Es knarrte, als er sich auf das Möbel niederließ. Seine Hände fuhren unsicher über den samtartigen Stoff, die rechte alsbald nach oben in Richtung Mund. Der Zeigefingernagel musste dran glauben.
Er hörte kaum, was sie sagte.
Irgendwann tauchte er auf aus seiner Lethargie – etwas hatte seine Aufmerksamkeit geweckt.
„Sie wollen also wissen, wo ich herkomme? Wie ich meine Kindheit verbracht habe? Nun…“
Minutenlang Schweigen.
Dann wurde er plötzlich lebhaft.
„Von unserem Zimmerfenster aus konnten wir direkt auf die Straße und den dahinter liegenden Park schauen. Dort haben wir oft gespielt.
„Der Platz“, wie wir die grüne Oase direkt vor unserer Tür einfach nur nannten, war tatsächlich platzähnlich gestaltet, mit einer großen Freifläche an der Südseite zur Wohnbebauung hin und nach Norden hin schließlich in baumgesäumte Rasenflächen, Buschwerk und bewaldete Hügel übergehend. Der Platz war unser Paradies, die alte Eiche rechts des Mittelweges unsere Festung.
Im Winter war der in ein weißes Kleid gehüllte Ort ein einziges Wintermärchen, die sanften Hügel luden zum Skifahren und Rodeln ein. Es gab kaum einen Tag, an dem wir den Platz nicht unsicher gemacht hätten.
Sie kennen den Ort wahrscheinlich nicht, von dem ich spreche.
Zu Zeiten des alten Preußen war er als Exerzierplatz der Heeresschule angelegt worden, deren Anlagen nördlich des Platzes im 2. Weltkrieg zu Teilen zerstört worden waren. Was übrig blieb, wurde dann während der sowjetischen Besatzung von der Sowjetarmee in Beschlag genommen und arg heruntergewirtschaftet. So war „der Platz“ im Westen und Norden von Kasernenanlagen umschlossen und diente den dort stationierten sowjetischen Truppen als Trainingsgelände, sowie als Freizeitanlage für die Anwohner. Tja, der Anblick von olivgrünen Uniformen mit goldenen Schulterklappen und roten Sternen darauf war für uns Kinder alltäglich.
Spätestens ab der 5. Klasse war in der Schule Russisch Pflichtfach für alle. Viele der Freunde meiner Schwester konnten daher bereits etwas Russisch und gaben einige Brocken auch an uns Jüngere weiter. So konnten wir uns einigermaßen mit den Soldaten aus der Kaserne verständigen.
Ungezählte Stunden lungerten wir in großer Zahl an der Mauer im Park herum, die unsere Welt von der der Sowjetsoldaten trennte, erklommen sie und warfen einen Blick auf das militärische Gelände, das wüst war und voller Soldaten und Material.
Eine eigene Schweinezucht gab es da, einen holprigen Trainingsplatz und einige provisorisch ausschauende Gebäude. Schwere LKW kurvten herum und zerfurchten den morastigen Boden, spuckten Soldaten in Uniform aus, brachten Material und Lebensmittel oder luden Fracht. Es sah eigentlich weniger wie in einer Kaserne aus, sondern eher wie in einem etwas heruntergewirtschafteten Bauerngut: Soldaten sägten Bauholz, beluden LKWs und züchteten Schweine. Oft halfen wir Kinder ihnen beim Holzhacken, Sägen oder hielten die Tore für ein- und ausfahrende Truppen auf. Wir taten das freiwillig und gern. Kein Wunder: Für uns waren sie Helden, unsere Freunde – wir verehrten sie! So hatte man es uns beigebracht, in der Schule.
Unser Hauptinteresse galt aber den Soldatenkindern, die oft auf dem Kasernengelände mitarbeiteten oder Sport trieben. Diese Kinder waren für uns ein Buch mit sieben Siegeln. Sie waren, so schien es mir, ganz anders als wir. Sie besuchten eigene Militärschulen, wurden vom deutschen Alltag weitestgehend abgeschirmt und sprachen daher meist kein oder nur sehr wenig Deutsch. Sie trugen immer uniformähnliche Sportanzüge, spielten auf eine Art, die uns fremd war – so raubeinig und freudlos – und schienen uns deutsche Kinder mehr oder weniger zu schneiden, während ihre Väter immer freundlich zu uns waren und uns oft kleine Geschenke machten.
Anders die Kinder. Sie warfen Steine nach uns, sobald wir uns auf der Mauer zeigten, und schrieen uns Worte zu, die nicht sehr freundlich klangen. Wir konnten damals nicht verstehen, warum sie so abweisend zu uns waren, wo ihre Väter doch so nett schienen. Man hatte uns in der Schule eingetrichtert, dass Sowjetrussen die besten Freunde der Deutschen seien und dass uns der Kampf gegen Faschismus und Imperialismus einte.
Und so dachten wir, dies wäre ein Spiel, ihre Art, zu spielen – und wir wollten mitspielen. Also warfen wir Steine zurück und es brachen regelrechte Schlachten an der Mauer im Park aus.
Aus dem „Spiel“ wurde jedoch zusehends Ernst. Meine Schwester wurde von einem fliegenden Stein am Rücken getroffen und bekam kaum noch Luft. Stürze von der Mauer beim fluchtartigen Verlassen endeten mit gebrochenen Armen.
An dem Tag, an dem ich begriff, dass es für diese Kinder kein Spiel, sondern bitterer Ernst war, hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben wissentlich Todesangst.
Wir waren wie so oft auf die Mauer geklettert und versuchten uns in kindlicher Diplomatie. Diese Kinder mussten doch zum Frieden zu bewegen sein. „Chotschetje igratch?“ forderten wir sie in wackeligem Russisch zum Spielen auf und fragten, ob wir nicht rüberkommen dürften. Sonderbarerweise willigten sie dieses Mal ein und schienen freundlicher als sonst. Sie machten uns Zeichen, dass wir hinüberkommen sollten. Einige von uns sprangen sogleich von der Mauer auf das Kasernengelände, so auch ich. Dass es sich um einen Hinterhalt handeln könnte, kam keinem von uns in den Sinn.
Kaum waren die ersten von uns unten, da stürzten sie auf uns los. Mit Stöcken und Metallteilen, die zuhauf auf dem Gelände herumlagen, bewaffnet, rannten sie auf uns zu, Mädchen und Jungen, keiner älter als 12. Ich war acht.
Es gab ein kurzes wüstes Geschiebe und Geschlage, begleitet von zweisprachigem Geschrei. Die älteren Jungs, die mit mir von der Mauer gesprungen waren, schafften es ruckzuck wieder nach oben, ich aber war zu klein und zu langsam. Ich spürte wie von unten grobe Hände nach mir griffen und mich gewaltsam zurück auf das Kasernengelände befördern wollten. Kraftlos rutschten meine Hände schließlich vom Mauergestein ab und ich plumpste zurück auf den lehmigen Boden.
Vier Jungen, etwa zwischen sieben und zehn, hatten mich umringt und grob in die Mauerecke zurückgedrängt. Die Mädchen hatten sich zwischenzeitlich abgewandt, sie hielten sich abseits, lachten und machten schadenfrohe Kommentare. Die Jungs hingegen setzten gewichtige Siegerminen auf, lachten mir gehässig ins Gesicht und schrieen mir Worte entgegen, die ich nicht verstand. Sie schaukelten sich gegenseitig hoch, die Atmosphäre wurde bedrohlicher. Panik ergriff mich, ich zitterte. „Lasst mich!“ rief ich angsterfüllt, und das einzige russische Wort, das mir in meiner Not einfiel: „Druschba!“ („Freundschaft“). Doch sie hörten nicht auf, lachten, zogen an meinen Haaren. Einer zog mir die Hose runter. Es war demütigend. Das waren keine Freunde.
Ein Junge, nicht älter als ich, drängte sich vor die anderen und gab mir eine Ohrfeige, als er ein zweites Mal ausholte, wehrte ich reflexartig mit einem Gegenschlag seine Hand ab. Seine Augen wurden ganz schmal vor Feindseligkeit und Zorn.
„Faschisti!“ zischte er. Das verstand ich. Während ich noch das Wort verdaute und langsam begriff, dass diese Kinder uns feindselig gesonnen waren, sah ich etwas aufblitzen. Es war ein Messer. Ein kleines Klappmesser, nicht größer als ein Schweizer Taschenmesser. Ich starrte dem Jungen ins Gesicht. Ein weiches Kindsgesicht, dessen ganze Sanftmut heruntergerutscht war, wie Butter von einer heißen Kartoffel. Seine Haare waren braun und seine Augen hellgrau, er war etwa so groß wie ich. Die Messerklinge tauchte zwischen unseren Gesichtern auf, er fuchtelte mir damit vor der Nase herum und vollführte unter gellenden Begeisterungsschreien seiner Freunde martialische Bewegungen, die demonstrieren sollten, wie er mir die Kehle durchschnitt.
Ich weinte nicht mal. Ich war wie gelähmt. Hinter der Mauer erhob sich das entsetzte Geschrei meiner Schwester, sie schrie, dass sie aufhören sollten und dass jemand mir helfen sollte. Von oben hörte ich ein aufgeregtes „Wir müssen langsam was unternehmen…“ Ich nahm das alles wie durch eine starke Glaswand wahr, meine Augen fixierten unablässig die Klinge vor meiner Nase.
Die russischen Mädchen, die zuvor aus sicherer Entfernung dem Treiben zugesehen hatten, bereiteten dem Ganzen schließlich ein Ende. Sie kamen und riefen die Radaubrüder zur Räson. Der „Spaß“ ging jetzt anscheinend sogar ihnen zu weit. Meine Augen fixierten die Klinge noch immer, als sie in der schmuddeligen Hosentasche des Jungen verschwand. Im selben Moment stürzten meine Kameraden mit Kampfgeheul von der Mauer auf das Kasernengelände herab und schlugen auf die Übeltäter ein. Arme zogen mich von oben die Mauer hinauf, sobald alle meine Peiniger in die Schlacht verwickelt waren. Ich war gerettet. Ich lachte, obwohl mir zum Heulen zumute war und mein Herz bis zum Hals schlug. Ich lachte aus Trotz, weil ich wütend war – diese hasserfüllte Brut sollte meine Tränen nicht sehen, sie sollten nicht mal ahnen, wie viel Angst sie mir tatsächlich gemacht hatten und wie tief mich ihre schroffe Ablehnung traf. Was hatten wir ihnen getan? Was hatte ich getan? Mir war zuvor noch nie ein Mensch begegnet, der mich einfach dafür zu hassen schien, dass es mich gab.
An der Mauer war ich danach nie wieder. Ein paar Mal noch sah ich den Jungen, der das Messer geschwungen hatte, im Park in der Nähe der Mauer. Ich machte einen weiten Bogen um ihn. Mein Heldenbild von den Sowjetsoldaten war mit einem Schlag zerschmettert. Nun wusste ich, wie sie tatsächlich über uns dachten, denn ich wusste, was sie ihren Kindern erzählten. Ich wusste, dass sie nicht als Freunde hier sein konnten.
Ich weiß, Sie werden sagen, dass klingt gnadenlos pauschal, doch damals, mit acht, dachte ich so.
Erst 20 Jahre später stand ich wieder an der Stelle. Die Mauer stand zum Teil immer noch da, viel niedriger schien sie mir nun, so gar nicht mehr unüberwindbar, teils durch einen grünen Bauzaun ersetzt, doch das Gelände dahinter war verlassen. Die provisorischen Gebäude waren in einzelne Betonplatten zerlegt worden. Unkraut überwucherte den Platz. Im Boden waren immer noch die Spuren schwerer Fahrzeuge erkennbar.“
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Schweigen.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil ich in diesem Moment lernte, zu hassen.“