Die 13-jährige Britin Alma Deutscher gilt als Wunderkind der klassischen Musik. Und sie ist Jüdin. Im Mai trat sie vor Russlands Autokrat Wladimir Putin auf – und widmete ihm ein Stück. Die Kreml-Presse jubelte.
Süß die Kleine. Nein, wirklich! Und Talent hat die auch noch! Solche Kinder werden früher oder später alle den Mächtigen dieser Welt zur kulturellen Erbauung vorgesetzt. Mal schüchtern, mal selbstbewusst lächelnd. Mit wem sie es zu tun haben, erfahren sie meist erst als Greise, wenn die Weltgeschichte ein neues unrühmliches Kapitel geschrieben und ihre Teufel benannt hat. Führerkinder: Alma Deutscher weiterlesen
Februar 1987. Dresden, ach Dresden. Einem jeden von uns blutet das Herz beim Gedanken daran, dass wir die Stadt vielleicht schon in wenigen Wochen wieder verlassen müssen. Wann hat man je einen Ort von solch erhabener Schönheit gesehen? Das heißt, eigentlich ist die Stadt ja weniger schön mit all ihren noch immer sichtbaren Kriegswunden und -narben, als dass man ihre einstige Schönheit noch immer erahnen kann, und an manchen Stellen schwingt sie sich zu voller Blüte auf. Im Zwinger zum Beispiel, ja, ich erinnere mich noch gut an unseren Besuch dort im letzten Juni. Tschemuschin, unser damaliger Alter und ein echter Schlächter, hatte uns – damals noch blutige Grünschnäbel kurz nach dem Grundwehrdienst – die halbe Nacht lang traktiert: antreten, Liegestütze, die Nationalhymne singen, hinlegen, wieder antreten… und so weiter. Und dazwischen mit Schlägen und Tritten nicht gespart. Der Teufel soll in holen, den alten Drecksack. Am nächsten Tag sind wir jedenfalls völlig ramponiert zu dem Ausflug aufgebrochen, auf den wir uns alle so gefreut hatten – fest entschlossen, uns das von keinem verfluchten Tschemuschin der Welt verderben zu lassen. Der Zwinger war beeindruckend, besonders die Inschrift dieses Teufelskerls Hanutin, des Minenräumers, die auch über 40 Jahre später noch in der Zwinger- und auch an der Schlossmauer erkennbar ist.
Doch auf dem Weg dorthin offenbarten sich uns in einem Anflug von grausamem Realismus die Schattenseiten der Stadt. Ein Viertel unweit unseres Städtchens, fast scheint es von Gott und aller Welt vergessen: dreckig, die Häuser schwarz von Ruß und Abgasen, manche kriegsversehrt, vor sich hinmodernd oder bereits ruinös, nur teilweise noch bewohnt. Tschemuschin lachte grimmig, als er unsere betroffenen Blicke angesichts all des Verfalls sah, an dem wir mit der Straßenbahn vorbeiholperten. Es war unser erster richtiger Ausflug aus der Kaserne gewesen und irgendwie hatten wir mit so viel offensichtlichem Elend in einem Land, das bei uns daheim für seine Fortschrittlichkeit bewundert wurde, nicht gerechnet. „Soll eh alles bald weg“, hatte Tschemuschin, der verwitterte Mittdreißiger, abfällig hinter seiner Zigarette hervorgenuschelt. „Wird mal ein echtes Sternenstädtchen, alles neu und sauber. Aber nicht für so kleine Verlierer wie euch. Da kommen die Anständigen hin, die Fleißigen, die, die dem Vaterland Ehre machen.“
Was Tschemuschin, die anderen und auch ich damals nicht wussten: Das Viertel, die Neustadt, am nördlichen Elbufer gelegen, wird nicht fallen zumindest nicht sofort. Und es gibt auch noch Menschen, die dort wohnen. Sie wird nicht fallen, weil sich viele dieser Bewohner dagegen organisieren werden. Sie werden auf die Barrikaden gehen, um ihre Heimat vor dem Abriss zu retten – und damit auch ein Stück Kultur- und Lebensraum. Die Neustadt ist für sie ein Refugium, in dem sie sich vergleichsweise frei bewegen können, wo in verfallenen Hinterhöfen kreative Impulse Raum finden, sich zu entfalten, wo sich verräucherte Kneipen, Ateliers und Wohnungen auf wundersame Weise in abrissreifen Häusern halten. Viele junge Familien wohnen dort, Studenten, Künstler, die junge Intelligenz, aber auch gesellschaftlich Ausgestoßene, Penner. Omelnitschenko, Unterleutnant und der Zugführer unseres achten Panzerausbildungszuges unserer vierten Kompanie des ersten Bataillons, hat mir nach einem seiner mehr oder weniger legalen Ausflüge in eine bei sowjetischen Offizieren beliebte Bar im besagten Viertel in lebendigen Farben davon erzählt. Omelnitschenko ist in Ordnung, man kann im vertrauen. Einer der wenigen hier aus dem Offizierskorps. Hat mir sogar versprochen, mich mal dorthin mitzunehmen, sollte ich nach der Ausbildung in Dresden stationiert werden und meine Balken erhalten. In der Neustadt, so schilderte nun Omelnitschenko, herrsche quasi Anarchie. Dort lebe jeder, wie es ihm gefiel, und ein allseits bekannter Wirt weise jedem, der nachfragte, den Weg in eine Kommunalka in einem besonders verfallenen Haus, in der freie Liebe praktiziert werde – jeder mit jedem. Der gute Jaschka Omelnitschenko, kaum zwei Jahre älter als ich, hat mich geneckt und ausgelacht, weil ich ganz rote Ohren bekommen hatte. Nun ja, ich gestehe, wir Kursanten haben hier nach einem halben Jahr auf dem Trockenen alle ein ziemliches Defizit in Sachen Liebe entwickelt – und anderthalb weitere Jahre noch vor uns!
So ist das also mit dem hässlichen Dresden: Die Neustadt, eine Enklave wie aus einer anderen Welt. Und deren Bewohner, deren harter Kern der Kampf um Wohn- und Lebensraum und um freie Entfaltung zusammengeschweißt hat. Wahrscheinlich wissen sie ganz genau, dass die sozialistisch-futuristischen Neubauten, die hier geplant sind, nicht für sie gedacht sind. Aber vielleicht können sie sich auch einfach gar nicht vorstellen, in solch beengten Verhältnissen, in einem mit dem Lineal gezogenen, tristen Trabanten, zu hausen? 10000 Menschen leben noch in der ausblutenden Neustadt. Immer mehr ziehen weg. Würden die Neubaupläne verwirklicht, würden es plötzlich Zigtausende sein, die sich dieselbe Fläche teilen müssten, zu teureren, für viele unerschwinglichen Mieten. Der Kampf dieser Menschen um ihr Stückchen Heimat und sei sie auch in einem noch so desolaten Zustand, und die vielen Geschichten und Mythen, die sich in unseren Reihen um das angeblich freizügige Leben dort ranken, faszinieren mich auf eine Weise, die schwer zu erklären ist. Bei uns daheim kenne ich niemanden, der mit derartigem Verve um ein paar alte Bauten kämpfen und sich dafür auch noch mit der Staatsmacht anlegen würde. Denn das werden sie. Zunächst mit Erfolg.
Jahre später.
Die Neustadt wurde nicht abgerissen, stattdessen kam die Wiedervereinigung. Unsere Truppen jagten die Deutschen zum Teufel, gut, dass ich das nicht mehr miterleben musste. Aber im Prinzip fand ich es richtig so. Fast 50 Jahre waren doch wirklich genug. Zumal ich von Jaschka wusste, dass wir einfachen Jungs vielen Deutschen einfach nur leidtaten. Und nichts könnte schlimmer sein als bemitleidet zu werden. Dabei konnten einem eigentlich die Deutschen leidtun: zu Befehlsempfängern degradiert im eigenen Lande und der Willkür einer fremden Macht vollends ausgeliefert. Das änderte sich nun schlagartig. Und die logische Konsequenz für uns konnte nur lauten: Abzug. Und überhaupt hatten wir ja alsbald bei uns daheim mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen.
Aber was wurde aus der modrigen Neustadt, die mich so fasziniert hatte? Sie wurde zum Sanierungsgebiet. Es gab also erst mal kaum neue Häuser, sondern die alten, eigentlich so herrlichen Gründerzeitbauten wurden aufwendig saniert, manche abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Die Neustadt füllte sich langsam wieder mit Leben. In den folgenden 30 Jahren wird sich die Zahl ihrer Bewohner fast verdoppeln. Doch die Menschen, die damals so gekämpft haben, haben den Kampf trotzdem verloren. Sie kämpften ja nicht nur um den Erhalt der Bausubstanz, sondern vorrangig um ihre Lebensphilosophien und Träume, um das, was sie in all den Jahren der Nichtbeachtung durch den Staat mit eigenen Händen geschaffen hatten. Das waren vor allem soziale Errungenschaften: Arbeitslosentreffs, trockene Wohnungen für Familien und alte Menschen, Räume für Kunstschaffende, Kinderspielplätze, Straßenfeste – alles Dinge, die der Gemeinschaft dienten, nicht dem Einzelnen. Von alledem ist heute kaum etwas geblieben. Die Häuser sind neu und schick – aber sie gehören nicht mehr den Menschen, sondern raffgierigen Kapitalisten – so wie fast alles andere auch. Raum für freie Entfaltung gibt es kaum noch. Die Menschen treten sich gegenseitig auf die Füße, und der einstige Geist von Freiheitlichkeit, Aufmüpfigkeit und Solidargedanke ist im Grunde hinweggeblasen, niedergewalzt von der Planierraupe des Kapitalismus. Längst ist sich in der Neustadt jeder selbst der Nächste. Anders als damals hat das Viertel heute den Ruf eines Party- und Amüsierviertels weg. Die Straßen sind gesäumt von Kneipen, ein Club reiht sich an den nächsten, schließt der eine, öffnet ein anderer. Und die Betreiber rühmen sich gar des Monsters, das da erschaffen wurde, ja sie wetteifern förmlich um den Status des Wegbereiters dieser „neuen Neustadt“. Und sie sehen sich – und das ist das eigentlich Groteske dabei – in der Tradition ausgerechnet jener, für deren Träume sie im Grunde zum Totengräber wurden. Es ist ein seltsames Klima, wenn man durch die Straßen geht: ein Viertel, das in sich selbst verliebt ist für etwas, das es längst nicht mehr ist, das nur noch als Tagebucheintrag in den Aufzeichnungen der Altvorderen existiert, als gerahmtes Kalenderblatt in der Stadtteilchronik des hiesigen Museums.
Bei uns daheim gibt es ein schönes Sprichwort: „Alle sind Leute, doch längst nicht alle auch Menschen.“ Damals, als ich kurz vor meiner Entlassung aus der Armee im Herbst 1988 mit Jaschka durch die Neustadt lief, traf ich fast ausschließlich Menschen. Gute, herzliche Menschen, denen die Gemeinschaft am Herzen lag. Die meisten waren arme Künstler, Querdenker oder hart arbeitende Leute, aber alle anständig und ehrlich und tief mit ihrem Viertel verwurzelt. Mit dem wenigen, was sie hatten, versuchten sie es zu verschönern, bunt zu machen. Sie halfen einander gegenseitig dabei und versetzten auf diese Weise ganze Häuser wieder in einen bewohnbaren Zustand. Manchmal versteckten sie auch Unsere, wenn manche sich unerlaubt aus der Kaserne gestohlen hatten, um ein wenig Spaß zu haben, und ihnen die Schasskommandos auf den Fersen waren. Sie haben mein Bild von den Deutschen tiefgreifend verändert. Zum Positiven.
Wenn ich heute durch die Straßen der Neustadt gehe, ist nichts von der alten Faszination geblieben. Ich sehe ein Viertel wie so viele andere: protzig, geschäftig, übervölkert, eng, schmutzig und nur ganz vereinzelt noch trotzig – und wenn, dann an den falschen Stellen. Aufmüpfigkeit äußert sich allenfalls noch im Herumgelunger auf Straßen und Gehwegen, in den Grafitti an den Hauswänden, weniger in geistiger Beweglichkeit und solidarischer Initiative. Stattdessen hat der Profit das Ruder übernommen. Längst ist es wichtiger geworden, dass der eigene Laden läuft, sich selbst darzustellen, als dass die Nachbarn in ihren Wohnungen ruhig schlafen können. Schmutz und Lärm aus unzähligen Clubs und Restaurants verlangen den Bewohnern immer mehr Nervenstärke und Kompromissbereitschaft ab. Viele der Menschen, die damals für den Erhalt eines Gemeinwesens kämpften, sind lange schon fort. Geflohen vor dem Moloch, den die Entourage der Modernisierung und Erneuerung erschuf – auch gern als Gentrifizierung bezeichnet. Die alten Idealisten von damals – sie waren machtlos gegen die gewaltige Sogkraft des Geldes und gegen das Besitzdenken, sie passten sich an oder warfen schließlich ernüchtert das Handtuch.
„Auf der Wiese der Hoffnung weiden viele Narren“… noch so ein altes russisches Sprichwort. Sie haben wirklich geglaubt, sie könnten die Neustadt retten und die weitere Entwicklung des Viertels dauerhaft im Sinne des Gemeinwesens gestalten. Und scheiterten, nachdem die DDR Geschichte war und andere den neuen Zeitgeist für sich arbeiten ließen. Sie brauchten gar nicht viel dafür zu tun. Fast schon ein – wenn auch trauriges – Musterbeispiel für die Systematik des Kapitalismus, das jedem sowjetischen Sachbuch über den Marxismus-Leninismus zur Ehre gereicht hätte.
So viel dazu, wie der Lauf der Dinge sich manchmal auf unschöne Weise verselbständigt. Wirklich schändlich aber ist der teils schmutzige Kampf um die verbliebenen Ressourcen im fast totgespielten Viertel. Mit dem Tempo, mit dem die letzten Freiflächen mit Wohnhäusern vollgestopft werden, wächst auch das Gerangel um Vorrechte, Besitzansprüche und Deutungshoheiten. Wer war zuerst da? Bewohner oder Kneipen? Es ist verlockend, auf den Neustadt-Express aufzuspringen, der mit so originell klingenden Attributen wie „alternativ“ und „Szeneviertel“ mit Werten für sich wirbt, die längst an den Rand gedrängt wurden vom routinierten Alltag eines Handels- und Geschäftsviertels. Wohnungen werden immer teurer – und die Clubs immer lauter, um sich gegen die wachsende Konkurrenz durchzusetzen. Was ironischerweise immer seltener gelingt. Ihre Gäste kommen oft von außerhalb und treiben die Einheimischen nachts mit Gegröhle und Gelächter und am nächsten Morgen durch ihre zahlreichen Hinterlassenschaften in Straßen und Höfen in den Wahnsinn. Die Clubs selbst wiederum rauben den Anwohnern mit allnächtlichem Bass-Gedröhn den Schlaf. Es ist mir ein Rätsel, warum so viele Leute das mehr oder weniger klaglos über sich ergehen lassen. Zu Zeiten unseres guten alten Leonid Iljitsch wären solche Chaoten im Arbeitslager gelandet. Doch wer sich in der Neustadt beschwert, der sieht sich sofortigen Überprüfungen auf „Stallgeruch“ ausgesetzt: Wieso ziehst DU hierher, wenn’s dir hier bei UNS nicht gefällt? Wenn DIR egal ist, was WIR hier geschaffen haben? Da wird von „Kulturschutz“ gefaselt, wo eigentlich der Schutz der eigenen Geschäftsinteressen gemeint ist, die möglichst unbehelligt bleiben sollen von den berechtigten Interessen der Anwohner. Und wenn wir schon dabei sind: Ja, die Bewohner waren zuerst da! Als ich in die Neustadt kam 1988, da gab es eine Handvoll Kneipen, die ohne die Menschen im Viertel aufgeschmissen gewesen wären, und ansonsten einfach Menschen, die hier lebten und versuchten, das Beste draus zu machen. MITEINANDER, nicht gegeneinander. Heute dagegen sind den Kneipiers die Anwohner meist herzlich egal, interessant ist vielmehr, dass die hauptsächlich auswärtigen Gäste genug Platz zum Parken haben und die Musik möglichst bis fünf Uhr morgens auf voller Lautstärke laufen kann, damit die Bude voll bleibt und der Rubel rollt.
Um ehrlich zu sein: Die Leute, die hier heute wohnen, haben mein Deutschen-Bild erneut nachhaltig erschüttert. Diesmal zum Negativen Ich dachte immer, die Deutschen wären ein kluges, kultiviertes Volk. Aber das Geld und der Profit haben sie zu willenlosen Sklaven gemacht, die fast ausschließlich an sich selbst und das eigene Fortkommen denken. Kaum irgendwo lässt sich das anschaulicher beobachten wie in der Dresdner Neustadt.
Drei Jahre nachdem ich aus Deutschland nach Hause zurückkehrte, putschten die Reformisten um Boris Jelzin gegen die Kommunisten. Eines ihrer Hautquartiere lag nur ein paar Hundert Kilometer südlich von Sewerouralsk, in Swerdlowsk, dem heutigen Jekaterinburg. Vor sechs Jahren bin ich mit der Frau in einen Vorort Jekaterinburgs gezogen, um im Alter doch etwas näher an den medizinischen Versorgungszentren und bei den Kindern zu sein, von denen zwei schon seit Langem in Jekaterinburg leben. Sadovny hat etwas mehr als 3000 Einwohner. Es gibt im Zentrum einen kleinen Boulevard mit einigen netten Geschäften, Cafés. Wenn ich mit meiner Frau abends ausgehe, dann kehren wir in Ninotschkas kleiner Wirtschaft an der Baltym ein. Im Grunde ist hier auch 25 Jahre nach dem Ende des Kommunismus noch alles wie eh und je, nur die neuen Häuser hinter dem Teich zeugen von der Veränderung. Viele neureiche Jekaterinburger bauen sich hier draußen im Grünen ihre Wochenendsitze. Aber das ist nicht vergleichbar mit den Eintwicklungen in Dresden, der Stadt, in der ich zwei Jahre meiner Jugend zubrachte. Als ich nun von einem Besuch, auf den ich mich gefreut hatte wie ein kleines Kind und den ich im Großen und Ganzen auch sehr genossen habe, wurde mir eines klar: wie glücklich ich in meiner kleinen, dörflichen Welt doch bin, wo sich die Menschen gegenseitig achten, einander helfen und sich vor allem als Menschen betrachten, nicht als Kaufkraftfaktor.
Margot Käßmann auf dem Reformationskongress 2013. Quelle: flickr/sekfeps cc
Margot Käßmann wirkt sympathisch. Jung und dynamisch für ihr Alter. Und sie steht gern im Mittelpunkt – nicht nur auf der Kirchenkanzel, umgeben von ihren Schäfchen. Wenn man sie so hört, denkt man, dass sie eigentlich auch gerne Politikerin geworden wäre oder Politikwissenschaftlerin oder beides. Sie redet gern und liebt das Gefühl, „gegen den Strom“ zu schwimmen. Schon deshalb mag ich sie. Bei uns in der Sowjetunion gibt es solche Frauen nicht. Kalter Krieg mit Russland: Aussöhnen durch Ausblenden? weiterlesen
Der Tod des schwedischen Diplomaten vor rund 70 Jahren ist bis heute ein Mysterium. 1912 als Sohn eines Marineoffiziers und einer Mutter mit jüdischen Vorfahren geboren, nutzte der junge Legationsrat Wallenberg während des Zweiten Weltkrieges ab Sommer 1944 in Ungarn seine Stellung, um Tausende jüdische Bürger vor der Ermordung in NS-Vernichtungslagern zu retten. Zwischen Österreich und Ungarn – während des Krieges mit Deutschland verbündet – verlief später die Grenze zwischen sowjetischem und westalliiertem Einflussgebiet. Ungarn geriet noch vor dem Kriegsende 1945 unter sowjetische Kontrolle und wurde später Teil des Ostblocks. Der aus höchsten Kreisen der schwedischen Gesellschaft stammende Wallenberg und dessen Tun in einem Gebiet, das der sowjetische Diktator Josef Stalin nach dem Beginn der Besatzung am 16. Januar 1945 für sich beanspruchte, gerieten alsbald ins Visier des NKWD – des Kommissariats für innere Angelegenheit der SU, einem Vorläufer des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Raoul Wallenberg – Wer tötete den Judenretter von Ungarn? weiterlesen
Sollte Familie Nikonchuk in Deutschland bleiben dürfen? Vor Monaten setzten sich Sergej (40), seine Frau Jelena (35) und die Töchter Albina (16) und Ella (14) aus Donezk in ein Flugzeug nach Deutschland. Seit eineinhalb Jahren herrscht in einem kleinen Teil der Ostukraine ein mal mehr mal weniger intensiv geführter Krieg zwischen nationalistisch-pro-russischen Rebellen, die den Donbass von der Ukraine abspalten wollen, und der ukrainischen Regierung, die ihr Staatsgebiet nicht preisgeben will. Die Millionenstadt Donezk geriet seither immer wieder zwischen die Fronten. Insbesondere 2014 war die Stadt schwer umkämpft. Zahlreiche Menschen starben – Anhänger von Regierung und Rebellen gleichermaßen. Über Wochen mussten die Bewohner teils ohne Strom in Kellern hausen, das öffentliche Leben in der Stadt brach weitgehend zusammen. Dass hier das Weite sucht, wer immer kann – verständlich. Eine absolut menschliche Reaktion. Doch rechtfertigen ein regionaler Konflikt im flächenmäßig größten Land Europas und insbesondere die aktuelle Situation vor Ort Asyl in Deutschland?
Das Herz sagt ja, der Verstand zweifelt
Aus menschlicher Perspektive ist zumindest für mich persönlich die Sache klar: Ja, sie sollten bleiben dürfen. Weil jeder Mensch sein persönliches Glück und das seiner Familie suchen dürfen sollte. Und wenn die Familie dieses meint, in Deutschland zu finden, dann sollte man sie daran nicht hindern. So wäre meine Einstellung im Normalfall. Doch der Normalfall ist in Deutschland längst dem Ausnahmezustand gewichen. Zumindest muss man diesen Eindruck gewinnen, wenn man die 24/7-Berichterstattung in den Medien zur „Flüchtlingskrise“ und die wachsende allgemeine Hysterie in der Bevölkerung verfolgt. Doch selbst, wenn man all die Stimmungsmache ausblendet: Der Fall der Nikonchuks zeigt, wie schwer es ist, zwischen Recht und Mitgefühl abzuwägen. Denn rein vom asylrechtlichen Standpunkt her ist die drohende Abschiebung in die Ukraine absolut gerechtfertigt.
Mit dieser Petition auf Change.org wirbt eine Flüchtlingshelferin um Asyl für die ukrainische Familie Nikonchuk aus Donezk. Quelle: Change.org
Nach Artikel 16a unseres Grundgesetzes genießt Asylrecht in Deutschland, wer politisch verfolgt ist. Politisch verfolgt aber sind die Nikonchuks in der Ukraine nicht. Deshalb sollen sie nun zurück. Dagegen wendet sich eine der derzeit wie Pilze aus dem Boden schießenden Online-Petitionen einer Flüchtlingshelferin in der unterfränkischen Gemeinde Rauhenebrach, die für das Bleiberecht der offenbar bereits bestens integrierten Familie kämpft. Fast 50.000 Menschen (Stand 4.11.2015) haben sie bereits unterzeichnet. Und doch lohnt ein genauer Blick nach Donezk, in die Ukraine und auf das bisherige Leben der Familie Nikonchuk.
Zunächst haben die Nikonchuks getan, was viele Flüchtlinge tun: Sie tricksen oder schummeln, weil sie sich in ihrer Not nicht anders zu helfen wissen. Soweit in meinen Augen durchaus verständlich. Doch lag bei den Nikonchuks nun wirklich eine solch große Notlage vor, dass sie ihr Land zwingend verlassen mussten? Abgesehen von dem Konflikt, der unbestreitbar in ihrer Heimatregion, dem Donbass, tobt, schien es der Familie in ihrer Heimat nicht allzu schlecht zu gehen. Das Touristenvisum für Deutschland (ohne das hätten sie nicht per Flugzeug hierher gelangen können) konnten sie sich – im Gegenzug zu vielen anderen Flüchtlingen aus Dritte-Welt-Staaten – offenbar leisten. Um ein solches zu bekommen, hätten die Nikonchuks normalerweise nachweisen müssen, dass sie für die Reise- und Aufenthaltskosten in Deutschland für vier Personen eigenständig aufkommen können. Oder aber sie hätten eine Einladung aus Deutschland vorweisen müssen, im Zuge derer die Einladenden eine Bürgschaft in Höhe von mehreren Tausend Euro hätten hinterlegen müssen – um sicherzustellen, dass die Familie sich keines Vergehens schuldig macht. Was aber noch wichtiger ist: Die Antragsteller müssen sich verpflichten, vor Ablauf des Visums (in der Regel 90 Tage) zurückzukehren und im Urlaubsland keinen Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung zu stellen. Genau das taten die Nikonchuks aber anscheinend: Sie stellten in Deutschland einen Antrag auf Asyl – und der wurde nun offenbar abgelehnt. Die Petiteurin aber will das nicht akzeptieren.
„Unvorstellbare Zustände“ in Donezk?
Ist es wirklich so, dass die Menschen in Donezk täglich dem Tod ins Auge schauen, wie etwa die Menschen in Aleppo oder Damaskus, wo bis zu 80 Prozent der Bausubstanz zerstört sind und täglich mit Bombenangriffen zu rechnen ist, denen in den letzten vier Jahren allein in Aleppo 25000 Bewohner zum Opfer fielen? Nein, dem ist nicht so. Auch stimmt es schlichtweg nicht, dass – wie in der Petition beschrieben – alle Zufahrtswege in die Stadt vom ukrainischen Militär dauerhaft „blockiert“ werden oder die Kinder nicht mehr zur Schule gehen können, wie etwa dieses Video vom diesjährigen Abschlussjahrgang der 140. Donezker Schule zeigt. Das Leben in der Stadt mag noch immer nicht einfach sein, aber Gefechte, die die innerstädtischen Gebiete erreichen, gibt es dort seit dem neuerlichen Waffenstillstandsabkommen von Minsk vom Frühjahr dieses Jahres so gut wie gar nicht mehr. Getroffen werden allenfalls noch ab und an Vororte in einzelnen Scharmützeln und dann insbesondere der Flughafen von Donezk.
Werbung für Bustransfers von Donezk in verschiedene andere Städte der Region in einem russischen sozialen Netzwerk.
Auch können die Menschen die Stadt durchaus verlassen und wieder dahin zurückkehren. Reiseanbieter werben sehr plakativ mit Buspassagen zu allen möglichen Zielen innerhalb der Ukraine. Der Erfindungsgeist und Lebenswille der Menschen in der Stadt scheint unerschöpflich und man versucht, am ganz normalen Leben festzuhalten. Es ist also nicht so, dass in Donezk derzeit die Welt untergeht. Selbst die Rebellen-Propganda, die noch Anfang dieses Jahres auf Hochtouren lief und im Minuten takt (meist gefakte) Meldungen von angeblichen Kriegsverbrechen der „Kiewer Junta“ und weinenden Kindern auswarf, hat spürbar an Fahrt verloren, weil es vergleichsweise ruhig ist im Osten der Ukraine und so gut wie keine Opfer unter der Zivilbevölkerung mehr zu beklagen sind. Man müsste all diese Gräuel an der Zivilbevölkerung komplett erfinden, statt sie wie früher einfach nur aufzubauschen.
Keine Verfolgung russischer Muttersprachler in der Ukraine
Doch da ist noch etwas, das einen ins Nachdenken geraten lässt. Sowohl Sergej als auch Jelena Nikonchuk verfügen über Profile in einem sozialen Netzwerk. Dort eröffnet sich ein sorgloses Familienidyll in Fotos. Offenbar machte die Familie im extrem umkämpften Donezker Sommer 2014 noch mit Freunden Urlaub am Meer. Vermutlich auf der im März 2014 von Russland völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim, auf der sie schon früher Urlaub machten. Fluchtgedanken scheinen die Nikonchuks offenbar erst entwickelt zu haben, nachdem Kiew der Stadt und ihren Bewohnern nach der Ausrufung der Volksrepbulik Donezk durch prorussische Rebellen Ende November 2014 den Geldhahn abdrehte. Seither bleiben Banken und Geldautomaten geschlossen. Immer wieder haben Jelena und Sergej Nikonchuk zudem ihre Zustimmung zu Beiträgen abgegeben, die die Regierung in Kiew für den Krieg im Donbass verantwortlich machen. Diese – so glaubt offenbar auch Jelena Nikonchuk – habe der russischen Sprache den Krieg erklärt, statt der Korruption oder der Kriminalität. Dabei war die russische Sprache in der Ukraine zu keinem Zeitpunkt bedroht – weder durch die zeitlich von vorn herein begrenzte Übergangsregierung noch durch die im Herbst 2014 demokratisch gewählte neue Regierung Poroschenko.
Nun darf jeder seine Meinung zur Genese und zu den Verwantwortlichkeiten im Ukraine-Konflikt haben. Und sicher darf man und will ich die Familie auch nicht verurteilen dafür, dass sie sich in all diesen komplizierten und schwer zu überblickenden Wirren irgendwie eine solche bildet. Auch will ich nicht so verstanden werden, als würde ich die Familie und ihre Motive irgendwie in ein schlechtes Licht rücken wollen. Es geht mir darum, den doch sehr emotionalisierenden und teilweise regelrecht falschen Darstellungen im Petitionstext die realen Verhältnisse vor Ort gegenüberzustellen. Vielleicht sehen auch die Nikonchuks die Lage in ihrem Land mit etwas Abstand heute schon wieder ganz anders. Trotzdem stellt sich die Frage, warum man nach Europa flieht, zu dem die neue Regierung sich ja gerade hinwenden möchte, und nicht etwa ins weit näher gelegene Russland? Dort hätte man der Familie sicherlich Asyl gewährt, weil man die russischsprachigen Ukrainer als verfolgte Angehörige des eigenen Volkes betrachtet, die man schützen muss. Die deutsche Position dazu sieht bekanntlich anders aus – und genau aus diesem Grund wurde der Antrag der Nikonchuks offenbar auch abgelehnt.
Tatsächlich muss man nicht einmal das Land verlassen, wenn man der ständigen Instabilität in Donezk entkommen möchte. Die Nikonchuks hätten genauso gut nach Kiew oder in die Westukraine ausweichen können. Dort herrscht Frieden. Und es gibt auch keinen Islamischen Staat, der kopfabhauend und brandschatzend immer weiter durchs Land zieht wie in Syrien oder dem Irak. Aber aus irgendeinem Grunde wollten die Nikonchuks ihrem Land den Rücken kehren. Vielleicht wollte man einfach auch auf der aktuellen Flüchtlingswelle, die Richtung Europa treibt, mitschwimmen. Nun mag man argumentieren, dass ja auch Menschen vom Balkan aus ganz ähnlichen Gründen herkommen, und Asyl beantragen. Richtig – und aus genau denselben Gründen werden ihre Asylanträge derzeit auch fast alle abgelehnt. Und warum – so muss man vielleicht auch die 23-jährige Europastudentin Lena Schuster fragen – sollte es den Nikonchuks da anders ergehen als etwa einer Familie aus dem Kosovo? Weil sie wohlhabend sind? Gebildet? Sollte nach diesen Kriterien wirklich über Hilfe für Menschen entschieden werden, die alle gleichsam ihr Glück suchen?
Nein. Deutschland muss – und diese Ansicht unterstütze ich mittlerweile – in der Asylfrage konsequenter und gerechter sein, wenn es sein geltendes Asylrecht gerade angesichts der momentan angespannten Situation nicht vollends ad absurdum führen will.
Zuwanderung nach Proporz sorgt für steigende Asylzahlen
Warum aber ist die Situation angespannt? Weil gerade im Jahr 2014 und Anfang 2015 weit mehr Menschen wie die Nikonchuks Asyl bei uns beantragt haben, die gar kein Anrecht darauf haben, als solche, die es hätten. Auch wenn ihre Anträge bereits abgelehnt wurden, leben viele von ihnen noch immer in Deutschland in Heimen und Wohnungen und sitzen ein Widerspruchsverfahren aus. Rechtspopulisten und Rechtsextreme wie AfD oder NPD würden jetzt sofort wieder die Keule vom vermeintlichen „Asylmissbrauch“ und „Asyltourismus“ schwingen. Aber das ist eben genauso einfach gedacht, wie man es der klassischen Zielgruppe dieser Parteien maximal zumuten kann. Das eigentliche Problem liegt ganz woanders und ist ein zutiefst strukturelles. Tatsächlich ist es so, dass der Asylantrag für Menschen aus Armutsregionen und mit unterdurchschnittlicher Bildung der einzige Weg ist, überhaupt erst einmal in Deutschland „einen Fuß in die Tür“ zu bekommen. Und genau DAS ist der Systemfehler, der uns jetzt auf die Füße fällt. Nicht etwa, dass unser Zuwanderungssystem noch nicht restriktiv genug wäre – es ist vielmehr zu streng, zu exklusiv, zu selektiv, da von vorn herein Menschen ausschließend, die wir in unserer Überheblichkeit als „nutzlos“ für unser eigenes Fortkommen und damit als „wertlosen Ballast“ betrachten.
Wer aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland oder nach Europa kommen will, sollte dazu auf legalem Wege Gelegenheit bekommen – allerdings in einem gesonderten Verfahren und damit keinesfalls unkontrolliert, wie manche befürchten mögen. Und es müssen vor allem ALLE EU-Mitgliedsstaaten dabei mitziehen und entsprechende Strukturen aufbauen. Europa muss sich von seiner Vorstellung, eine elitär-exklusive Blase des Wohlstandes mit christlich-abendländischem Kulturprimat bleiben zu wollen, verabschieden. Sonst wird es sich früher oder später mit Waffengewalt gegen jene zur Wehr setzen müssen, auf deren Kosten es in anderen Regionen der Welt Interessenpolitik betreibt. Wer sich dem verweigert und einzelne Staaten die ganze Last tragen lassen will, der hat meines Erachtens nach kein Anrecht mehr auf Mitgliedschaft in einer Solidargemeinschaft und deren Privilegien.
Weil es diese Möglichkeiten der legalen Zuwanderung von außerhalb der EU aber eben gerade in Deutschland kaum gibt, wird verstärkt das Asylrecht genutzt, um die Schranken zu umgehen. Mit „Missbrauch“ hat das imho in den wenigsten Fällen etwas zu tun, eher mit Perspektivlosigkeit und dem Gefühl, im reichen Europa vor verschlossenen Pforten zu stehen. Es spielt jenen in die Hände, die aus der Not der Menschen etwa auf dem Balkan Profit schlagen und gegen den letzten Pfennig der Hoffnungsvollen einen regelrechten Exodus aus diesen Ländern organisieren. Genau das hat zu der aktuellen prekären Lage geführt, in der eigentlich Asylberechtigte in der Kälte in Zelten hausen müssen, weil die Plätze in den Aufnahmeeinrichtungen von Menschen blockiert werden, die überhaupt keinen Anspruch auf Asyl haben. So gemein das klingen mag – aber die Nikonchuks gehören dazu. Wir brauchen die Plätze in Flüchtlingsunterkünften, Integrationsklassen und Deutschkursen dringend für jene, die derzeit zu Hunderttausenden vor Krieg und Elend in unser Land fliehen und sehr wahrscheinlich für lange Zeit hier bleiben werden. Menschen, die keine Möglichkeit haben, in ihrem eigenen oder dem Nachbarland in Frieden und Sicherheit zu leben. Die Nikonchuks aber hätten diese Möglichkeit in ihrem und auch in ihrem Nachbarland Russland (das zudem maßgeblich mitverantwortlich für die untragbare Situation im Donbass ist) durchaus – und das sogar in weit stärkerem Maße als etwa ein Roma aus dem Kosovo.
Was will ich damit sagen? Es DARF einfach nicht sein, dass in unserem so wohlhabenden Land Kriegs- und Armutsflüchtlinge derart schamlos gegeneinander ausgespielt werden, nur, weil unsere Zuwanderungsregelungen den Charakter einer Zweiklassengesellschaft haben, während man gleichzeitig beispielsweise Russlanddeutschen ohne große Bedingungen und Auflagen den deutschen Pass in die Hand drückt, sobald sie nach Deutschland einreisen. Zuwanderung sollte nicht nach sozialem Status oder Stammbaum erfolgen, sondern nach persönlichen Ambitionen, Einstellungen und Fähigkeiten.
Integrationschaos sorgt für Kräfteverschleiß und Abschiebeleid
Leute wie Lena Schuster, die die Online-Petition für die Nikonchuks gestartet hat, meinen es gut. Sie opfern sich auf, sie wollen helfen, wollen Leid verhindern. Sie haben monatelang darum gekämft, dass Menschen bei uns integriert werden, auch, um zu zeigen, dass Integration möglich ist. Ihre Arbeit ist richtig und von unschätzbarem Wert. Doch zeigen diese Petitionen auch, wo es in der derzeitigen Asylpolitik klemmt. Die Integrationsarbeit wird zu einem großen Teil von jenen Ehrenamtlichen und kommunalen Kräften bewerkstelligt, die sich oft mit Herzblut da reinhängen, aber (nach eigener Aussage) häufig auch hoffnungslos überfordert sind. Eine emotionale Einbindung bleibt da häufig nicht aus. Doch vielerorts fehlt eben auch ein Verständnis dafür, was unser Asylrecht besagt und dass Integration vor allem denen zuteil werden sollte, die ein dauerhaftes Bleiberecht zugebilligt bekommen haben. Eine zu frühe Integration insbesondere bei schlechten Aussichten auf eine Asylbewilligung schafft letztlich mehr Leid als sie verhindert, weil die betreffenden Menschen im Abschiebungsfall aus ihren neuen sozialen Bindungen herausgerissen werden – und das betrifft stets nicht nur die eigentlich Betroffenen, sondern auch das Umfeld. Trotzdem müssen auch Flüchtlingshelfer akzeptieren, dass nicht alle Asylbewerber dauerhaft hier bleiben können. Auch dann nicht, wenn sie noch so nett und noch so integrationswillig sind. Denn das Asylrecht DARF nicht nach Gefühl oder individuellen positiven Eigenschaften entscheiden, sondern objektiv und sachlich nach Bedrohungslage. Stattdessen müssen die Regelungen der regulären Zuwanderung in unserem Land neu definiert und vom Asylverfahren zuverlässig entkoppelt werden. Erst, wenn das gewährleistet ist, wird sich die Situation im Asylbereich auch unter dem derzeitigen Ansturm normalisieren. Eine Abschottung unseres Landes nach außen wird diesen Prozess nicht ersetzen können. Im Gegenteil – sie wird Unsummen Geld kosten und das Problem von Massenfluchten doch nicht lösen. Sie wird vielmehr in eine humanitäre Katastrophe ungeahnten Ausmaßes führen.
Leute wie die Nikonchuks, offenbar gut ausgebildet und keinesfalls Armutsmigranten, sollten hingegen die Chance bekommen, auf legalem Wege außerhalb des Asylrechts eine Zukunft in Deutschland anzustreben, wenn sie das denn unbedingt wollen. Wenn es gerade für Menschen außerhalb des Schengen-Raumes hierzu bessere Möglichkeiten gebe, dann hätten wir in Deutschland zwar noch immer einen hohen Grad an Zuwanderung, aber längst nicht mehr die aktuellen Probleme mit überquellenden Asylzahlen und Menschen, die man monatelang verwalten muss, während sie selbst zum Abwarten und Nichtstun verdammt sind, nur, um am Ende wieder zurückgeschickt zu werden.
Es ist zu früh, mehr zu schreiben. Ich bin einfach noch zu sehr von Wut und Traurigkeit erfüllt, um mich mit den brutalen Fakten und den möglichen Hintergründen herumzuschlagen. Noch bin ich zu sehr damit beschäftigt, die Bilder zu verdauen, die mich vor zwei Tagen mitten in der Nacht völlig unerwartet und plötzlich von meinem Laptop her anschrien. Ich war aus unerklärlichen Gründen nachts gegen 3 Uhr aufgewacht, ging etwas trinken und stellte fest, dass die facebook-Seite noch offen, mein Profil noch online war. Ich wollte mich lediglich ausloggen. Und dann stand es da: Boris Nemzow ist tot, erschossen auf offener Straße. Im ersten Moment glaubte ich noch, ich albträumte vielleicht. Doch die Zeilen ließen sich weiterscrollen, und darunter diese Bilder. Nemzows Leichnam auf der Straße, von Polizei umringt, nicht abgedeckt. Und da merkte ich, wie mir übel wurde.
Sie haben ihn hingerichtet. Vier Schüsse brauchte es, um Wladimir Putins schlechtes Gewissen niederzustrecken und auszuschalten. Nemzow, der Jude war und den Bezug zum westlich-modernen Deutschland im Namen trug, war mir immer angenehm gewesen. Egal, wo er auftrat, was er sagte: Es sprachen eine Menschlichkeit, eine Klugheit und gleichzeitig eine Entschlossenheit und Ernsthaftigkeit aus seinen Worten, die ungewöhnlich waren für einen russischen Politiker. Noch mehr war außergewöhnlich an ihm: Anders als andere stellte er nicht die eigene Machtposition über alles andere und den Willen des eigenen Volkes: Als er in den 90er-Jahren im Zuge der wirtschaftlichen und politischen Krise der Jelzin-Regierung in Ungnade fiel, tat er etwas, das kein russischer oder sowjetischer Politiker in solch hoher Position (Nemzow war damals Vize-Premier) zuvor je getan hatte: Er trat von seinem Amt freiwillig zurück. Sicher war auch Nemzow kein lupenreiner Demokrat. Aber er war wohltuend modern, weltoffen und fürchtete sich nicht, dem respressiven und rückschrittlichen Regime Putin die Krallen zu zeigen, indem er dessen Schandtaten in Tschetschenien oder in der Ukraine, dessen manipulative, gegen jedwede Art von Opposition gerichtete Medien- und Informationspolitik offen anprangerte. Er war nicht der Erste, der dies mit dem Leben bezahlte. Ich denke, so viel kann man wohl auch jetzt schon sagen.
Es ist bitter, solch einen guten Mann leb- und würdelos auf einem Bürgersteig liegen zu sehen und zu wissen: Die Demokratie hat in Russland einen ihrer wichtigsten Fürstreiter verloren. Wer wird diese Lücke füllen? Mir fällt spontan niemand ein. Zumal den wenigen, die bisher ähnlich furchtlos agierten – etwa der Nationalliberale Alexej Nawalny -, nun deutlich gemacht wurde, wohin ein offensiv-oppositioneller, prowestlicher Kurs in Russland früher oder später führen wird: direkt unter die Erde.
Noch mehr weh tut aber gerade in diesen ersten Tagen nach seinem Tod die ekelerregende Welle des Hasses und der Menschenverachtung, die gerade durch die sozialen Netzwerke und Internetforen rollt und das Andenken des Toten beschmutzt. Sie nennen ihn einen Verräter, einen Schwulen, einen Spion, der sein Volk hintergangen habe. Ihn, der es aus der Diktatur des Chauvinismus und der Korruption heraus in eine demokratische, freiheitliche Zukunft führen wollte. Was mögen seine Mutter, seine Frau, seine Kinder in diesen Augenblicken fühlen? Es ist beschämend, zu sehen, wozu Wladimir Putin zwei Generationen von Menschen in seinem Lande erzogen hat. In etwas mehr als 15 Jahren hat er es geschafft, großen Teilen davon jedwede Menschlichkeit erfolgreich abzutrainieren und gegen einen stumpfsinnigen, sowjetnostalgischen, unterwürfigen Patriotismus auszutauschen. Ein Gutes hat das Ganze vielleicht: Boris Nemzow kann nun ausruhen. Er muss das alles nicht mehr ertragen.
Berlin, 9. November 1989: Frisch annektierte DDR-Bürger protestieren auf der Berliner Mauer gegen die gewaltsame, völkerrechtswidrige Einverleibung durch die BRD. Foto: dpaNeues aus dem Moskauer Komödiantenstadl. Es tut mir weh, das zu sagen. Aber eine gnädigere Umschreibung fällt mir gerade nicht ein. Man lässt sich im Kreml ja eine ganze Menge einfallen, um Sachverhalte umzudeuten und die Menschen im eigenen Land in einer Scheinwelt gefangen zu halten. Wenn es sein muss, etikettiert man ganze historische Ereignisse um, damit eigenes fragwürdiges Handeln in einem legitimen Licht erscheint.
Der neueste Akt aus der hauseigenen Theaterschmiede: Die DDR wurde 1989 (!) von der BRD annektiert!
Mit einer entsprechenden Untersuchung hat jedenfalls jüngst Duma-Chef Sergej Naryschkin den auswärtigen Ausschuss des Parlaments beauftragt. Ziel ist eine Resolution, die die friedliche Revolution, die im Übrigen erst 1990 zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten führte, und nicht 1989, als völkerrechtswidrigen Akt der Bundesrepublik Deutschland verurteilt.
Vermutlich jeder derjenigen Millionen, die damals unter Lebensgefahr auf die Straße gingen, muss angesichts eines solchen bösartigen Zynismus an einen schlechten Witz glauben. Aber worauf stützt man im Kreml diese Verzerrung historisch verbürgter Ereignisse?
Einziges Argument Naryschkins: Es habe nie ein Referendum in der DDR über den Beitritt zur Bundesrepublik gegeben. Und um dem Gipfel der Dreistigkeit die Krone aufzusetzen, stimmt noch nicht einmal das.
Aber von Anfang an.
1. Eine Annexion bedingt einen gewaltsamen Akt der Übernahme und Installation eigener Machtapparate durch die annektierende Macht. Nichts davon geschah 1989. In diesem Jahr wurde weder etwas übernommen noch trat irgendwer irgendwo bei. Im Jahr 1989, Gospodin Naryschkin, fiel die Berliner Mauer, die DDR aber existierte noch ein ganzes Jahr lang weiter. Da scheint es in Moskau schon am simplen Wissen um die bloße Abfolge der Ereignisse zu fehlen.
2. Ab September 1989 gingen Millionen von DDR-Bürger auf die Straße. Das Initiativ für die Wende ging somit vom Volk aus, von den Menschen, die in der DDR lebten und ihren schleichenden Zerfall mitangesehen hatten. Sie demonstrierten für Freiheit, für Unabhängigkeit und Demokratie. Im März 1990 fanden die ersten demokratischen, freien Wahlen in der DDR statt. Die absolute Mehrheit der Bürger wählte damals die sozialistische PDS ab und gab den westlich orientierten Oppositionsparteien CDU und SPD ihre Stimme. Die Volksvertreter, die anschließend die Wiedervereinigung aushandelten, waren demnach demokratisch legitimiert. Zur selben Zeit kehrten mehr Menschen denn je zuvor – täglich 2000 bis 3000 DDR-Bürger – ihrem zerfallenden Land den Rücken und reisten in die BRD aus, die in einem Flüchtlingsstrom förmlich versank, den es dort seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hatte. Man darf annehmen, dass keine Umfrage, kein Referendum ein überwältigenderes Statement hinsichtlich der Positionierung der Ostdeutschen in der Einigungsfrage hätten abgeben können.
3. Der Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, stimmte 1990 in den 2+4-Verträgen höchstpersönlich der deutschen Wiedervereinigung zu und erkannte sie damit als rechtmäßige und vor allem beiderseitige Willenserklärung der zwei deutschen Staaten an.
4. Es gab in der DDR keine anderen Bevölkerungsgruppen bzw. nationale Minderheiten, die durch die Wiedervereinigung irgendeinen Nachteil erlitten oder Repressionen fürchten mussten. Die Wiedervereinigung ging vollkommen gewaltfrei und unter Zustimmung der übergroßen Mehrheit der DDR-Bürger vonstatten.
Lieber Gospodin Naryschkin – Sie sollten sich schämen, Ihrem Volk einen Prozess als Annexion verkaufen zu wollen, der von den ostdeutschen Bürgern ausging und nicht von der BRD, und den der Rechtsvorgänger der Russischen Föderation, die Sowjetunion, mit ihrer menschenverachtenden, totalitären Beseatzungspolitik maßgeblich mit ausgelöst hatte.
Anders als im Fall der politischen Wende in Ostdeutschland 1989/90 gab es keine friedliche Revolution zum Anschluss an Russland auf der Krim. Der Anschluss der Krim ging allein von Russland aus, eine reine Strafaktion des Kreml an die Adresse Kiews. Er fand unter massiver militärischer Einwirkung Russlands und massiver antiukrainischer Propaganda statt, die die Bevölkerung gegen die eigene Regierung aufhetzte, indem sie Feindbilder aufbaute und Ängste schürte. Das sogenannte Referendum stand unter dem Eindruck dieser respressiven Stimmung, entbehrte jedweder demokratisch-rechtsstaatlichen Grundlage, war weder frei noch unabhängig und ist somit als ungültig zu bewerten. Die Rechte der ukrainischen und krimtatarischen Minderheiten werden seit dem Anschluss massiv mit Füßen getreten, dessen Folge ein Erstarken eines menschenverachtenden russischen Nationalismus auf der Halbinsel war.
Es ist so zynisch, ja geradezu unterirdisch, diesen völkerrechtswidrigen Akt mit einem Ereignis gleichsetzen zu wollen, bei dem ein ganzes Volk aufstand und friedlich und ohne Blutvergießen die eigene Befreiung herbeiführte. Ein Armutszeugnis für Politiker, die das größte Land der Erde lenken.
am Sonntag gaben Sie sich die Ehre, bei Günter Jauch dem Publikum zu erklären, dass die Annexion der Krim durch Russland im März dieses Jahres gar keine war, sondern eine Abspaltung. Der Grund, warum Sie diesen Argumentationsgang wählen, ist offensichtlich. Denn wenn es keine Annexion war, wie Sie behaupten, dann läge Ihrer Ansicht nach auch kein Völkerrechtsbruch vor.
Doch schon das ist – wie ihr Diskussionpartner Alexander Graf Lambsdorff übrigens korrekterweise anmerkte, alles andere als richtig. Denn, ob es ein verbrieftes Recht eines Volkes auf (meist gewaltsame) Loslösung aus einem souveränen Staat gibt, ist unter Völkerrechtlern mehr als umstritten. Die Meinungen reichen da von einer rigorosen Zurückweisung eines solchen Rechtes bis hin zu der Auffassung, dass ein signifikantes Unterdrückungs- bzw. Entrechtungsmoment gegenüber einer bestimmten Volksgruppe bzw. einem bestimmten Landesteil vorliegen müsse, damit ein Recht auf Abspaltung entstehe (vergl. Herdegen). Zumindest ist es nicht so, dass der Sachbestand der Sezession völkerrechtlich nicht erfasst ist, wie von Ihnen behauptet. Dem ist schon deshalb nicht so, als dass eine Sezession – selbst wenn sie im Falle der Krim vorgelegen hätte – immer noch ein souveränes Land betroffen würde, das in der UN-Vollversammlung vertreten ist, die wesentliches legislatives Gremium völkerrechtlicher Belange ist.
Allerdings ist Ihre Annahme, die Annexion der Krim sei eine Sezession gewesen, nicht haltbar. Eine Sezession geht immer und stets von Bevölkerungsteilen jenes Landes aus, von dem man sich lossagen will, nicht von Drittstaaten. Genau das aber ist auf der Krim nicht geschehen. Weder hatte es auf der Krim im Vorfeld des Maidan Unruhen gegeben, noch gab es im Zuge des Maidan nennenswerte Abspaltungsbestrebungen. Diese kamen vielmehr erst durch den beispiellosen Propagandafeldzug russischer Medien und prorussischer Kräfte auf der Krim auf, die eine vermeintliche faschistische Gefahr und einen Putsch in Kiew postulierten. Welchen Einfluss diese gigantische mediale Desinformationsmaschinerie auf die russischstämmige Bevölkerung gehabt haben muss, sieht man an repräsentativen Umfragewerten aus der Zeit der Annexion in Russland selbst. So war eine überwältigende Mehrheit der Befragten in Umfragen des russischen Lewada-Zentrums am Vorabend der Annexion der Ansicht, dass die russischsprachige Bevölkerung auf der Krim von ukrainischen Nationalisten aktiv bedroht werde und dass nur ein Militäreinsatz Russlands sie schützen könne. Wie diese Menschen zu dieser Ansicht kamen, scheint klar, denn Pogrome oder Angriffe auf Krim-Russen hat es tatsächlich nachweislich nie gegeben, während russische Medien und der russische Präsident selbst nie müde wurden, die Notwendigkeit eines Schutzes der russischsprachigen Bevölkerung der Krim sowie die russische Bereitschaft dazu zu betonen.
Noch am 20. Februar war die Regionalregierung der Krim bereit, sich für die Zentralregierung in Kiew einzusetzen (also KEINE Abspaltungstendenzen). Einen Tag später, am Freitag, dem 21. Februar, wurde in Kiew die Vereinbarung über die Beilegung der Krise in der Ukraine getroffen, die unter anderem die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit für den Übergang binnen 10 Tagen sowie zeitnah die Wahl einer neuen Regierung für die Ukraine vorsah. Unterzeichnet hatte die Vereinbarung übrigens auch Viktor Janukowitsch. Noch am selben Tag flüchtete Janukowitsch, der das Ende seiner Macht damit wohl gekommen sah und zudem rechtliche Schritte wegen der zahlreichen Vergehen, derer er sich während seiner Amtszeit schuldig gemacht hatte und nicht zuletzt wegen der Toten auf dem Maidan, für die er ebenso mit verantwortlich zeichnete, fürchtete, über die Ostukraine nach Russland. Daraufhin beschloss das Parlament in Kiew am folgenden Tag, Samstag, dem 22. Februar, mit lediglich sieben Gegenstimmen (von 331, also auch mit den Stimmen der Janukowitsch-Partei) seine Absetzung mit der Begründung, dass der Präsident sein Land im Stich gelassen habe und sein Amt nicht mehr ausübe.
Drei Tage später wurde das Parlament in Simferopol (Krim) von prorussischen Militanten, die von russischen Militärs unterstützt wurden, gestürmt , zudem kam es verstärkt zu Zusammenstößen zwischen Anhängern der neuen Übergangsregierung in Kiew (unter ihnen viele Krimtataren, die eigentlichen Ureinwohner der Krim) und prorussischen Aktivisten auf der Krim. Kurz darauf fiel Russland in der Krim ein, um deren Anschluss vorzubereiten und durchzuführen.
Das heißt im Resümee: Die sogenannte „Sezession“ war keine. Die Abspaltung der Krim wurde nachhaltig von russischer Seite befördert und letztlich konnte sie auch nur mit massiver russischer Unterstützung durch Militärpräsenz und logistische Zuarbeit durchgeführt werden. Das sogenannte „Referendum“ vom 16. März fand unter massiver Einschüchterung Oppositioneller und vor allem der Krimtatarischen Minderheit und ebenso massiven Rechtsverletzungen statt, sodass zahlreiche Menschen an der Abstimmung gar nicht teilnahmen. Das alles entspricht NICHT dem Charakter einer aus freien Stücken und schwerwiegenden innenpolitischen Beweggründen heraus entstandenen Sezession, sondern ganz klar einer von einer dritten Macht vorangetriebenen Annexion, die lediglich den Deckmantel einer Sezession bemühte. Eine Sezession strebt zudem in aller Regel die Unabhängigkeit, also die Bildung eines neuen souveränen Staates, an. Auch das lag im Falle der Krim nicht vor, hier ging es um einen Zuschlag des Territoriums zu Russland. Und der war nur so ohne weiteres möglich, weil Russland dies maßgeblich vorantrug.
Liebe Frau Krone-Schmalz, ich ahne, dass Sie als Deutsche momentan in Russland keinen allzu leichten Stand haben, und das bei ihrer Position, in der sie allgemein davon abhängig sind, fest im Sattel zu sitzen. Was tun Sie, wenn Ihnen dort plötzlich alle misstrauen? Es wäre das Ende eines Lebenswerkes. Da liegt es nahe, den einfachen Weg zu gehen und Partei zu ergreifen, das russische Vorgehen bedingungslos zu verteidigen und sei es, dass man sich dazu des vollen Programms polit-intellektueller Phrasen und Winkelzüge bedient. Allein, das macht aus Ihnen in meinen Augen eine unseriöse Journalistin. Eine, die die Distanz zum besprochenen Objekt längst verloren hat, weil sie längst Teil jenes Systems ist. Denn wichtigste Bedingung für die Erlangung exklusiver Informationen aus höchsten Politkreisen in Russland ist vor allem Vertrauen, und das erarbeitet sich nur über eine gewisse Loyalität.
Russland möchte wieder Weltmacht werden – und das um jeden Preis, wie es scheint. Doch reicht ein Atomwaffenarsenal und die größte zusammenhängende Landfläche der Welt, um vorne mitspielen zu können? Der wirtschaftliche Aufschwung der letzten 15 Jahre, der vor allem aufgrund des florierenden Handels mit westlichen Staaten zustande kam und damit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geschuldet ist, hat manchem Russen die Tür zur Welt geöffnet. Doch der neuen russischen Mittelschicht gehört nicht einmal die Hälfte der Russen an (ca. 40 Prozent). Fasst drei Viertel davon wiederum sind im öffentlichen Staatsdienst beschäftigt, während die Anzahl der in Privatunternehmen angestellten Mittelschichtler immer weiter zurückgeht und nurmehr bei rund 30 Prozent liegt. Allein im Jahr 2013 sank ihre Zahl um 13 Prozent, während die Zahl der aus der Staatskasse finanzierten Beamten in den letzten zehn Jahren um 20 Prozent stieg. Nur sieben Prozent der Russen besitzen selbst ein Unternehmen. Derweil liegt ein Drittel des Vermögens in den Händen von 0,00008 Prozent der russischen Bevölkerung. 110 Milliardäre gibt es im größten Land der Erde (Stand Ende 2013), während der Durchschnittsrusse kaum mehr als 9000 Euro auf dem Bankkonto hat. Das war Ende der 90er-Jahre noch ganz anders. Die Folge des Strukturwandels: Die russische Mittelschicht hängt immer stärker am staatlichen Tropf und ist auch entsprechend loyal gegenüber dem System eingestellt.
Der Rückwärtstrend in Richtung alter, starrer sowjetischer Verhältnisse hat mittlerweile die gesamte Gesellschaft erfasst – mit durchaus unschönen Folgen. Dinge wie die Schaffung eines möglichst umfassenden, loyalen (und korrupten) Beamtenapparates und Prestigeprojekte mit Außenwirkung haben Vorrang gegenüber dringend notwendigen Erneuerungen im Inneren.
Rund 40 Milliarden Euro gab Wladimir Putin in den letzten Jahren aus, um die Olympischen Winterspiele von 2014 in Sotschi aus dem Boden zu stampfen – 43 Millionen Durchschnittsrussen müssen ein Jahr lang schuften, um diesen Betrag mit ihrer Einkommensteuer zu erwirtschaften. Der Einkommensteuersatz steigt im Übrigen in Russland nicht wie bei uns mit wachsendem Einkommen, sondern liegt – unabhängig von der Höhe des Verdienstes – pauschal bei 13 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland liegt der Eingangssteuersatz bei 14 Prozent, der Spitzensteuersatz für Einkommen von rund 250.000 Euro und mehr bei 45 Prozent. 80 Prozent der Russen werden einem jedoch auf die Frage, wo denn der Raubtierkapitalismus herrsche, antworten: im Westen.
Der Schutz seines korrupten Systems aus Oligarchen, die denselben Anteil von ihrem Einkommen an den Staat abführen müssen wie ein einfacher Traktorist, und die Bindung möglichst großer Teile der Bevölkerung unmittelbar an den Staat – es führt nicht nur zu einer geschlossenen Gesellschaft, es führt auch zu einer enorm hohen Staatsbelastung, die natürlich Konsequenzen hat. Weil die Unabhängigkeit vom westlichen Ausland möglichst gering gehalten werden soll, werden kaum Kredite aufgenommen. Seine Staatsverschuldung hat das Land auf diese Weise seit 1991 um ein Vielfaches reduziert.
Nun hat Wladimir Putin das nächste Großprojekt mit Prestigecharakter an der Angel – und seine Bürger haben es sprichwörtlich am Hals: die Krim. Am 16. März völkerrechtswidrig annektiert, wird die Krim den russischen Steuerzahler und die russischen Rentner in den kommenden Jahren zig Milliarden kosten. Allein 70 Millionen Euro will der russische Staat pro Monat (!!) in die Halbinsel pumpen, um den Wegfall von Subventionen aus Kiew für die bis dato autonome Republik abzufedern. Um zudem das klaffende Haushaltsloch von über einer Milliarde Dollar zu stopfen, wird Moskau ab 2015 jährlich rund 100 Milliarden Rubel (2 Milliarden Euro) an die Krim überweisen. Der Bau einer Brücke von der Krim zum russischen Festland über die Meerenge von Kertsch wird zudem weitere vier bis fünf Milliarden Euro kosten. Allein für das Jahr 2014 musste der Kreml die ursprünglich im Haushalt vorgesehene Gesamtausgabenlast von rund 280 Milliarden Euro aufgrund der Krim-Annexion um 2 Prozent erhöhen. Demanch wird Russland für den Unterhalt der Krim 2014 zusätzlich rund drei bis fünf Milliarden Euro aufwenden müssen. Das ganze Ausmaß der Misere zeigt ein Blick auf die bisherige Einnahmenbilanz der Krim, die sich zu 50 Prozent aus Fördermitteln aus Kiew bestritt.
Während der Anschluss der Krim politisch für Wladimir Putin bislang ein ausgesprochener Erfolg ist, deuten sich die Folgen dieser Symbolpolitik langsam an. Um die zusätzlichen Kosten irgendwie stemmen zu können, muss an anderer Stelle der Gürtel enger geschnallt werden. So wurde unlängst der Rentenfond privater Sparer angezapft, der eigentlich für die Verbesserung der Situation der russischen Rentner vorgesehen war und in den Millionen Menschen in der Hoffnung einzahlen, irgendwann im Alter ein menschenwürdiges Auskommen zu haben. Derzeit beträgt die Durchschnittsrente in Russland rund 250 Euro pro Monat. Doch nur die wenigsten Russen beziehen einen solchen Betrag. Die Mindestrente lag vor sechs Jahren noch bei rund 60 Euro. Aus dem privaten Rentenfonds soll Wladimir Putin 7 Milliarden Euro abgezweigt haben – eigentlich, um das Loch in der staatlichen Rentenkasse zu stopfen. Doch nun fließt dieses Geld vor allem in die versprochene Erhöhung der Renten auf der Krim. So müssen die künftigen russischen Senioren, die ohnehin nur geringe Renten beziehen werden, die Erhöhung der Renten auf der Krim finanzieren – und gehen selbst leer aus. Intern hat diese Politik der staatlichen Prioritäten zu starken Verwerfungen im Kreml geführt, erste kritische Köpfe rollten bereits.
Insgesamt präsentiert sich das russische Sozial- und Gesundheitswesen in desolatem Zustand. Krankenhäuser und Kliniken gleichen vielerorts halben Ruinen. Wer es sich leisten kann, entflieht dem maroden Kliniksystem und lässt sich im Ausland behandeln. Allein 6000 Russen zieht es dazu jedes Jahr nach Deutschland. Die große Masse aber, die die teuren Visa- und Behandlungskosten nicht tragen können, bleiben weiter auf die heimischen Krankenhäuser angewiesen.
Sanitäranlagen eines städtischen Krankenhauses in der russischen Millionenstadt Jekaterinburg. Quelle: O. Leusenko
Dort fehlt es nicht nur außerhalb der Gliterwelt Moskaus oder St. Petersburgs häufig am Selbstverständlichsten – etwa Seifenspendern, sauberer Bettwäsche und funktionierenden Toiletten. Eine schockierende Reportage deckte erst just die teils unzumutbaren Zustände insbesondere in russischen Kinderkliniken auf: Toiletten ohne Spülung, mit primitiven Wasserbehältern daneben, vermoderte Rohre und Leitungen, offene, überfüllte Mülleimer, fehlendes Toilettenpapier, Seifestücken statt Spendern auf der Infektstation, bröckelnder Putz und Holzpritschen für kranke Kinder – es sind Zustände, die einer Weltmacht einfach nicht würdig sind.
Kinderkrankenhaus in der 150000-Einwohner-Stadt Miass im Ural. Quelle: O. Leusenko.Im selben Krankenhaus. Quelle: O. Leusenko.
Die Restauration der Krim als Teil Russlands wird Staat und damit Steuerzahler Hunderte von Milliarden Rubel kosten. In das staatliche Gesundheitssystem wurden zuletzt nur noch 370 Milliarden Rubel investiert. Erst im aktuellen Haushalt wurden die Ausgaben von zuvor 500 Milliarden Rubel auf diesen Betrag gesenkt. Gerade mal 3,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) fließen damit in den Gesundheitssektor. Zum Vergleich: In Deutschland liegt der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP mit elf bis zwölf Prozent und 300 Milliarden Euro mehr als dreimal so hoch. Dabei bedürfte fast jedes russische Krankenhaus dringend einer Renovierung bzw. eines Abrisses und Neubaus.
Gleichzeitig versucht Wladimir Putin, den wachsenden Abgang russischer Patienten aus dem staatlichen Gesundheitssektor ins Ausland mit Restriktionen aufzuhalten. Die Russen sollen sich künftig nur noch in absoluten Ausnahmefällen im Ausland behandeln lassen dürfen. So sollen nun Stiftungen, die solche Behandlungen bislang ermöglichen, stärker kontrolliert und ihnen nötigenfalls Mittel entzogen werden, um die „medizinische Fahnenflucht“ aufzuhalten. Ginge es nach den Kommunisten im Parlament, würde Behandlung im Ausland für Beamte und deren Familien generell verboten. Doch das geht dem Kreml dann doch zu weit, denn fast alle höheren Beamten nutzen diese Möglichkeit, zu einer besseren medizinischen Versorgung zu gelangen, gern und oft. Nicht ohne Grund leben die Familien zahlreicher hochrangiger Politiker wie die des Präsidenten Wladimir Putin oder des Außenministers Sergej Lawrow nicht etwa in Russland, sondern im westlichen Ausland. Ihnen wollen die Eliten die korrupten und teils menschenunwürdigen Zustände im eigenen Land nicht zumuten, der Masse ihres Volkes hingegen schon.
Mit den zusätzlichen Ausgaben für die Krim, zu denen sich noch jene für die Abfederung der eigens verhängten Importboykotte gesellen, wird es künftig düster aussehen für die Sozialsysteme in Russland. Man darf gespannt sein, wie lange der Deckel auf dem Kessel gehalten werden kann. Denn auf Dauer müssen die Russen die unverantwortliche Politik ihres Staatschefs aus ihrem Geldbeutel, mit ihrer Gesundheit und möglicherweise mit ihrem Leben bezahlen.