MIttleren Osten zum Einsatz kommen: bei Hizbollah und Hamas ebenso wie in Israel und jetzt auch beim IS. Es ist also der Westen, der überall in der Welt Krieg führt und seinen Produktivitäts- und Finanzvorsprung nutzt, um andere für sich die Drecksarbeit machen zu lassen, in dem er sie mit Waffen ausrüstet. Soll heißen: Wir erkaufen uns unser kleines, friedliches Idyll in Europa mit dem Leid und dem Elend anderer. Doch was wird mit diesen anderen, die irgendwo im Libanon oder in der Türkei in Flüchtlingslagern ein elendigliches Dasein fristen? Sie schauen nach Europa mit wachsendem Hass. Denn wenn es darauf ankommt, will man dort nicht einmal diejenigen anstandslos aufnehmen, die durch sein Machtstreben heimatlos wurden.

Eine Frau legt in Paris unweit des Clubs Le Bataclan Blumen nieder.  Quelle: „Paris Shootings - The day after (22619617229)“ von Maya-Anaïs Yataghène. Lizenziert unter CC BY 2.0 über Wikimedia Commons
Eine Frau legt in Paris unweit des Clubs Le Bataclan Blumen nieder. Quelle: „Paris Shootings – The day after (22619617229)“ von Maya-Anaïs Yataghène. Lizenziert unter CC BY 2.0 über Wikimedia Commons
Wer wenigstens versuchen will, zu verstehen, woher dieser Hass auf alles Westliche kommt, der die Attentäter von Paris antrieb, muss sich mit all dem auseinandersetzen, das wir hier sonst sorgsam ausblenden, nicht wahrhaben wollen. Europa ist nicht der Hort des Friedens und der Freiheit, der es so gerne vorgibt, zu sein. Wir verstsehen es nur blendend, Frieden und Freiheit hier zu kultivieren, von exportieren hat niemand etwas gesagt. Aber selbst der Blick nach innen offenbart Abgründe. Schauen wir nach Frankreich – dem Ort des neuerlichen Terrors. Mindestens 3000 Menschen aus Europa sollen in den Reihen des IS kämpfen. Wer sind sie? Die meisten von ihnen sind Muslime, Zuwanderer vorrangig aus dem Maghreb, die in ihrer französischen Heimat nie Fuß zu fassen vermochten. Bis heute sind Muslime in Frankreich zu einem großen Teil kaum integriert. In gettoartigen, tristen Quartieren in den Vorstädten der großen Städte, den sogenannten Banlieus, fristen viele von ihnen ein Dasein abseits der Gesellschaft, vergessen, ausgegrenzt, ohne Perspektive. Als im Jahr 2005 in den Banlieus Barrikaden errichtet wurden, Autos und Mülltonnen brannten und insbesondere die Jugend revoltierte, hätte das ein Alarmsignal für die französische Regierung sein müssen. Doch was tat man? Nichts. Man griff hart durch und alles lief weiter wie gehabt, nachdem sich die Lage nach Wochen wieder beruhigt hatte. Frankreichs 5,7 Millionen Muslime (fast 10 Prozent der Bevölkerung) finden sich auch heute zu einem signifikanten Teil am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala wieder. Mit dem Erstarken des rechtspopulistischen Front National sind sie zudem verstärkt Übergriffen und Anfeindungen ausgesetzt. Nicht wenige derjenigen, die damals als Teenager auf die Barrikaden gingen, dürften heute als junge Erwachsene verbittert, resigniert und perspektivlos sein. Der Staat, in dem sie leben, bietet ihnen keinerlei Perspektive, während direkt nebenan der Reichtum funkelt. So etwas ist in der Lage, Wut, ja sogar Hass zu erzeugen. Hass auf Staat und Gesellschaft, die sie nicht will. Diffuse Frustrationen machen sie zu idealen Opfern von Hasspredigern aller Art, für religiösen Fundamentalismus. Wer hasst, stumpft ab, unterscheidet irgendwann nicht mehr zwischen gut und böse, sucht nur noch nach Schuldigen und sinnt auf Strafe. Doch niemand wird als hasserfüllter Fundamentalist geboren. Es ist die Gesellschaft, in der er lebt, die ihn zu dem macht, was er ist.

Wenn etwas derart Grausames geschieht, wie in Paris am vergangenen Freitag, dann muss man sich immer die Frage stellen: Woher kommt es? Es reicht nicht, das übliche Mantra der eigenen moralischen Überlegenheit zu predigen und die Schuld allein bei jenen zu suchen, die ohnehin nicht mehr haftbar gemacht werden können. Sie sind schuldig der Tat als solcher. Doch wenn wir solche Taten in unserer Mitte nicht mehr wollen, dann müssen wir fragen, wer und was diese einst unschuldigen, freundlichen Kinder zu grausamen Bestien hat werden lassen. Es ist ein Trugschluss, zu glauben, dass wir Terror dieser Art besiegen oder verhindern könnten, wenn wir nur noch mehr Waffen nach Syrien oder den Nahen Osten schicken, noch mehr Soldaten, noch mehr Geld in die Aufrüstung der natürlichen Gegner unserer Feinde dort stecken und uns in Europa noch mehr abschotten und verbarrikadieren. Wir müssen die Ursachen in unseren eigenen Gesellschaften bekämpfen, die dazu führen, dass schon ganz junge Menschen hier keinerlei Perspektive sehen, sich abgelehnt und diskriminiert fühlen – weil sie vorgeblich „falschen“ kulturellen Werten folgen. Nur dann werden sie mit proportional wachsender Wahrscheinlichkeit empfänglich sein für fundamentalistische Ideen, die scheinbar auf denselben Schuldigen zielen, den sie selbst ausgemacht haben (in diesem Fall westliche Werte und Lebensweisen und die Institionen, die dafür stehen).

Doch genau in dieses Horn wird auch nach Paris 13/11 wieder verstärkt geblasen. Von allen Seiten wird nach Krieg, Kampf, nach dem Schutz unserer Werte und nach dem Dichtmachen von Grenzen gerufen. Wenn etwa der CSU-Politiker Markus Söder auf allen Kanälen Beiträge verlinkt, die den „forcierten europäischen Selbstmord“ (durch Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge) propagieren (Facebook), und aus den Terroranschlägen lauthals den Schluss zieht: „Paris Attacks ändert alles. Wir dürfen keine illegale und unkontrollierte Zuwanderung zulassen.“ (Twitter) – dann zeigt das deutlich, wie weit die innere Fehlwahrnehmung bereits vorangeschritten ist. Solche Parolen sind Wasser auf die Mühlen von Rechtspopulisten und Menschenverachtern. Und wenn wir jetzt nicht wachsam sind, dann wird sich die Stimmung der Bestürzung, der Trauer und der Ohnmacht zu einer ähnlichen Dynamik aufschaukeln, wie wir das 2001 nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York erlebten. Damals nahm ein unheilvoller Weg seinen Lauf, der alles veränderte. Seither gilt in unserer westlichen Welt der Islam als Inbegriff alles Schlechten und Verachtenswerten. Und die Attentate, aber auch der Umgang damit seitens der Medien und der politischen Eliten ebnete den Weg für eine Reihe von Kriegen und Konflikten, an denen der Westen maßgeblich beteiligt war. Jedem rational denkenden Menschen muss aber klar sein, dass wir damit vor allem unsere eigene Sicherheit gefährden. Krieg und Terror werden durch Krieg, Terror oder Diskriminierung nicht verhindert, sondern geschaffen. Und wie ich bereits zu Jahresbeginn nach dem Anschlag auf die Redaktion des Satire-Magazins Charlie Hebdo schrieb: Weise Entscheidungen – und die braucht es jetzt – fordern Besonnenheit und Weitsicht, keine Betroffenheits- und Wutspirale, in die man sich hineinsteigert. Aber genau diese Spirale ist bereits in Gang geraten. Sie wird zu weiteren unüberlegten Schritten führen, die alles noch verschlimmern, aber keines unserer Probleme lösen.
Ja – die Täter waren Muslime. Aber es sind auch Muslime weltweit, die diese Tat verurteilen, die vor den Gräueltaten des IS ins vermeintlich sicherere Europa fliehen. Wenn man sich das alles vor Augen führt, ist der Schritt zur Erkenntnis nicht weit, dass Europa und die Großmächte mit ihrem Vormachtstreben die Geschicke der Welt wesentlich entscheiden – mit allen Folgen, die das mit sich bringt. Wer diese Folgen nicht will, muss die Ursachen, nicht die Symptome bekämpfen. Und deshalb bin ich – wie schon im Januar – nicht Charlie, nicht Frankreich, nicht Paris. Ich fühle mit den Toten, den Angehörigen. Aber ich hinterfrage auch die französische Außen-, Innen- und Integrationspolitik kritisch. Die Flucht in den Nationalismus wird Frankreich keinen Frieden bringen. Den wird es erst dann geben, wenn es seine massiven ethnisch begründeten sozialen Unwuchten in den Griff bekommen hat und sich zu seinen Muslimen als Teil seiner ethnischen und kulturellen Kultur bekannt hat und die dahingehend bestehenden Probleme adressiert. Für Deutschland gilt im Übrigen dasselbe.