Kleine Geschichte der Gentrifizierung – oder wie ein Stadtteil sein menschliches Antlitz verlor.

Februar 1987. Dresden, ach Dresden. Einem jeden von uns blutet das Herz beim Gedanken daran, dass wir die Stadt vielleicht schon in wenigen Wochen wieder verlassen müssen. Wann hat man je einen Ort von solch erhabener Schönheit gesehen? Das heißt, eigentlich ist die Stadt ja weniger schön mit all ihren noch immer sichtbaren Kriegswunden und -narben, als dass man ihre einstige Schönheit noch immer erahnen kann, und an manchen Stellen schwingt sie sich zu voller Blüte auf. Im Zwinger zum Beispiel, ja, ich erinnere mich noch gut an unseren Besuch dort im letzten Juni. Tschemuschin, unser damaliger Alter und ein echter Schlächter, hatte uns – damals noch blutige Grünschnäbel kurz nach dem Grundwehrdienst – die halbe Nacht lang traktiert: antreten, Liegestütze, die Nationalhymne singen, hinlegen, wieder antreten… und so weiter. Und dazwischen mit Schlägen und Tritten nicht gespart. Der Teufel soll in holen, den alten Drecksack. Am nächsten Tag sind wir jedenfalls völlig ramponiert zu dem Ausflug aufgebrochen, auf den wir uns alle so gefreut hatten – fest entschlossen, uns das von keinem verfluchten Tschemuschin der Welt verderben zu lassen. Der Zwinger war beeindruckend, besonders die Inschrift dieses Teufelskerls Hanutin, des Minenräumers, die auch über 40 Jahre später noch in der Zwinger- und auch an der Schlossmauer erkennbar ist.
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Doch auf dem Weg dorthin offenbarten sich uns in einem Anflug von grausamem Realismus die Schattenseiten der Stadt. Ein Viertel unweit unseres Städtchens, fast scheint es von Gott und aller Welt vergessen: dreckig, die Häuser schwarz von Ruß und Abgasen, manche kriegsversehrt, vor sich hinmodernd oder bereits ruinös, nur teilweise noch bewohnt. Tschemuschin lachte grimmig, als er unsere betroffenen Blicke angesichts all des Verfalls sah, an dem wir mit der Straßenbahn vorbeiholperten. Es war unser erster richtiger Ausflug aus der Kaserne gewesen und irgendwie hatten wir mit so viel offensichtlichem Elend in einem Land, das bei uns daheim für seine Fortschrittlichkeit bewundert wurde, nicht gerechnet. „Soll eh alles bald weg“, hatte Tschemuschin, der verwitterte Mittdreißiger, abfällig hinter seiner Zigarette hervorgenuschelt. „Wird mal ein echtes Sternenstädtchen, alles neu und sauber. Aber nicht für so kleine Verlierer wie euch. Da kommen die Anständigen hin, die Fleißigen, die, die dem Vaterland Ehre machen.“

Was Tschemuschin, die anderen und auch ich damals nicht wussten: Das Viertel, die Neustadt, am nördlichen Elbufer gelegen, wird nicht fallen zumindest nicht sofort. Und es gibt auch noch Menschen, die dort wohnen. Sie wird nicht fallen, weil sich viele dieser Bewohner dagegen organisieren werden. Sie werden auf die Barrikaden gehen, um ihre Heimat vor dem Abriss zu retten – und damit auch ein Stück Kultur- und Lebensraum. Die Neustadt ist für sie ein Refugium, in dem sie sich vergleichsweise frei bewegen können, wo in verfallenen Hinterhöfen kreative Impulse Raum finden, sich zu entfalten, wo sich verräucherte Kneipen, Ateliers und Wohnungen auf wundersame Weise in abrissreifen Häusern halten. Viele junge Familien wohnen dort, Studenten, Künstler, die junge Intelligenz, aber auch gesellschaftlich Ausgestoßene, Penner. Omelnitschenko, Unterleutnant und der Zugführer unseres achten Panzerausbildungszuges unserer vierten Kompanie des ersten Bataillons, hat mir nach einem seiner mehr oder weniger legalen Ausflüge in eine bei sowjetischen Offizieren beliebte Bar im besagten Viertel in lebendigen Farben davon erzählt. Omelnitschenko ist in Ordnung, man kann im vertrauen. Einer der wenigen hier aus dem Offizierskorps. Hat mir sogar versprochen, mich mal dorthin mitzunehmen, sollte ich nach der Ausbildung in Dresden stationiert werden und meine Balken erhalten. In der Neustadt, so schilderte nun Omelnitschenko, herrsche quasi Anarchie. Dort lebe jeder, wie es ihm gefiel, und ein allseits bekannter Wirt weise jedem, der nachfragte, den Weg in eine Kommunalka in einem besonders verfallenen Haus, in der freie Liebe praktiziert werde – jeder mit jedem. Der gute Jaschka Omelnitschenko, kaum zwei Jahre älter als ich, hat mich geneckt und ausgelacht, weil ich ganz rote Ohren bekommen hatte. Nun ja, ich gestehe, wir Kursanten haben hier nach einem halben Jahr auf dem Trockenen alle ein ziemliches Defizit in Sachen Liebe entwickelt – und anderthalb weitere Jahre noch vor uns!

So ist das also mit dem hässlichen Dresden: Die Neustadt, eine Enklave wie aus einer anderen Welt. Und deren Bewohner, deren harter Kern der Kampf um Wohn- und Lebensraum und um freie Entfaltung zusammengeschweißt hat. Wahrscheinlich wissen sie ganz genau, dass die sozialistisch-futuristischen Neubauten, die hier geplant sind, nicht für sie gedacht sind. Aber vielleicht können sie sich auch einfach gar nicht vorstellen, in solch beengten Verhältnissen, in einem mit dem Lineal gezogenen, tristen Trabanten, zu hausen? 10000 Menschen leben noch in der ausblutenden Neustadt. Immer mehr ziehen weg. Würden die Neubaupläne verwirklicht, würden es plötzlich Zigtausende sein, die sich dieselbe Fläche teilen müssten, zu teureren, für viele unerschwinglichen Mieten. Der Kampf dieser Menschen um ihr Stückchen Heimat und sei sie auch in einem noch so desolaten Zustand, und die vielen Geschichten und Mythen, die sich in unseren Reihen um das angeblich freizügige Leben dort ranken, faszinieren mich auf eine Weise, die schwer zu erklären ist. Bei uns daheim kenne ich niemanden, der mit derartigem Verve um ein paar alte Bauten kämpfen und sich dafür auch noch mit der Staatsmacht anlegen würde. Denn das werden sie. Zunächst mit Erfolg.

Jahre später.

Die Neustadt wurde nicht abgerissen, stattdessen kam die Wiedervereinigung. Unsere Truppen jagten die Deutschen zum Teufel, gut, dass ich das nicht mehr miterleben musste. Aber im Prinzip fand ich es richtig so. Fast 50 Jahre waren doch wirklich genug. Zumal ich von Jaschka wusste, dass wir einfachen Jungs vielen Deutschen einfach nur leidtaten. Und nichts könnte schlimmer sein als bemitleidet zu werden. Dabei konnten einem eigentlich die Deutschen leidtun: zu Befehlsempfängern degradiert im eigenen Lande und der Willkür einer fremden Macht vollends ausgeliefert. Das änderte sich nun schlagartig. Und die logische Konsequenz für uns konnte nur lauten: Abzug. Und überhaupt hatten wir ja alsbald bei uns daheim mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen.

Aber was wurde aus der modrigen Neustadt, die mich so fasziniert hatte? Sie wurde zum Sanierungsgebiet. Es gab also erst mal kaum neue Häuser, sondern die alten, eigentlich so herrlichen Gründerzeitbauten wurden aufwendig saniert, manche abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Die Neustadt füllte sich langsam wieder mit Leben. In den folgenden 30 Jahren wird sich die Zahl ihrer Bewohner fast verdoppeln. Doch die Menschen, die damals so gekämpft haben, haben den Kampf trotzdem verloren. Sie kämpften ja nicht nur um den Erhalt der Bausubstanz, sondern vorrangig um ihre Lebensphilosophien und Träume, um das, was sie in all den Jahren der Nichtbeachtung durch den Staat mit eigenen Händen geschaffen hatten. Das waren vor allem soziale Errungenschaften: Arbeitslosentreffs, trockene Wohnungen für Familien und alte Menschen, Räume für Kunstschaffende, Kinderspielplätze, Straßenfeste – alles Dinge, die der Gemeinschaft dienten, nicht dem Einzelnen. Von alledem ist heute kaum etwas geblieben. Die Häuser sind neu und schick – aber sie gehören nicht mehr den Menschen, sondern raffgierigen Kapitalisten – so wie fast alles andere auch. Raum für freie Entfaltung gibt es kaum noch. Die Menschen treten sich gegenseitig auf die Füße, und der einstige Geist von Freiheitlichkeit, Aufmüpfigkeit und Solidargedanke ist im Grunde hinweggeblasen, niedergewalzt von der Planierraupe des Kapitalismus. Längst ist sich in der Neustadt jeder selbst der Nächste. Anders als damals hat das Viertel heute den Ruf eines Party- und Amüsierviertels weg. Die Straßen sind gesäumt von Kneipen, ein Club reiht sich an den nächsten, schließt der eine, öffnet ein anderer. Und die Betreiber rühmen sich gar des Monsters, das da erschaffen wurde, ja sie wetteifern förmlich um den Status des Wegbereiters dieser „neuen Neustadt“. Und sie sehen sich – und das ist das eigentlich Groteske dabei – in der Tradition ausgerechnet jener, für deren Träume sie im Grunde zum Totengräber wurden. Es ist ein seltsames Klima, wenn man durch die Straßen geht: ein Viertel, das in sich selbst verliebt ist für etwas, das es längst nicht mehr ist, das nur noch als Tagebucheintrag in den Aufzeichnungen der Altvorderen existiert, als gerahmtes Kalenderblatt in der Stadtteilchronik des hiesigen Museums.

Bei uns daheim gibt es ein schönes Sprichwort: „Alle sind Leute, doch längst nicht alle auch Menschen.“ Damals, als ich kurz vor meiner Entlassung aus der Armee im Herbst 1988 mit Jaschka durch die Neustadt lief, traf ich fast ausschließlich Menschen. Gute, herzliche Menschen, denen die Gemeinschaft am Herzen lag. Die meisten waren arme Künstler, Querdenker oder hart arbeitende Leute, aber alle anständig und ehrlich und tief mit ihrem Viertel verwurzelt. Mit dem wenigen, was sie hatten, versuchten sie es zu verschönern, bunt zu machen. Sie halfen einander gegenseitig dabei und versetzten auf diese Weise ganze Häuser wieder in einen bewohnbaren Zustand. Manchmal versteckten sie auch Unsere, wenn manche sich unerlaubt aus der Kaserne gestohlen hatten, um ein wenig Spaß zu haben, und ihnen die Schasskommandos auf den Fersen waren. Sie haben mein Bild von den Deutschen tiefgreifend verändert. Zum Positiven.

Wenn ich heute durch die Straßen der Neustadt gehe, ist nichts von der alten Faszination geblieben. Ich sehe ein Viertel wie so viele andere: protzig, geschäftig, übervölkert, eng, schmutzig und nur ganz vereinzelt noch trotzig – und wenn, dann an den falschen Stellen. Aufmüpfigkeit äußert sich allenfalls noch im Herumgelunger auf Straßen und Gehwegen, in den Grafitti an den Hauswänden, weniger in geistiger Beweglichkeit und solidarischer Initiative. Stattdessen hat der Profit das Ruder übernommen. Längst ist es wichtiger geworden, dass der eigene Laden läuft, sich selbst darzustellen, als dass die Nachbarn in ihren Wohnungen ruhig schlafen können. Schmutz und Lärm aus unzähligen Clubs und Restaurants verlangen den Bewohnern immer mehr Nervenstärke und Kompromissbereitschaft ab. Viele der Menschen, die damals für den Erhalt eines Gemeinwesens kämpften, sind lange schon fort. Geflohen vor dem Moloch, den die Entourage der Modernisierung und Erneuerung erschuf – auch gern als Gentrifizierung bezeichnet. Die alten Idealisten von damals – sie waren machtlos gegen die gewaltige Sogkraft des Geldes und gegen das Besitzdenken, sie passten sich an oder warfen schließlich ernüchtert das Handtuch.

„Auf der Wiese der Hoffnung weiden viele Narren“… noch so ein altes russisches Sprichwort. Sie haben wirklich geglaubt, sie könnten die Neustadt retten und die weitere Entwicklung des Viertels dauerhaft im Sinne des Gemeinwesens gestalten. Und scheiterten, nachdem die DDR Geschichte war und andere den neuen Zeitgeist für sich arbeiten ließen. Sie brauchten gar nicht viel dafür zu tun. Fast schon ein – wenn auch trauriges – Musterbeispiel für die Systematik des Kapitalismus, das jedem sowjetischen Sachbuch über den Marxismus-Leninismus zur Ehre gereicht hätte.

So viel dazu, wie der Lauf der Dinge sich manchmal auf unschöne Weise verselbständigt. Wirklich schändlich aber ist der teils schmutzige Kampf um die verbliebenen Ressourcen im fast totgespielten Viertel. Mit dem Tempo, mit dem die letzten Freiflächen mit Wohnhäusern vollgestopft werden, wächst auch das Gerangel um Vorrechte, Besitzansprüche und Deutungshoheiten. Wer war zuerst da? Bewohner oder Kneipen? Es ist verlockend, auf den Neustadt-Express aufzuspringen, der mit so originell klingenden Attributen wie „alternativ“ und „Szeneviertel“ mit Werten für sich wirbt, die längst an den Rand gedrängt wurden vom routinierten Alltag eines Handels- und Geschäftsviertels. Wohnungen werden immer teurer – und die Clubs immer lauter, um sich gegen die wachsende Konkurrenz durchzusetzen. Was ironischerweise immer seltener gelingt. Ihre Gäste kommen oft von außerhalb und treiben die Einheimischen nachts mit Gegröhle und Gelächter und am nächsten Morgen durch ihre zahlreichen Hinterlassenschaften in Straßen und Höfen in den Wahnsinn. Die Clubs selbst wiederum rauben den Anwohnern mit allnächtlichem Bass-Gedröhn den Schlaf. Es ist mir ein Rätsel, warum so viele Leute das mehr oder weniger klaglos über sich ergehen lassen. Zu Zeiten unseres guten alten Leonid Iljitsch wären solche Chaoten im Arbeitslager gelandet. Doch wer sich in der Neustadt beschwert, der sieht sich sofortigen Überprüfungen auf „Stallgeruch“ ausgesetzt: Wieso ziehst DU hierher, wenn’s dir hier bei UNS nicht gefällt? Wenn DIR egal ist, was WIR hier geschaffen haben? Da wird von „Kulturschutz“ gefaselt, wo eigentlich der Schutz der eigenen Geschäftsinteressen gemeint ist, die möglichst unbehelligt bleiben sollen von den berechtigten Interessen der Anwohner. Und wenn wir schon dabei sind: Ja, die Bewohner waren zuerst da! Als ich in die Neustadt kam 1988, da gab es eine Handvoll Kneipen, die ohne die Menschen im Viertel aufgeschmissen gewesen wären, und ansonsten einfach Menschen, die hier lebten und versuchten, das Beste draus zu machen. MITEINANDER, nicht gegeneinander. Heute dagegen sind den Kneipiers die Anwohner meist herzlich egal, interessant ist vielmehr, dass die hauptsächlich auswärtigen Gäste genug Platz zum Parken haben und die Musik möglichst bis fünf Uhr morgens auf voller Lautstärke laufen kann, damit die Bude voll bleibt und der Rubel rollt.

 

Um ehrlich zu sein: Die Leute, die hier heute wohnen, haben mein Deutschen-Bild erneut nachhaltig erschüttert. Diesmal zum Negativen Ich dachte immer, die Deutschen wären ein kluges, kultiviertes Volk. Aber das Geld und der Profit haben sie zu willenlosen Sklaven gemacht, die fast ausschließlich an sich selbst und das eigene Fortkommen denken. Kaum irgendwo lässt sich das anschaulicher beobachten wie in der Dresdner Neustadt.

Drei Jahre nachdem ich aus Deutschland nach Hause zurückkehrte, putschten die Reformisten um Boris Jelzin gegen die Kommunisten. Eines ihrer Hautquartiere lag nur ein paar Hundert Kilometer südlich von Sewerouralsk, in Swerdlowsk, dem heutigen Jekaterinburg. Vor sechs Jahren bin ich mit der Frau in einen Vorort Jekaterinburgs gezogen, um im Alter doch etwas näher an den medizinischen Versorgungszentren und bei den Kindern zu sein, von denen zwei schon seit Langem in Jekaterinburg leben. Sadovny hat etwas mehr als 3000 Einwohner. Es gibt im Zentrum einen kleinen Boulevard mit einigen netten Geschäften, Cafés. Wenn ich mit meiner Frau abends ausgehe, dann kehren wir in Ninotschkas kleiner Wirtschaft an der Baltym ein. Im Grunde ist hier auch 25 Jahre nach dem Ende des Kommunismus noch alles wie eh und je, nur die neuen Häuser hinter dem Teich zeugen von der Veränderung. Viele neureiche Jekaterinburger bauen sich hier draußen im Grünen ihre Wochenendsitze. Aber das ist nicht vergleichbar mit den Eintwicklungen in Dresden, der Stadt, in der ich zwei Jahre meiner Jugend zubrachte. Als ich nun von einem Besuch, auf den ich mich gefreut hatte wie ein kleines Kind und den ich im Großen und Ganzen auch sehr genossen habe, wurde mir eines klar: wie glücklich ich in meiner kleinen, dörflichen Welt doch bin, wo sich die Menschen gegenseitig achten, einander helfen und sich vor allem als Menschen betrachten, nicht als Kaufkraftfaktor.

Ein Abschied.

Alaunplatz im Sommer. Foto: J. Jannke
Alaunplatz im Sommer. Foto: J. Jannke

Abschiedsstimmung. Nach zuletzt ununterbrochen elf und insgesamt fast 25 Jahren und damit zwei Dritteln meines Lebens, die ich hier in der Dresdner Neustadt gelebt habe, kehre ich meinem Viertel den Rücken. Es erfüllt mich nicht mit Wehmut oder Trennungsschmerz. Diese Phase ist überwunden. Ich ziehe weg – der Entschluss steht fest. Die Wohnungssuche läuft schon eine Weile. Die neue Bleibe soll nicht nur ein windiger Kompromiss sein. Doch wie lange es auch noch dauern mag: Meine Tage als Neustädter sind sicher gezählt.
Der physische Abschied in Form des Wegzuges ist reine Formsache. Es war der innere Abschied, der lange dauerte und sich als äußerst schmerzhafter Prozess erwies. Fast auf den Tag genau vor fünf Jahren schon schrieb ich, damals noch im ArtUndWiese-Blog, über das Viertel, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin:

Das Leben ist hektisch geworden, hektisch, anonym, eng und wenig gemeinschaftlich – zumindest, wenn man unter „gemeinschaftlich“ etwas anderes versteht, als sich allabendlich mit seinen Saufkumpanen an der „Assi-Ecke“ Louise/Rothi/Görli zu treffen, den ganzen Weg zu blockieren und das Gedrängel zu nutzen, um Mädels anzumachen, die einfach nur an diesem Nadelöhr vorbeiwollen.

Fünf Jahre später hat sich vieles gehalten, einiges ist anders, aber keinesfalls besser. Im Gegenteil: In den letzten Jahren hat die Äußere Neustadt ihre Entwicklung hin zum übervölkerten, durchgehend versiegelten Wohngetto mit höchstem Lärm-, Schmutz- und Stressfaktor beinahe vollendet. Auf der Kamenzer und der Förstereistraße werden gerade zwei der letzten noch nicht mit Neubauten vollgestopften Brachen zugebaut. Auf der Förstereistraße ist der neue Glas-/Betonpalast mit exklusiven (und vor allem teuren) Luxuswohnungen fast fertig. Monatelang hat die Baustelle den Verkehr behindert und ohnehin knappe Parkplätze gefressen. Vor ein paar Wochen ging es an der Kamenzer kurz vor der Ecke Louisenstraße los, und auch in der Louisenstaße muss gegenüber der Feuerwache eine letzte Brache weichen. Der neue „Campus“ vor der Scheune ist so furchtbar hässlich und steril, dass es einem fast das Herz rausreißt.

Beinahe unerträglich auch die Entwicklung oberhalb des Alaunplatzes, entlang der Tannen- und Hans-Oster-Straße, der sogenannten „Oberen Neustadt“. Was hier seit 2010 geschieht, grenzt an ein städtebauliches Verbrechen und eine optische Vergewaltigung. Binnen sechs Jahren ist ein tristes, gleichförmiges, plump und absolut unästhetisch wirkendes Beton-Getto entstanden, bei dessen Anblick einem das pure Grauen kommt. Jedweder Individualismus und Anspruch an möglichst „artgerechtes“ städtisches Wohnen wurde hier zugunsten der gewinnversprechenden Schaffung möglichst zahlreichen neuen Wohnraumes über Bord geworfen. Wann immer ich hier langgehe, wünsche ich mir fast schon die Russenkasernen zurück, die hier einst standen. Selbst da gab es noch mehr Grün und noch mehr Ursprünglichkeit an diesem Ort. Ich kann nicht verstehen, dass Menschen allen Ernstes Hunderttausende von Euro auszugeben bereit sind, um am Ende in solch einem sterilen und ausgesprochen anonymen Silo zu wohnen. Und ein Ende dieser Verschandelung und schrittweisen Versiegelung meiner Neustadt in diesem ökologisch sensiblen Gebiet am Übergang zur Dresdner Heide ist längst nicht in Sicht: Der 3. Bauabschnitt läuft, und die Betonfront zwischen Alaunplatz und Heide wächst. Und doch ist dieses gigantische für die Gesamtentwicklung der Äußeren Neustadt symptomatische Projekt irgendwie schon fast wieder konsequent.

Warum Wohnraum hier immer noch so gefragt ist, erschließt sich mir nicht. Die Neustadt ist laut, dreckig, teuer, dennoch übervölkert und dadurch mittlerweile kaum noch grün oder gar idyllisch. Trotzdem scheint es irgendwie „hip“, hier zu wohnen. Seinen Latte Macchiato im Staub am Straßenrand inmitten von Trauben von Fußgängern und Radfahrern zu trinken, morgens durch vollgepullerte Hauseingänge zu laufen und vor der Haustür in Hundehaufen und Dönerleichen zu treten. Offenbar verströmt die Aussicht darauf, nachts vor lauter Krawall in den kneipengesäumten Straßen und Biergärten nicht schlafen zu können oder abends ab 7 wegen all der Essens- und Partygäste trotz Anwohnerausweises zwischen Bautzner, Königsbrücker, Prießnitz und Bischofsweg keinen Parkplatz mehr zu finden, für viele doch einen besonderen Reiz. Die Nachfrage ist so groß, dass selbst alte abgewohnte Buden ohne jeden Reiz für 9 Euro kalt pro Quadratmeter weggehen.

Mich als „Alteingesessene“, die die Flucht aus diesem Viertel während der 80er-Jahre und die damit einhergehende Entvölkerung miterlebte, hat diese Entwicklung mehr und mehr entfremdet. Ich sage es ganz ehrlich: Hier zu wohnen ist zur Qual geworden. Selbst jetzt, an einem Samstagmittag, herrscht draußen trotz Lage im Hinterhaus keine Ruhe. Auf dem Spielplatz zwei Häuser weiter kreischen die Kinder (und das sollen sie auch dürfen), unter dem Balkon bläst und rotiert geräuschvoll die vor ein paar Jahren aufgemotzte Klimaanlage des Restaurants im Vorderhaus nebenan. Irgendwo saugt jemand. Wenn der fertig ist, wird irgendein anderer im Block laut Musik anstellen, Löcher in Wände bohren, öffentlich schief singen und Gitarre spielen oder sich angeregt unterhalten. Niemals ist man hier für sich. Beim Frühstück auf dem Balkon hat man das Gefühl, von Dutzenden Augenpaaren hinter Gardinen und Jalousien im Vorderhaus beobachtet zu werden. Der Blick aus dem Fenster fällt auf die schmucklose Rückfront des Vorderhauses, keine 20 Meter entfernt. Und doch könnte man hier, am „Assi-Eck“, im Vorderhaus gar nicht wohnen.

Ehe hier der Eindruck entsteht, ich sei ein eigenbrötlerischer Soziopath – ich mag das quirlige leben in der Neustadt durchaus, sonst hätte ich nicht so lange hier gewohnt. Auch ich gehe gerne mal in die Kneipe, setze mich in den Biergarten oder mit Freunden in den Hof zum Grillen. Ich mag auch das vielfältige kulturelle Angebot hier. Aber ich möchte selbst entscheiden können, WANN ich das tue oder nutze. Wenn man in der Neustadt wohnt, hat man aber allzu oft gar keine Wahl. Wenn draußen, in der Disco oder in der WG nebenan gefeiert wird, dann muss man eben mitfeiern oder man sitzt schlaflos auf der Bettkante und beißt sich in die Faust. Friss oder stirb. Und Leute, die gern die Sau rauslassen, trifft man nun mal in der Neustadt überdurchschnittlich häufig an. Leute, die nicht hier mittendrin wohnen, sondern nur gerne nach Feierabend zum Chillen oder am Wochenende zum Ausgehen hierherkommen, können solch eine Denkweise oft nicht nachvollziehen. Ist doch alles super toll in der Neuse, die Biergärten und die Innenhöfe sind doch schön grün, und dann noch der Alaunplatz… und überhaupt, ist die Neustadt doch nun mal ein Partyviertel.

Fast 300 Jahre lang war die Äußere Neustadt ein reines Arbeiterwohnviertel. zum Vergnügungsviertel mutierte es dagegen erst in den letzten 15 bis 20 Jahren und das unter zunehmender Ausgrenzung der nach wie vor hier wohnhaften Bevölkerung. Nicht mehr sie bestimmt das sich ansiedelnde Gewerbe, sondern umgekehrt. Das Gewerbe entscheidet über das Klientel, das hierherkommt und auch -zieht. In den letzten sechs, sieben Jahren habe ich dreimal gegen permanente nächtliche Ruhestörung in bzw. im direkten Umfeld meines Wohnhauses ankämpfen müssen. Immer ging das Ganze von jemand anderem aus. Einmal war’s die Disco, die ohne Genehmigung einen überirdischen Dancefloor eingebaut hatte, der dreimal wöchentlich nachts die Wände wackeln ließ. Ein andermal der Typ über mir, der jede Nacht bei voller Lautstärke Egoshooter zockte. Nun sind es die Mieter unter mir, die nachts von Arbeit heimkommen und Remmidemmi machen. Irgendwann hat man’s einfach nur noch satt.

Leben in der Neustadt heißt heute eigentlich leben im permanenten Ausnahmezustand. Allgemein anerkannte Regeln sind hier allzu oft nichts wert. Wer meckert, hupt oder nachts schlafen will, ist ein Spießer und gehört nicht dazu. Wer Anwohner-Parkzonen fordert, hat ruckzuck die Gastronomen zum Feind. Aber wehe, man wagt es, sich zur BRN an den falschen Biertisch vor dem falschen Lokal zu setzen – da wird dann vehement auf das Einhalten von Regeln gepocht. Die Neustadt ist für mich zum Inbegriff eines verlogenen und fast schon künstlich kultivierten Lifestyles geworden: Mit der vermeintlichen kulturellen Vielfalt und Offenheit macht man glänzende Profite, aber im Grunde halten viele hier von alledem eigentlich gar nichts, sobald es über die eigene Freiheit hinausgeht. Ich werfe gewiss nicht alle in einen Topf. Das wäre vermessen und ungerecht. Es gibt sie, die Kümmerer, die Aktiven und Kreativen, die dazu beitragen, dass dieses Viertel zumindest streckenweise seinen Charme behält. Aber sie treten zurück hinter die Erfahrungen, die ich in den letzten Jahren hier gemacht habe. Freunde und Bekannte, die früher hier wohnten, sind längst weggezogen. Sicher auch, weil man einfach älter wird und insbesondere die Toleranzschwelle bezüglich Lärm, Dreck und ungehobeltem Benehmen sinkt.

Nun folge ich diesem Beispiel. Der bloße Gedanke daran, künftig in einem Haus am Stadtrand, mit gewachsener Mieterstruktur und geringer Fluktuation, guter Luft, viel Grün ringsherum und ohne Disco und Biergärten direkt nebenan zu wohnen, lässt mich aufatmen.
Wegziehen heißt ja nicht nicht wiederkommen. Ich werde gern ab und zu zurückkehren – wenn mir nach Feiern, Trubel, Alternativem und Verrücktem ist. In der Neustadt stand meine Wiege, hier wird immer meine Heimat sein. Aber wenn die Heimat beginnt, einem nicht mehr gutzutun, einen auffrisst, dann sollte man auf gesunde Distanz gehen.

Kann man noch tiefer sinken? Hetzblog frohlockt über niedergestochenen Flüchtlingsaktivisten aus Dresden.

Nichts als Spott und Zynismus für ein Gewaltopfer. Foto: Screenshot Quotenqueen
Nichts als Spott und Zynismus für ein Gewaltopfer. Foto: Screenshot Quotenqueen
Wie tief kann ein Mensch sinken? Wann ist die Grenze erreicht, ab der man sich vom Menschsein verabschiedet und die tierischen Instinkte Oberhand gewinnen lässt?
„Student wäre lieber von Nazi niedergestochen worden“ – so der polemische Titel eines Artikels im bislang lediglich eingefleischten Pegida-Fans bekannten Blog „Quotenqueen“. „Überparteilich, unabhängig, unverkäuflich“ – mit diesen Attributen wirbt das der islamfeindlichen Hetzplattform Politically Incorrect und der Pegida-Bewegung nahe stehende Blog für sich. So unverhohlen, wie dort Werbung für rechte Parteien wie die AfD, die österreichische rechtspopulistische FPÖ, die ebenso ausgerichtete holländische Wilders-Partei für die Freiheit oder auch stramm rechte Medien wie die „Junge Freiheit“ gemacht wird, darf das allerdings stark bezweifelt werden. Besser passte nach kurzem Studium der Kernthemen „antiislamisch, rassistisch, linkenfeindlich“. Der erschwindelte tadellose Leumund bekommt schon gleich zu Beginn einen fetten Knacks: Der kritischen Überpüfung entzieht man sich. Das Blog besitzt weder ein Impressum noch sonst irgendeinen Hinweis auf den Herausgeber. Die angesprochene Klientel wird das freilich wenig interessieren.

Grundlage des erwähnten Artikels bildet ein Überfall einer Gruppe von Männern auf einen 29-jährigen Studenten in der Dresdner Neustadt am vergangenen Samstagmorgen. Gegen 4.20 Uhr war der junge Mann mit drei Freunden gegen 4.20 Uhr auf dem Heimweg von einer Party gewesen, als er vor einer Pizzeria in der Alaunstraße plötzlich unvermittelt von ca. sechs bis acht Männern angegriffen und nach seinen eigenen Angaben völlig grundlos verprügelt und niedergestochen worden war. Die Nacht endete für ihn im Krankenhaus. Bilanz: zweit Messerstiche im Rücken, Lungenquetschung, Schlüsselbeinprellung, weitere Blessuren. Das Opfer selbst, seine Begleiter sowie Zeugen beschreiben die Täter als „nordafrikanischer oder südländischer Abstammung“, das Pizzeria-Personal sprach laut Polizei von „Arabern“. Der Verletzte konnte zwischenzeitlich das Krankenhaus wieder verlassen. Die Täter konnten unerkannt fliehen, die Polizei ermittelt.

Dass solch ein Gewaltakt in meinem Viertel erschüttert und beunruhigt, ist verständlich. Doch was vorgeblich „unabhängige“ Sekundärmedien wie oben genanntes Blog damit machen, stellt all das noch in den Schatten. Unter dem Deckmantel vermeintlicher Unabhängigkeit wird sich völlig unverblümt über das Opfer lustig gemacht und an seinem Leid ergötzt: Sein Unglück könne man sich leider nicht aussuchen, spöttelt der unbekannte Autor über den Verletzten. Für „Quotenqueen“ ist klar: Die Täter waren „Araber“, der Geschädigte wird als „einfacher Besoffski“ verunglimpft und lächerlich gemacht. Die eigentliche Aussage, die sich hinter all dem verbirgt, lautet: Das hat er doch verdient, wenn er sich für die Musels einsetzt. Weil sich das Opfer öffentlich gegenüber verschiedenen Medien als Flüchtlingsunterstützer und Pegida-Gegner zu erkennen gegeben hat und sich betroffen zeigte, dass es ausgerechnet von Migranten angegriffen worden sei, landet es nun am islamfeindlichen Internetpranger. Der Gipfel der Unerträglichkeit ist dann die völlig an den Haaren herbeigezogene und absolut zynische Bemerkung, der Betroffene wäre dann doch lieber von einem Nazi niedergestochen worden.

Dass dieser Wahnsinn Methode hat, zeigen unzählige Facebook-Profile, in denen ähnliche Vorfälle akribisch „ausgewertet“, die Opfer verspottet werden. Notfalls greift man in Ermangelung echter Opfer krimineller Asylbewerber schon mal auf Gewaltopfer zurück, die sehr offensichtlich von Leuten aus den eigenen Reihen aufs Korn genommen wurden, wie das Beispiel des Freitaler Linken-Stadtrats Michael Richter zeigte. Richters Auto war am 27. Juli dieses Jahres vor dessen Freitaler Wohnhaus mit einem Sprengsatz in die Luft gejagt worden – weil er sich als Fraktionsvorsitzender seiner Partei im Stadtrat jener Stadt, die für ihre Anti-Asyl-Ausschreitungen bundesweite Bekanntheit erlangte, für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen einsetzte. Im Anschluss weideten asylfeindliche Blogs und Facebook-Gruppen wie etwa die rechtsextreme Freitaler Bürgerwehr den Vorfall aus, verspotteten das Opfer und drohten ihm sogar öffentlich weitere Maßnahmen an. In Zwischenzeit hat es im September und Oktober weitere Anschläge gegeben – auf Richters Freitaler Parteibüro, das nach Vandalismus und einer Sprengstoffexplosion unbenutzbar ist.

Für die asylfeindliche Szene sind solche Fälle – insbesondere wenn Flüchtlingsaktivisten von Tätern mit Migrationshintergrund angegriffen werden – genau der Treibstoff, den man für Hetzkampagnen braucht. Unreflektiert wird sich die Geschichte dann zweckorientiert zurechtgebogen. Die Vermutung des Pizza-Personals, es handele sich bei den Dresdner Messerstechern um Araber, wird einseitig und ungeprüft übernommen, weil sie ins Konzept passt. Was dagegen nicht ins Konzept passt, sind die Aussagen der Zeugen, die zu Protokoll gaben, dass die Täter zwar südländisch wirkten, aber sehr gut Deutsch sprachen. Dies spricht wiederum keineswegs dafür, dass es sich bei den Gesuchten um Protagonisten aus der Gruppe der aktuell in Dresden aufgenommenen Kriegsflüchtlinge handelt, gegen die bei „Quotenqueen“ mit Vorliebe Stimmung gemacht wird. So wird die derzeitige Flüchtlingskrise dort als „sich anbahnende Katastrophe durch illegale Landnahme vor unserer Tür“ dargestellt und in absolut unhaltbarer Weise mit der seit Jahrzehnten fortgesetzten Landnahme der israelischen Religiösen in Palästina gleichgesetzt.

So unbegrenzt die Möglichkeiten des Internet für jeden Einzelnen, so bitter der Beigeschmack, den die Erkenntnis hinterlässt, dass diese eben auch radikalen und extremistischen Schreihälsen aller Couleur – von Nazis über Pegida bis Antifa – ihre Arbeit wesentlich erleichtern. Jeder kann sich an den Rechner setzen und seine „Wahrheiten“ in die Welt hinausposaunen. Und sei es, dass ungelernte Ich-AGler wie die von „Quotenqueen“ in Heimarbeit den Profis der „selbsternannten Qualitätsmedien“ erklären wollen, wie ihrer Ansicht nach „Qualitätsjournalismus“ geht. Im Ergebnis sieht der bei Quotenqueen dann so aus:

Welche Flüchtlinge sind jedoch hier in Massen auf dem Weg zu uns? Junge kräftige Männer, die absolut nicht den Eindruck machen, als dass sie der Hilfe besonders bedürften. Arbeitslose haben wir selbst genug und selbst Fachkräfte werden hier kaum gebraucht. Viele Fachkräfte verlassen das Land, weil sie sich im Ausland mehr Selbstbehalt ihres Einkommens erhoffen, weil im Ausland häufig die Steuer- und Sozialabgabenlast erträglicher ist.

Besser kann man nicht mehr zum Ausdruck bringen, dass man keine Ahnung hat und sich noch nie auch nur ansatzweise mit den hier ankommenden Flüchtlingen befasst hat, von denen viele eine Ausbildung oder sogar ein Studium abgeschlossen haben. Ahnung weder von unseren Gesetzen noch von unserem Steuersystem, den Steuersystemen anderswo in Europa noch von der Fachkräftesituation in unserem Land. Kaum irgendwo in Europa liegt der Eingangssteuersatz so niedrig wie bei uns (14 Prozent). Trotzdem nennt „Qotenqueen“ diese Steuersituation als einen legitimen Grund, dem Land den Rücken zu kehren und sich anderswo niederzulassen, wo man weniger Steuern zahlt. Man meint, sich zu erinnern, dass im Pegida-Jargon ein solches Verhalten auch gern mit dem Terminus „Wirtschaftsflüchtling“ beschrieben wird. Doch wenn’s der Deutsche macht, ist’s natürlich legitim. Wenn’s ein Algerier macht, nennt sich das „Asyltourismus“ und „Schmarotzertum“. Und so ist es gar nicht selten, dass Asylgegner selbst in ihrem Leben schon mehrfach Steuer- und Arbeitsasyl im Ausland in Anspruch nahmen. Die meisten davon im Steuerparadies Schweiz.
Wenn große Industrieunternehmen regelrechte Jobbörsen veranstalten und sich „Leckerli“ in Form von betriebseigener Kinderbetreuung bis hin zur Wohnungsbeschaffung überlegen, um irgendwie die benötigten Fachkräfte an Land zu ziehen – dann sollte das dem einen oder anderen vielleicht doch mal zu denken geben.

Was an all dem eigentlich am meisten ärgert ist, dass es für diese Art „Nachrichten“ einen wachsenden Markt zu geben scheint. Einen Markt für gefilterte, speziell auf bestimmte Meinungsspektren zugeschnittene Informationen, die kritischem Denken gezielt entgegensteuern, niedere Instinkte und Emotionen bedienen und auf diese Weise zur Herausbildung von Zellen aufgehetzter, potenziell handlungsbereiter Aktivisten führt. Man darf davon ausgehen, dass hier zunehmend eine Situation entsteht, die immer weiter außer Kontrolle geraten wird. Einfach deshalb, weil der Zugriff auf die Urheber durch Anonymität häufig erschwert wird und die Fülle an bereits existierenden Angeboten eine Kontrolle quasi unmöglich macht.

Was bleibt ist die Ernüchterung über die menschlichen Abgründe, die sich da auftun. Selbst Menschen, die einem nahe stehen, mit denen man bislang eigentlich gut zusammengearbeitet hat oder gar befreundet war, entpuppten sich plötzlich als Vollblut-Agitateure und Menschenverachter, die ihre gesamte Freizeit daran setzen, vermeintliche „Belege“ dafür ins Netz zu hacken, dass das Abendland kurz vor der Islamisierung und damit vor dem Untergang stehe. Menschen, mit denen man gestern noch Seite an Seite Projekte stemmte oder ein Bier trinken ging. DAS, nicht die Flüchtlinge, ist die wahre Tragödie unserer Zeit. Wie immer sind es die Krisensituationen, die das Wahre im Menschen hervorbringen. Und diese Wahrheit ist untrüglich, denn sie ist nicht fremdinduziert, sondern ein Spiegel der eigenen Sozialisierung.

Das Dresdner Messer-Opfer steht derweil weiterhin zu seinem Flüchtlingsengagement und wehrt sich vehement gegen eine Vereinnahmung seines Schicksals durch Pegida-nahe Akteure. Ein Appell, der schon im Nichts verpuffte, ehe er überhaupt ausgesprochen war.

Befremdende Republik Neustadt

So schön einfallsreich und kreativ ist die BRN nur noch selten: Installation eines sprechenden Roboters an der Ecke Louisen-/Martin-Luther-Straße. Foto: privat.
So schön einfallsreich und kreativ ist die BRN nur noch selten: Installation eines sprechenden Roboters an der Ecke Louisen-/Martin-Luther-Straße. Foto: privat.
Vielleicht ernte ich hiermit nur Kopfschütteln und das Prädikat „notorischer Nörgler“, mag sein. Dass ich kein Freund der BRN (mehr) bin, daraus mache ich seit Jahren kein Geheimnis. Nicht nur, dass man wirklich Originelles und echten Liebreiz mittlerweile zwischen all dem Kommerz mit der Lupe suchen muss. Wer einfach entspannt bummeln und an einer Bühne oder einem Stand auch mal stehen bleiben und schauen will, ohne von der nachfolgenden Masse weitergeschoben, getreten, angerempelt oder mit Bier übergossen zu werden, der hat eigentlich nur eine Chance: sich vormittags bis spätestens nachmittags auf den Weg zu machen. Nur dann ist es in den immer enger werdenden Neustadt-Straßen noch halbwegs erträglich. Rückzugsräume, wo sich die Menge auch mal verlaufen kann, gibt es fast nicht mehr. Dort, wo früher noch Innenhöfe und Brachen waren, stehen heute Neubauten. Mangels passender Fläche für Bühnen, wo sich auch mal Menschen sammeln können, ohne den restlichen Publikumsverkehr in den Straßen zu behindern, werden Bühnen eben auf der Straße aufgebaut – und das Flanieren dadurch weiter erschwert. Trotzdem kommen jedes Jahr mehr Menschen.
Die BRN ist einfach nur noch eine laute, schmutzige Pflichtveranstaltung, die man über weite Strecken getrost abblasen könnte. Wirklich sehens- und erlebenswerte Programme konzentrieren sich auf einige wenige Straßenzüge zwischen Prießnitzstraße und Martin-Luther-Platz. Diese Entwicklung zeichnet sich schon seit Jahren ab. Handlungsbedarf sieht man bei den Veranstaltern offenbar trotzdem nicht.

Was meine ich mit Handlungsbedarf? Ich glaube, dass die BRN gerade als ideelles Gebilde seit Jahren tot ist. Sie, oder besser gesagt ihr politischer und kultureller Kern, lebt nur noch in einem kleinen Kreis wackerer Fürstreiter aus Gründerzeiten. Was da drei Tage lang auf den Straßen der Neustadt tobt, hat nur noch punktuell und zu einem sehr geringen Anteil etwas mit dem Gründungsgedanken von 1990 zu tun. Stattdessen regiert aller Orten der Kommerz. Die BRN ist über weite Strecken zu einer Profitschlacht der Gewerbetreibenden geworden. Gemeinschaftssinn, Nachbarschaftlichkeit und die sarkastische Auseinandersetzung mit Politik sind völlig dahinter zurückgetreten. Und das ist verdammt schade. Und das Schlimmste: Es setzt sich als bleibender muffiger Beisgeschmack fest und überstrahlt die redlichen Bemühungen vieler Anwohner, dieses gastliche, gemeinschaftlich-gutnachbarschaftliche Element am Leben zu halten.

Privater Verkaufsstand von Anwohnern (Sebnitzer Straße). Die witzigen Beutel mit Vogelmotiv wurden sozusagen „live“ von einem vielleicht zwölfjährigen Jungen bemalt. Foto: privat.

Beispiel gefällig? Mit einer Freundin schlenderte ich am Sonntag über die BRN vor meiner Haustüre. In der Louisenstraße entschieden wir uns für ein Schüsselchen asiatisches Essen, und weil es gerade anfing, zu tröpfeln, setzten wir uns mit dem Essen gegenüber dem Stand auf eine Bank unter einem Bierzelt vor dem „Kalten Hund“ – einem Café, in dem ich schon des Öfteren zu Gast war. Dort standen vielleicht fünf, sechs Biertischgarnituren. Fast alle Plätze waren leer, da es erst Mittag war, und im „Kalten Hund“ vor allem Kaffee getrunken wird. Nur zwei andere Gäste waren da. Wir saßen kaum, da kam auch schon eine junge Kellnerin angeschossen: „Was kann ich Ihnen bringen“? Wir, fast schon entschuldigend: „Oh, wir wollten uns nur kurz setzen und essen“. Darauf sie: „Hm, also das geht aber eigentlich nicht, weil die Bänke zum ‚Kalten Hund‘ gehören“. Wir wechseln einen irritierten Blick. „Aber hier ist doch alles frei, und wenn wir jemandem im Wege sein sollten, stehen wir sofort auf und gehen weiter.“ Sie drückte ein Auge zu und ging. Eine Minute später der nächste Kellner, diesmal ein feminin wirkender junger Mann. „Was darf ich Ihnen bringen“? Wir spulten unseren Rechtfertigungsvers erneut ab. Derweile wurde das Essen langsam kalt. Im Gegensatz zu seiner jungen Kollegin blieb der blondierte Jüngling hart: „Nein, das geht nicht, Sie können hier nicht sitzen, ohne etwas zu bestellen, denn wir sind schließlich ein Café.“ Darauf meine Freundin: „Sie meinen also, es könnte andere potenzielle Gäste abhalten, wenn sie uns hier sitzen sehen..?“ Darauf er: „Wenn Sie wenigstens etwas kleines bestellen, aber nur mit dem anderen Essen hier, das geht nicht.“

MEIN Laden, MEINE Biertische, MEIN Geschäft. Wer kein Geld da lässt, ist nicht willkommen. Nicht mal für fünf Minuten. Bei so viel Ungastlichkeit sind wir schließlich entnervt aufgestanden und gegangen. Unser Essen löffelten wir im Gehen. Im „Kalten Hund“ werde ich nun nicht mehr einkehren. Sorry, Stefan, aber das hast du Herrchen und/oder Frauchen zu verdanken. Wer nicht einmal zur BRN Besitzdenken, Eigennutz und Profitgier ablegen und einfach mal offen, freundlich, zuvorkommend und einladend wirken kann, der hat den Geist der einst so „Bunten Republik“ nicht verstanden und er trägt – schlimmer noch – zum weiteren rasanten Verfall desselben bei.

Wir haben uns nach dieser Episode in Richtung Sebnitzer und Talstraße zurückgezogen – der einzigen Ecke in der Bunten Republik Neustadt, die offenbar noch nicht von der raubtierkapitalistischen Konterrevolution übermannt wurde. Hier kann man sich noch ohne Angst an einem der vielen Tische fallen lassen, bekommt Kuchen und Waffeln soviel man will für eine Spende und wird von niemandem blöd angemacht, weil man sich auf eine Bank oder einen Stuhl setzt, der einem nicht gehört. Hier ist die BRN großteils noch die BRN: Kinder musizieren am Straßenrand – und zwar ohne vom nächsten Gettoblaster auf dem Balkon obendrüber überschallt zu werden, auf der Straße wird Lindyhop oder Polka getanzt, und das Beste: Man kann sich unterhalten und schlendern, statt halb zerquetscht oder vom sich überlagernden Bassgedröhn der Bühnen und DJ-Stände fast taub zu werden.

Entspanntes Straßenkonzert mit Banda Communale in der Sebnitzer Straße. Hier ist die BRN noch authentisch. Foto: privat
Entspanntes Straßenkonzert mit Banda Communale in der Sebnitzer Straße. Hier ist die BRN noch authentisch. Foto: privat

Ich glaube, die BRN braucht mal ein paar Jahre Pause. Eine kreative Denkpause, sozusagen. Zwei, drei Jahre ohne Straßenfest könnten helfen, alte eingefahrene Muster zu durchbrechen. Die BRN muss endlich wieder die BRN werden: Kreativität und Politkritik müssen wieder vor Kommerz gehen und nicht umgekehrt. Die BRN heute ist in erster Linie ein Fest für Händler, Gewerbetreibende und Feierwütige, weniger für die Neustädter (also die eigentlichen Bewohner der Bunten Republik), die häufig genug unter all dem geballten Lärm, den Menschenmassen und dem Dreck, den sie hinterlassen, leiden.
Es muss ein neues Konzept her, das die BRN wieder liebenswert, schrullig und intelligent macht. Statt Trunkenbolde, die ihren jugendlichen Bewegungsdrang ausleben oder sich einfach nur die Kante geben wollen, sollte das Programm wieder mehr kulturell Interessierte und Familien anziehen. Das geht da los, dass man außerhalb der Talstraße oder des Martin-Luter-Platzes fast nirgendwo mehr Angebote für Kinder findet. Louisen-, Alaun- und Görlitzer Straße verkommen zu reinen Party- und Fressmeilen. In engen Straßen wie Alaun- oder Louisenstraße sollten zudem keine Bühnen stehen – es ist einfach kein Platz dafür! Wo ist denn bitte der Genuss, wenn man sich fünf Minuten lang über 20 Meter durch schwitzende Menschenleiber kämpfen muss, die am Asi-Eck dicht an dicht vor zwei Bühnen und drei Sauf-/Fressständen stehen? Überhaupt muss es weniger Fress- und Saufstände geben, die mittlerweile gefühlte 80 Prozent des Angebots auf den Straßen stellen. Fast erweckt es den Anschein als seien Sinn und der Zweck eines BRN-Besuches auf ein fettes Schnitzel oder ne Bratwurst vom Grill und ein kühles Blondes zusammengeschrumpft.
Stattdessen bin ich für kleinere kulinarische „Oasen“, wo dann eben mal zwei, drei Buden beisammen stehen, wo aber andere Angebote von dem Andrang dort nicht behindert werden. Es muss eben nicht jeder Döner und jedes Restaurant seine Küche auch noch nach draußen verlagern. Dann bliebe auch mehr Raum für andere, kreative Angebote. Gerade auch die privaten Initiativen der Anwohner sollten wieder mehr gestärkt werden – das erreicht man aber nicht, indem man den kommerziellen Anbietern das Feld überlässt.

Ja, ich weiß, die BRN lebt auch von den Standgebühren. Und genau das sollte sich ändern, wie ich finde. Zum Beispiel, indem Anrainer und Gerwerbetreibende und auch die Stadt das Fest finanziell absichern. Das mag vielleicht naiv klingen. Aber es funktioniert an anderer Stelle auch. Und wenn es heißen würde, dass sich die BRN verkleinern müsste, dann wäre das ein Preis, den ich ohne Weiteres bereit wäre, in Kauf zu nehmen. Im Übrigen würde ein moderater Eintritt (und wenn es nur drei oder vier Euro wären) vielleicht schon helfen, diese unsäglichen Massen etwas runterzuregeln, die hier alljährlich drei Tage lang in die Neustadt einfallen. Leute – es macht einfach keinen Spaß mehr.

Und wenn dann noch die wenigen wirklich einmaligen, originellen Projekte, wie etwa der Lustgarten, derart von der Stadt demontiert und boykottiert werden, wie es in diesem Jahr der Fall war, dann möchte man eigentlich nur noch, dass dieser Krampf endlich aufhört. Im Lustgarten schlug für mich viele Jahre lang so etwas wie das Herz der BRN. Hier gab es keine Langos-Buden und Wernesgrüner-Kampfsaufwagen. Stattdessen gab es Ponys, Bogenschießen, Yoga-Lounges und Lagerfeuer. Es war ein Ort zum Entspannen und Aktiv werden abseits der Straßen, nie überfüllt, nie laut, nie kommerziell. Wenn solche Projekte sterben, stirbt mit ihnen die BRN. Und mittlerweile bin ich auch bereit, sie sterben zu lassen – zumindest vorübergehend, bis zu ihrer grandiosen Wiedergeburt. Und sei es, dass ein neuer Lustgarten die kleine Keimzelle wird, aus der eine neue, alte BRN ersteht. Mein schönstes BRN-Erlebnis war – und das dürfte wenig verwundern – entsprechend der Besuch des BRN-Museums im Stadtteilzentrum. Es war viel Wehmut dabei. Aber auch ein Gefühl von heimkommen.

P.S.: Wem meine Einzelmeinung überzogen und nicht repräsentativ scheint, dem lege ich auch die Eindrücke des Dresdner Bloggerkollegen Pierre Wilschek ans Herz, die ich nur bestätigen kann.

Update:

Wie mittlerweile über die Mopo und auch das Neustadtgeflüster bekannt wurde, denkt die Schwafelrunde, die die BRN seit 2011 veranstaltet, offenbar tatsächlich über eine Auszeit nach. Demnach will man ein „Sabbatjahr“ einlegen und das Konzept der BRN grundlegend überdenken. Als Auslöser für die Offensive führte man heute auf der Abschluss-Pressekonferenz in etwa die gleichen Gründe an, die ich in meinem Beitrag und die auch viele andere Kritiker häufig anführen: Kulturabbau, zu viel Kommerz, zu wenig Platz. Ich möchte noch einmal betonen, dass ich von der Pressekonferenz und die dort besprochenen Inhalte erst nach Erscheinen meines Artikels gegen ca. 17.15 Uhr erfahren habe – über das Neustadtgeflüster.

Dresden am 18. Februar. Morgenidyll mit Ninja.

Sonnabend, 18. Februar 2012, um 9 Uhr morgens in Dresden. Ein ruhiger, milder Februarmorgen mit Vogelgezwitscher, der Lust auf Brötchen und Milchkaffee macht. Die Sonne überlegt noch, ob sie sich zeigen sollte. Ein trügerisches Idyll, wie das langsam aufziehende, stetige Brummen eines Helikopters am grauen Himmel unmissverständlich zu verstehen gibt. Das Brummen wird einen wohl durch den Tag begleiten. Seufz.

Draußen im Gesträuch des Hinterhofes huscht etwas Schwarzes umher. Mit entschlossenem Blick und listigem Grinsen klettert ein junger Mann vom Nachbargrundstück über den Lattenzaun. Wie ein Äffchen schwingt er sich gekonnt am Ast des Holunderbusches über das Gatter. Uff, das hat geklappt. Er verharrt für eine Sekunde und lächelt selbstzufrieden. Der Jüngling sieht ein wenig aus wie ein Ninja-Kämpfer, der aus seinem Martial-Arts-Film ausgebrochen ist: Schwarze Schließer-Hosen, bei denen die vielen Taschen anscheinend ein absolutes Muss sind, schwarze Snowboard-Jacke, dunkler Hoody, schwarzer Rucksack. Auf dem Gepäckstück prangt ein Blockade-Aufnäher.
Die Kapuze hat er sich tief ins Gesicht gezogen, ein schwarzer Schal wartet auf Kinnhöhe darauf, den Rest des Gesichts zu bedecken. So trägt man das, wenn man blockieren geht. Auch, wenn es eigentlich gar nichts zu blockieren gibt. Auch, wenn man doch eigentlich „gar nichts macht“ und total friedliche Absichten hegt. Wer das Fass am 13. Februar und auch am darauffolgenden Wochenende regelmäßig zum Überlaufen bringt, das sind schließlich die Scheiß-Cops mit ihren Wasserwerfern, ihrem Pfefferspray und ihren Schlagstöcken, die sie morgens schon voller Vorfreude auf das Gemetzel vorwärmen…

Zurück zu unserem jungen Ninja-Kämpfer. Wachsame Blicke um sich werfend, huscht er über den Hof und klettert etwas unbeholfen über die brüchigen Mauerreste, die unseren Hof vom angrenzenden nicht wirklich trennen. Geschafft! Was dann passiert, ist so wohlbekannt wie peinlich. Unser kämpferisch aufgemachter Blockade-Held drängt sich mit gespreizten Beinen in die Mauerecke und pinkelt in den Nachbarhof. Geschafft! Keiner hat ihn gesehen (denkt er), kein Spießer hat gemeckert. Mit triumphalem Grinsen jagt er über Mauern und Zäune zurück. Jetzt ist er gewappnet für was auch immer heute noch kommen mag. Wer so was schafft, der nimmt es auch mit dem grimmigsten aller Gegner auf – seien es Nazis, Polizisten oder hochgefährliche Müllkübel.

Keine fünf Minuten später – der nächste schwarz vermummte Karate-Kid flitzt durch den Garten. Der erfolgreiche Coup seines Vorgängers scheint sich herumgesprochen zu haben: Hier lässt es sich herrlich ungestört urinieren. Wieder bekommen Mauer und Busch im Nachbarhof eine warme gelbe Dusche, der Harnpegel im Boden steigt bedenklich, der Grad der Geruchsbelästigung vermutlich auch. So sehen Helden aus! Der Gang in eine der unzähligen Kneipen mit echten WCs wäre ja auch viel zu uncool, viel zu spackenhaft. Man sucht den Kick. Es könnte ja ein empörter Anwohner ein Fenster öffnen und sich beschweren, und man findet sich mal wieder bestätigt: alles Nazis hier in Deutschland… Wenn heute schon aller Wahrscheinlichkeit nach keine echten Nazis zum Auf-die-Fresse-Hauen zur Verfügung stehen. Morgen früh wird der Hof wohl ein Fall für die Schadstoffsanierung sein.

Der Weg zum Bäcker ist gesäumt mit schwarz gekleideten jungen Leuten. Ihre Kluft ähnelt sich auffallend. Trauern gehen die aber nicht. Sie alle streben Richtung Innenstadt, denn dort beginnt um 11 Uhr der Aufmarsch des Bündnisses Dresden-Nazifrei. Nazis marschieren heute zwar wohl keine durch die Stadt (zumindest ist keine Demo angemeldet), aber absagen is nich. Die Aktionen sind lange vorbereitet, viel Geld da reingesteckt worden, da lässt man sich jetzt von ausbleibenden Nazis keinen Strich durch die Rechnung machen. Und das aufgeregte Blitzen des Adrenalins in den Augen der jungen Wilden lässt sich jetzt auch nicht mehr löschen. Und schließlich hat man ja eine Stadt nazifrei zu bekommen. Psst: Klar ist das bloß ein Vorwand, ein hehres Ziel, unter dessen Deckmantel sich wunderbar die eigenen Ansichten zu Opfern und Tätern des 2. Weltkrieges, zum alliierten Bombenangriff auf Dresden und zu Staat, System, Kapital und Ordnung propagieren lassen. Aber wayne juckt’s?

Am 18. Februar morgens um neun in Dresden.

Bild des Monats.

Nach langer Zeit mal wieder ein „Bild des Monats“:

Christopher Haley Simpson, Herbst 1991, 61x84,3 cm
Christopher Haley Simpson, Herbst 1991, 61x84,3 cm

Dieses Aquarell des britischen Künstlers Christopher Haley Simpson aus dem Jahr 1991 hat einen festen Platz in der Reihe meiner absoluten Lieblingsbilder. Ein Werk, das die unruhigen Jahre der Wende in Dresden von 1989 bis 1991 und ihre oft skurrilen Auswüchse wie kaum ein zweites festhielt, was man übrigens über viele Werke des Künstlers aus jener Zeit sagen kann.
Wo das Bild entstand, dürfte wohl allen Neustädtern klar sein, oder?

Nachruf

Dieser Tage trage ich Trauer. Obwohl, eigentlich trage ich schon seit Jahren Trauer, was diese Thema betrifft. Heute hat sich nun genug Trauer angesammelt, dass ich sie in einen Blog-Post ergießen muss. Die gute alte Neustadt ist tot. Seit Jahren sah ich sie sterben, die letzten Zuckungen, die sich noch in ihr regen, machen einen umso trauriger, weil man weiß: Es ist das Todeszucken eines einst so charmanten, eigentümlichen und urpsrünglichen Stadtteils, der für seine querdenkenden, weltoffenen und entspannten Menschen bekannt war. Doch wo sind sie hin, die entspannten, querdenkenden und weltoffenen Menschen? Sie können sich die Mieten nicht mehr leisten, da ihr Lebensmodell nicht auf maximale Gewinnsteigerung und Leistung ausgerichtet war – und, weil es für ihre Idee von alternativen Lebensmodellen, Solidarität und Gemeinschaft (siehe „Bunte Republik Neustadt“) längst keine Mehrheit im Viertel mehr gibt, die diese Werte gegen den übermächtigen Druck der Mainstream-Gesellschaft von außen verteidigen könnte.

Zur „alten Neustadt“ gehörten die Ruinen, in denen Kinder zwischen „verwunschenen“ Möbeln aus längst vergangener Zeit und Gasgeruch Mutproben veranstalteten und „Bude“ spielten, die Bruckbuden, in denen noch Platz und Raum war für Träume und Ideen, die nur der Verwirklichung harrten. Heute ist mittlerweile auch das letzte Haus in der Äußeren Neustadt saniert, immer öfter auch luxussaniert. Wo heute noch neu gebaut wird, entstehen hyperfuturistische Klötzer mit Riesen-Terrassen und abweisenden XXL-Fensterfronten, die verkauft und nicht mehr vermietet werden. Vorbei die Zeiten, als sich hier Studenten noch bei alten Omis gegen ein wenig Hilfe im Haushalt einmieteten.

Zur „alten Neustadt“ gehörten die verruchten Eckkneipen, aus denen man die schmissige Musik und das Gröhlen der Gäste noch aus zig Metern Entfernung hören konnte – weil nicht wie heute in jedem Haus eine schicke Bar war, vor der sich duftende Trauben gut eingegelter und parfümierter Menschen bilden, deren Geschnatter und Gelächter sich mit dem der Traube von nebenan zu einem Geräuschebrei vermischt, in dem alles nur noch gleich klingt, riecht und aussieht. Nein, früher gab es wirklich nur hier und da ein Kneipchen, und die Nachtruhe war gesichert.

In der „alten Neustadt“ kannte fast jeder jeden. Man half sich oft über die Straße mit Dingen des alltäglichen Bedarfs aus, grüßte freundlich und wusste selbst, wer im letzten Haus am anderen Ende des Straßenzuges wohnte. Klar, es gab eben in jeder Straße nur zehn oder zwölf bewohnbare Häuser. Heute hingegen gleicht die Neustadt einem Bienenschwarm – es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, wer gestern noch ins Vorderhaus einzog, ist morgen vielleicht schon wieder ausgezogen. Heute sind zwar alle Häuser in der Neustadt bewohnbar, doch sie gleichen Mietskasernen, in der kaum einer noch den Nachbarn kennt. Und wenn man sich kennenlernt, dann ziehen die neuen Freunde alsbald schon weiter. Das Leben ist hektisch geworden, hektisch, anonym, eng und wenig gemeinschaftlich – zumindest, wenn man unter „gemeinschaftlich“ etwas anderes versteht, als sich allabendlich mit seinen Saufkumpanen an der „Assi-Ecke“ Louise/Rothi/Görli zu treffen, den ganzen Weg zu blockieren und das Gedrängel zu nutzen, um Mädels anzumachen, die einfach nur an diesem Nadelöhr vorbeiwollen.
Früher traf man sich in Hinterhöfen, legte dort heimlich Obst- und Gemüsegärten an und saß abends grillend mit der Hausgemeinschaft im Hof, die eigenen Kinder wuchsen buchstäblich mit denen der Nachbarn auf. Heute hat sich die Liste der Namen in unserem Haus mit jedem neuen Anlauf, den ich unternehme, um die Hausgemeinschaft mal zu einem gemütlichen Sommerfest zusammenzutrommeln, wieder grundlegend geändert.

Wenn man früher im Hochsommer auf den Alaunplatz ging, um zu spielen oder sich in die Sonne zu legen, dann war der Ort noch einer der Erholung und der Ruhe. Lediglich vereinzelt traf man dort auf spielende Kinder, die im hüfthohen Gras Verstecken spielten und auf Bäume kletterten, oder auf Muttis, die lesend oder mit ihren Kindern Karten spielend auf einer Decke saßen. Heute ist der Alaunplatz zum ultimativen Sinnbild des Wandels in der Neustadt geworden – wo man hinschaut nichts als Enge, Ignoranz und Selbstsucht. Was interessiert mich auch der Ärger der anderen über meinen Müll? Was interessiert es mich, ob es das Mädel mit dem Buch vielleicht nervt, wenn sie ständig meinen Fußball im Rücken oder die Spiritusfahne meines Grills (den ich zwei Meter von ihr entfernt aufgebaut habe) in der Nase hat?

Das abweichlerische Element des Gegen-den-Strom-Schwimmens, das die Neustadt immer ausgezeichnet hatte, ist auf simplen Vandalismus und Egoismus zusammengeschrumpft. Kaum etwas ist noch von den kreativen Ideen der Wendejahre geblieben oder von dem sozialen Engagement zu DDR-Zeiten. Gegen den Strom zu schwimmen bedeutet heute in der Neustadt, demonstrativ auf der Straße zu laufen, Wände zu besprühen oder mit dem Fahrrad todesmutig über Fußwege zu brettern – kurzum: seine Mitmenschen zu ignorieren und ganz grundlegende, simple Regeln des Zusammenlebens (zumal auf engstem Raum!) mit Füßen zu treten.

Es ist nicht mehr schön, in der Neustadt zu wohnen. Und das nicht wegen des Viertels, sondern wegen der Mehrzahl seiner Menschen. Statt über die Begrünung und Wiederbelebung von Hinterhöfen oder die Verbesserung der Fürsorge für alte Menschen in der Gegend reden sich die Leute heute über fehlende Parkplätze die Köpfe heiß. Früher lebten hier Menschen, für die das Wort Parkplatz ein Fremdwort war. Heute ist die Stellplatzsituation hingegen schon „schlecht“, wenn man nicht stets und immer das Auto direkt vor der Türe abgestellt bekommt. Solchen Leuten sage ich: Ihr wolltet hier leben – in einem Viertel mit vielen Menschen und wenig Platz. Also beschwert euch nicht.

Vielleicht werde ich einfach bloß alt und daher weniger „biegsam“, meinetwegen. Aber mir fehlt hier zunehmend die Luft zum Atmen, und diese ignoranten Kids ohne Benehmen und Anstand, die das Viertel zunehmend bevölkern, gehen mir einfach auf den Zeiger. Das Wort „Alter“ löst bei mir mittlerweile mittelschwere Plaque aus. Nur mal so zum Vergleich: Die Neustadt galt früher (zu DDR-Zeiten) als „Assi-Viertel“, weil auf manchen Parkbänken Suffkes mit Bierpullen saßen und sich in den paar Eckkneipchen auch schon mal gegenseitig unter den Tisch getrunken wurde. Da dürfte wohl allen sonnenklar sein, auf welchem Level wir uns heute befinden, wo Kids mit Bierpullen und Joints zum alltäglichen Stadtbild gehören und die Büsche auf dem Alaunplatz nicht Blüten-, sondern Urinduft versprühen. Einfach nur krank.

Ringen von Erfolg gekrönt: Nordflügel des Sowjetischen Garnisonfriedhofes nun Kulturdenkmal!

Es ist geschafft! Nach mehr als einem halben Jahr Ringen um den Erhalt des Nordflügels des Sowjetischen Garnisonfriedhofes, insgesamt drei Eingaben an das Landesamt für Denkmalpflege, das sächsische Innenministerium und das Sächsische Immobilien- und Baumanagement (SIB) und jeder Menge Öffentlichkeitsarbeit steht seit heute fest: Der Garnisonfriedhof wird von nun an als zusammenhängendes Ensemble von zeithistorischem Wert angesehen und steht vollständig unter Denkmalschutz – und zwar inklusive dem bislang von der Denkmalschutzwürde ausgeschlossenen Nordflügel, auf dem sich rund 600 Gräber von Soldaten, Zivilisten und Kindern befinden, die in der Zeit zwischen 1952 und 1987 in Dresden ums Leben kamen (art und wIEse berichtete). Dies ging heute aus einer Antwort der Sächsischen Staatsregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion im Landtag hervor, die hier zu einem späteren Zeitpunkt noch verlinkt wird. Damit haben sich viele Stunden Arbeit, in denen viele Menschen ihre Freizeit geopfert haben, letztlich gelohnt.

Inzwischen gibt es einen „Freundeskreis Sowjetischer Garnisonfriedhof in Dresden“, der von sechs engagierten Dresdner Bürgern am 14. Februar 2011 ins Leben gerufen wurde – ich selbst gehöre auch dazu. Gemeinsam haben wir in den letzten Monaten Gespräche geführt, zuständige Instanzen angeschrieben und um Unterstützung für unseren Standpunkt geworben, dass es keiner Radikalumgestaltung bedarf, die mindestens eine Viertelmillion Euro kosten würde und die Anlage ihres Friedhofscharakters vollständig berauben würde, um eine kostengünstige Pflege zu gewährleisten, wie vom Freistaat in Kooperation mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge geplant. Nicht nur aus dem Bürgerlager und von russischer Seite, sondern nun auch von denkmalschutztechnischer wehen den Plänen des unbelehrbaren Herrn Leroff vom Volksbund nun eisige Winde entgegen. Die Losung heißt ganz klar: Wir wollen kein seelenloses, dafür aber teures Denkmal – für wen denn auch? – wir wollen Ursprünglichkeit erhalten und den im Nordflügel beerdigten Toten nach Sitte ihres Heimatlandes eine würdige Totenruhe gestatten – ohne dass ihre Gräber für immer anonymisiert würden, was das Vorhaben des Herrn Leroff unweigerlich bedeutet hätte.

Der Freundeskreis setzt sich aber nun nicht zur Ruhe. Wir hoffen zwar, dass sich die unseligen Abrisspläne des Freistaates nun endgültig erledigt haben, denn ein Abriss von Grabsteinen auf einem unter Denkmalschutz stehenden Friedhof wäre so ohne Weiteres nicht möglich. Wir rechnen jedoch auch damit, dass SIB und Volksbund in irgendeiner Weise versuchen werden, ihre Pläne dennoch umzusetzen. Deshalb stehen in der nächsten Zeit eine Reihe weiterer Aktivitäten auf dem Programm. Unter anderem wird es am 30. April eine Aktion „Frühjahrsputz“ auf dem Nordflügel geben. Freiwillige sind aufgerufen, mit mitgebrachtem Gartengerät wie Spaten, Harken, Besen und Schaufeln den sich in einem katastrophalen Zustand befindlichen Nordflügel von den gröbsten Verwahrlosungserscheinungen zu befreien.
Dabei werden wir uns zunächst den schlimmsten Teil am Südwestende des Nordflügels vornehmen, wo die meisten Grabmale unter eine Schicht aus Unkraut und aufgewühlter Erde verschwunden sind. Die Erde soll gelockert, von Unkraut befreit und geebnet, die Grabmale freigelegt werden. Die Aktion soll ausloten, was das Ehrenamt künftig imstande ist, in Sachen Friedhofspflege zu leisten. 4000 Euro würde die Radikalumgestaltung dem Freistaat im Jahr Pflegekosten sparen – wir wollen zeigen, dass eine Kooperation mit Bürgern und Vereinen das ebenso abfangen kann. Es ist geplant, über das Deutsch-Russische Kulturinstitut dauerhaft Jugend- und Migrantenprojekte in die Friedhofspflege mit einzubeziehen.

Wer also Lust hat, am 30. April bei trockenem Wetter mitanzupacken, der finde sich zwischen 9 und 16 Uhr (jeder macht nur so lange mit, wie er will) am Garnisonfriedhof an der Marienallee ein (zum Nordflügel bitte vom Haupttor aus den Mittelweg rechter Hand zwischen den Grabreihen bis ganz hinter zum Denkmal für die Kinder gehen, dann die Stufen zwischen den hohen Lebensbaumhecken hinunter zum Nordflügel gehen). Für Verpflegung sorgt der Freundeskreis. Dringend benötigt werden für die Aktion Gartengeräte aller Art, Schubkarren, Besen, Eimer, aber auch Bürsten (zum reinigen der Grabsteine) und Wellblech oder Maschendraht (zum Stopfen der Löcher im Maschendrahtzaun, durch die ständig Schwarzwild einfällt) – ganz toll wäre auch ein benzingetriebener oder ein Handrasenmäher sowie eine Gartenfräse.
Falls sich ein Gartenbaubetrieb fände, der mit einer Art Spende oder aber einer dauerhaften Patenschaft die Pflege des zeithistorisch wertvollen Nordflügels unterstützen möchte, wäre das riesig. Wir benötigen jede Art von Geräten, aber auch ein- bis zwei kostengünstige Gehölzrückschnitte im Jahr. Bei Interesse bitte einfach mailen.

P.S.: Ich weiß, ich habe mein kleines Wiesen-Blog in den letzten Wochen arg vernachlässigt. Das liegt daran, dass mir mein Volontariat, das ich im März begonnen habe, einfach keiner Zeit mehr gelassen hat. Und die Zeit, die überblieb, hab ich meinem Privatleben und zum Beispiel dem Garnisonfriedhof geschenkt.

Die zweifelhaften Früchte des „Sieges“ vom 13. Februar 2010 – Gleich vier Nazi-Demos im Februar 2011 in Dresden geplant.

„Dresden nazifrei!“ lautet das Motto des Dresdner Bündnisses, das es sich zum Ziel gesetzt hat, Naziaufmärsche aus der Stadt zu verbannen, damit man die „Glatzen“ mit unserer schönen Stadt möglichst nicht mehr in Verbindung bringt, damit der Dresdner sie möglichst nicht mehr zu Gesicht bekommen muss. Bundesweit hängen die kreischend-pinkfarbenen Plakate und werben mit Slogans wie „Nie wieder Faschismus!“ oder „Nie wieder Krieg!“ für eine erneute Blockade von Nazi-Demonstrationen in Dresden. „Nach Dresden mobilisieren“, heißt der Vorgang der seit letztem Herbst laufenden Vorbereitungen im Aktivisten-Jargon.

So lautete auch im vergangenen Jahr schon das Motto der Blockade, die zwar den Marsch der Nazis durch die Neustadt und Teile der Innenstadt verhinderte, jedoch nur unter billigender Inkaufnahme der stundenlangen Nazi-Belagerung eines Holocaust-Denkmals sowie eines Seniorenheimes am Schlesischen Platz vor dem Neustädter Bahnhof. Als „Sieg“ wurde der vermeintlich verhinderte Aufmarsch in der links-alternativen und linksextremen Szene gefeiert, ein Sieg, den man auch verbissen und mit Schmackes gegen die drohende Überflügelung durch die innerstädtische Menschenkette in Sachen mediale Aufmerksamkeit zu verteidigen suchte. Dabei hatte man im Prinzip nur den Marsch, nicht aber den Aufmarsch der Faschisten verhindert.

Doch was ist eigentlich dabei herausgekommen? Was wurde mit der Blockade erreicht?
Abgesehen von den bereits erwähnten unschönen Folgen für das Holocaust-Mahnmal am Bahnhof und die armen Omis und Opis im Seniorenheim, die stundenlang den braunen Mob direkt vor der Nase hatten, den Unmengen an Kosten des dadurch notwendig gewordenen Polizeieinsatzes, die jeder Einzelne mittragen muss, hat die Blockade vor allem eines erreicht: Nach dem gescheiterten Marsch am 13. Februar 2010 bleiben die Nazis der Stadt nun nicht etwa fern, nein, vielmehr planen sie für Februar 2011 gleich MEHRERE Veranstaltungen dieser Art für Dresden. Zunächst einen Trauer- bzw. Fackelmarsch am 13. Februar und schließlich noch weitere Demonstrationen mit insgesamt Tausenden Teilnehmern unter dem Motto „Recht auf Gedenken – Der Wahrheit eine Gasse!“ (!omg!) am 19 Februar.

Der verhinderte Großaufmarsch vom letzten Jahr hat die Nazis nicht etwa abgeschreckt, sondern vielmehr dazu angestachelt, ihr Konzept zu ändern. Statt eines einzigen großen Aufmarsches am 13. Februar, beschränkt man sich nun an dem heiklen Datum auf einen zahlenmäßig kleineren Fackelmarsch und verschiebt den Großmarsch auf den 19. Aus der Schmähung des letzten Jahres lernend, wird der Aufmarsch zudem nicht in einem stattfinden, sondern anscheinend plant man, sich zu verteilen und stattdessen gleich mehrere Demonstrationen auf verschiedenen Routen gleichzeitig stattfinden zu lassen. Die Junge Landsmannschaft Ostsachsen droht auf ihrer Homepage bereits: „Klare Ansage an alle Blockierer: Hände weg vom Trauermarsch der JLO!“
So weit ist es nun schon gekommen, dass die vermeintlichen Antifaschisten teils offen auf die demokratischen Errungenschaften pfeifen, während die Nazis einen auf schmerzhafte, bigotte, oberlehrerhafte Weise daran erinnern müssen: „Die Verhinderung einer ordnungsgemäß angemeldeten Demonstration ist rechtswidrig!“ Was bei den Linken das „Bündnis Dresden Nazifrei“ ist, ist bei den Neonazis mittlerweile das „Aktionsbündnis gegen das Vergessen“.

Ich muss schon sagen, zu diesem „Sieg“ – zweifellos kann man das nicht anders bezeichnen – muss man den Blockierern wahrlich gratulieren, ich vergehe geradez in Ehrfurcht und Dankbarkeit.
Dank ihres heldenhaften Mutes und ihres klugen Einsatzes wird die Polizei in diesem Februar wohl gleich zweimal zum Einsatz anrücken müssen, die Dresdner müssen vier Nazi-Demonstrationen über sich ergehen lassen, statt einer, und die Medien dieser Welt werden gleich zweimal, statt nur am 13. Dresden mit marschierenden Nazis in Verbindung bringen. Vor so viel geheuchelter Sorge um den Ruf Dresdens, so viel unbelehrbarer Dummheit (man kann es nicht anders nennen) und Selbstbeweihräucherung möchte man fast kapitulieren. Zumal diese Tendenz, dass die teils gewalttätigen Proteste gegen die Nazi-Aufmärsche am 13. Februar jene eben nicht fernhalten, sondern geradezu magisch anziehen, bereits seit Jahren offenbar wird. Die Entwicklung nach der letztjährigen Blockade bestätigt dies eindrucksvoll.

Der Vorwurf der Heuchelei ergibt sich zwangsläufig aus der Diskrepanz zwischen dein scheinbar heheren Zielen, die sich die Blockierer auf die Fahnen geschrieben haben („Dresden nazifrei!“, „Nie wieder Faschismus!“, „Nie wieder Krieg!“) und den teils gewaltsamen und rechtsstaatswidrigen Methoden der Durchsetzung zum einen sowie den Folgen, die diese Aktionen offensichtlich haben, und die maximal im Widerspruch zu dem stehen, was man sich vorgenommen hatte, zum anderen.
Die Blockade dient mitnichten dem Kampf gegen Rechtsextremismus, sie dient allein dem kollektiven Aggressionsabbau und der Pflege von Feindbildern, zu denen allerdings nicht nur die Rechten zählen, sondern offensichtlich auch der Staat und seine Ordnungskräfte (Polizei), alles Deutsche, Spießbürgertum, der Raubtierkapitalismus und vieles mehr. Die Blockade findet nicht etwa statt, um Krieg und Faschismus zu bekämpfen, sondern um selbst Krieg spielen zu können – und am Ende Sieger zu bleiben. Anderenfalls hätte man längst aus der Erfahrung der offensichtlichen Kontraproduktivität aus dem letzten Jahr gelernt und sich selbst in seinen Zielen als gescheitert erkannt.

Wohin soll das führen? Reicht es nicht, dass Dresden Jahr um Jahr stärker in den Fokus der Nazis gerät, ja regelrecht zum Schlachtfeld degeneriert, an einem Tag, an dem eigentlich der Opfer von Krieg und Gewalt gedacht werden sollte? Schande über all jene, die diesen Tag auf welche Art auch immer für ihre politischen Scharmützel missbrauchen und alljährlich aufs Neue ohne zu überlegen den Krieg in die Stadt tragen!

Dresdner Kleinkrieg um den Gedenktag gegen Krieg und Gewalt

Die Überschrift bildet, so denke ich, recht trefflich das ab, was alljährlich in Dresden geschieht, sobald der 13. Februar ins Sichtfeld gerät. In allen politischen Lagern ist derzeit jene Phase auf Hochtouren gekommen, in der die Waffen gewetzt, Bündnisse geschmiedet, Schlachtpläne erstellt und die Kämpfer auf die jeweiligen politischen bzw. ideologischen Ziele eingeschworen werden: In Dresden hagelt es derzeit die üblichen Kriegserklärungen, um am 13. Februar – jenem Tag, an dem eigentlich der Opfer mutwilliger und brutaler Zerstörung und Gewalt während des Zweiten Weltkrieges und inbesondere des 13. Februar 1945 gedacht werden sollte – dem jeweiligen ausgemachten Gegner nicht Schlachtfeld und Sieg zu überlassen.
Selbsternannte Anti-Rechts-Aktivisten (darunter mögen durchaus auch einzelne Gruppen und Vereine wie etwa Bürger Courage sein, die sich auch über den Rest des Jahres durchaus mit Aufklärungsarbeit gegen rechtes Gedankengut hervortun) erklären sowohl den Nazis als auch dem konservativ-bürgerschaftlichen Lager den Krieg. Den Nazis möchte man keinen Fuß breit Marschroute lassen – frei nach dem Motto: Sehen wir sie nicht marschieren, lassen sie sich besser ignorieren… -, das bürgerliche Gedenken in der Innenstadt, das sich um die Köpfe der Stadt in Gestalt der Menschenkette etabliert hat, empfindet man wiederum als „verlogen“, „heuchlerisch“ und „populistisch“: Während die „echten Antifaschisten“ in der Neustadt die „Drecksarbeit“ machen, sich den Nazis heldenmutig „entgegenwerfen“, hielten die „Spießbürger“ in der Innenstadt derweile Händchen und feierten sich selbst.

Die Nazis wiederum sehen sich ohnehin von allen Seiten bedroht und verfolgt: Die Stadt hätte ihre „demokratischen Rechte schützen“ und den genehmigten Marsch im vergangenen Jahr durchsetzen müssen. Und „die Linken“ sollte man eh am besten „abstechen“. Jaja, wenn es darum geht, die Freiheiten einer Gesellschaft, die man im Prinzip verachtet, für sich selbst zu nutzen, wird man sogar schon mal zum Rechtsstaatsbefürworter.

Von ganz links außen formiert sich derweil alle Jahre wieder die ultimative Hassfront – und die richtet sich gleich gegen alles Deutsche, egal, ob links, rechts oder in der Mitte. Auch in diesem Jahr werden die Antideutschen wieder marschieren, ihre hasserfüllten Salven wahllos gegen Passanten oder trauernde Rentner schleudern, die am 13. Februar 45 Angehörige verloren und ihrer gedenken wollen.
Komisch nur, dass unserer selbsternannten Antifaschisten das faschistoide Potenzial dieser Randgruppe noch nicht entdeckt haben, ja, dass sie sich mit eben jenen sogar teils verbünden, um schlagkräftiger gegen Nazis vorgehen zu können.
So tauchten bei der Blockade am Albertplatz im letzten Jahr verdächtig viele dieser schwarz vermummten, mit Israel-Fahnen bewaffneten Antideutschen in der Menge auf; sie standen neben Ökos, selbsternannten Menschenfreunden und linken Politikern wie Katja Kipping und Jens Hoffsommer, die ihrerseits wiederum Seit an Seit standen mit den Stalin-Apologeten der MLPD und Radikalen Kommunisten der DKP.

Da stellt man sich zwangsläufig die Frage, wie ernst man die Dresdner Blockade-Bewegung eigentlich nehmen kann. Geht es um den Kampf gegen Extremismus? Sicher nicht, denn unter den Blockierern selbst waren so viele Extremisten, dass der Rest eigentlich hätte stutzig werden müssen, so es ihm denn tatsächlich um den Kampf gegen Extremismus ginge.
Stattdessen hat man sich auf den „Kampf gegen Rechts“ eingeschossen – doch steht der zu großen Teilen eben auf keiner geschlossenen weltanschaulichen Grundlage, sondern vielmehr auf diffusen Feindbildern von der „Glatze, der aufs Maul geschlagen gehört“ und noch etwas weit Banalerem: Eigennutz. Aktiv „gegen rechts“ vorzugehen, ist „in“, besonders in der Neustadt. Es garantiert – inbesondere am 13. Februar in Dresden – ein Maximum an medialer Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit, man wirkt „an etwas Großem“ mit, es gibt einen „Sieg“ zu erringen: Wir oder die. Das stiftet Gemeinschaft und Anerkennung – etwas, das der Mensch zum Leben braucht wie die Luft zum Atmen.

Es ist stark zu bezweifeln, dass die Mehrzahl der Blockierer an der Blockade mitwirkt, weil sie das Problem des Rechtsextremismus tatsächlich durchstiegen hätte, was zwangsläufig ein Inbeziehungsetzen mit gesellschaftlichen Ursachen zur Folge haben müsste. Eine Auseinandersetzung mit diesen Ursachen wird im Gegenteil von den Protagonisten (nicht von allen wohlgemerkt!) als lästig und überflüssig empfunden. Durchstiege man das Wesen des Rechtsradikalismus müsste man zudem mit derselben Konsequenz dem Linksradikalismus entgegentreten – ohne beides in seiner heutigen Wirkweise und Bedeutsamkeit in Deutschland gleichsetzen zu wollen. Gegen Extemismus sein, heißt, gegen totalitäre, inhumane, unfreiheitliche Überzeugungen zu sein. Sämtliches ist im linksextremen politischen Spektrum mit den stalinistischen Diktaturen des Ostblockes und auch während der 60er- bis 80er-Jahre mit der RAF zur Genüge unter Beweis gestellt worden.
Zu sagen, man müsse gegen Rechts sein, weil die Rechtsextremen mehr Menschen umbrächten, hieße, gegen Symptome anzugehen, nicht gegen die Ideologien, denen sie entspringen können.

Hätte die Polizei im letzten Jahr durchgreifen und den Marsch der Rechtsextremen durchsetzen müssen? Das jüngste Verwaltungsgerichtsurteil sagt Ja. Doch schon im verlinkten Artikel des geschätzten Kollegen Christoph Springer wird die eigentliche Botschaft des Urteils zur Groteske verdreht: Es besagt eben nicht, dass die Polizei „mehr für Nazis tun“ muss, sondern dass die Polizei als staatliche Ordnungskraft verpflichtet ist, Recht und Gesetz durchzusetzen – denn nach Recht und Gesetz war der Nazi-Aufmarsch legal, da angemeldet und genehmigt, und die Blockade nicht. Ebenso, wie sie verpflichtet ist, den Aufmarsch der Linksextremen, die Bürgerkette und andere genehmigte Veranstaltungen zu schützen, ist sie auch verpflichtet, den Marsch der Rechtsextremen zu schützen. Simple as that.

Ich wiederhole es auch in diesem Jahr: Keine Blockade der Welt wird dazu beitragen, dass man die „rechten Hackfressen“ nicht mehr zu Gesicht bekommt, dass sie sich in Luft auflösen und das Problem des Rechtssextremismus irgendwann von selbst verschwindet. Aber vielleicht will man das im Lager der Blockierer ja auch gar nicht wirklich, denn was würde man dann jedes Jahr am 13. Februar bloß tun? Keine Massenkundgebungen mit Fahnen und Kampfparolen mehr! Keine Schlägereien mit Nazis! Keine brennenden Container! Kein Grund, sich sinnlos zu besaufen und anschließend die Hauseingänge der Neustadt voll zu urinieren! Keine Gelegenheit, sich als Held und Sieger selbst zu feiern!