Kleine Geschichte der Gentrifizierung – oder wie ein Stadtteil sein menschliches Antlitz verlor.

Februar 1987. Dresden, ach Dresden. Einem jeden von uns blutet das Herz beim Gedanken daran, dass wir die Stadt vielleicht schon in wenigen Wochen wieder verlassen müssen. Wann hat man je einen Ort von solch erhabener Schönheit gesehen? Das heißt, eigentlich ist die Stadt ja weniger schön mit all ihren noch immer sichtbaren Kriegswunden und -narben, als dass man ihre einstige Schönheit noch immer erahnen kann, und an manchen Stellen schwingt sie sich zu voller Blüte auf. Im Zwinger zum Beispiel, ja, ich erinnere mich noch gut an unseren Besuch dort im letzten Juni. Tschemuschin, unser damaliger Alter und ein echter Schlächter, hatte uns – damals noch blutige Grünschnäbel kurz nach dem Grundwehrdienst – die halbe Nacht lang traktiert: antreten, Liegestütze, die Nationalhymne singen, hinlegen, wieder antreten… und so weiter. Und dazwischen mit Schlägen und Tritten nicht gespart. Der Teufel soll in holen, den alten Drecksack. Am nächsten Tag sind wir jedenfalls völlig ramponiert zu dem Ausflug aufgebrochen, auf den wir uns alle so gefreut hatten – fest entschlossen, uns das von keinem verfluchten Tschemuschin der Welt verderben zu lassen. Der Zwinger war beeindruckend, besonders die Inschrift dieses Teufelskerls Hanutin, des Minenräumers, die auch über 40 Jahre später noch in der Zwinger- und auch an der Schlossmauer erkennbar ist.
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Doch auf dem Weg dorthin offenbarten sich uns in einem Anflug von grausamem Realismus die Schattenseiten der Stadt. Ein Viertel unweit unseres Städtchens, fast scheint es von Gott und aller Welt vergessen: dreckig, die Häuser schwarz von Ruß und Abgasen, manche kriegsversehrt, vor sich hinmodernd oder bereits ruinös, nur teilweise noch bewohnt. Tschemuschin lachte grimmig, als er unsere betroffenen Blicke angesichts all des Verfalls sah, an dem wir mit der Straßenbahn vorbeiholperten. Es war unser erster richtiger Ausflug aus der Kaserne gewesen und irgendwie hatten wir mit so viel offensichtlichem Elend in einem Land, das bei uns daheim für seine Fortschrittlichkeit bewundert wurde, nicht gerechnet. „Soll eh alles bald weg“, hatte Tschemuschin, der verwitterte Mittdreißiger, abfällig hinter seiner Zigarette hervorgenuschelt. „Wird mal ein echtes Sternenstädtchen, alles neu und sauber. Aber nicht für so kleine Verlierer wie euch. Da kommen die Anständigen hin, die Fleißigen, die, die dem Vaterland Ehre machen.“

Was Tschemuschin, die anderen und auch ich damals nicht wussten: Das Viertel, die Neustadt, am nördlichen Elbufer gelegen, wird nicht fallen zumindest nicht sofort. Und es gibt auch noch Menschen, die dort wohnen. Sie wird nicht fallen, weil sich viele dieser Bewohner dagegen organisieren werden. Sie werden auf die Barrikaden gehen, um ihre Heimat vor dem Abriss zu retten – und damit auch ein Stück Kultur- und Lebensraum. Die Neustadt ist für sie ein Refugium, in dem sie sich vergleichsweise frei bewegen können, wo in verfallenen Hinterhöfen kreative Impulse Raum finden, sich zu entfalten, wo sich verräucherte Kneipen, Ateliers und Wohnungen auf wundersame Weise in abrissreifen Häusern halten. Viele junge Familien wohnen dort, Studenten, Künstler, die junge Intelligenz, aber auch gesellschaftlich Ausgestoßene, Penner. Omelnitschenko, Unterleutnant und der Zugführer unseres achten Panzerausbildungszuges unserer vierten Kompanie des ersten Bataillons, hat mir nach einem seiner mehr oder weniger legalen Ausflüge in eine bei sowjetischen Offizieren beliebte Bar im besagten Viertel in lebendigen Farben davon erzählt. Omelnitschenko ist in Ordnung, man kann im vertrauen. Einer der wenigen hier aus dem Offizierskorps. Hat mir sogar versprochen, mich mal dorthin mitzunehmen, sollte ich nach der Ausbildung in Dresden stationiert werden und meine Balken erhalten. In der Neustadt, so schilderte nun Omelnitschenko, herrsche quasi Anarchie. Dort lebe jeder, wie es ihm gefiel, und ein allseits bekannter Wirt weise jedem, der nachfragte, den Weg in eine Kommunalka in einem besonders verfallenen Haus, in der freie Liebe praktiziert werde – jeder mit jedem. Der gute Jaschka Omelnitschenko, kaum zwei Jahre älter als ich, hat mich geneckt und ausgelacht, weil ich ganz rote Ohren bekommen hatte. Nun ja, ich gestehe, wir Kursanten haben hier nach einem halben Jahr auf dem Trockenen alle ein ziemliches Defizit in Sachen Liebe entwickelt – und anderthalb weitere Jahre noch vor uns!

So ist das also mit dem hässlichen Dresden: Die Neustadt, eine Enklave wie aus einer anderen Welt. Und deren Bewohner, deren harter Kern der Kampf um Wohn- und Lebensraum und um freie Entfaltung zusammengeschweißt hat. Wahrscheinlich wissen sie ganz genau, dass die sozialistisch-futuristischen Neubauten, die hier geplant sind, nicht für sie gedacht sind. Aber vielleicht können sie sich auch einfach gar nicht vorstellen, in solch beengten Verhältnissen, in einem mit dem Lineal gezogenen, tristen Trabanten, zu hausen? 10000 Menschen leben noch in der ausblutenden Neustadt. Immer mehr ziehen weg. Würden die Neubaupläne verwirklicht, würden es plötzlich Zigtausende sein, die sich dieselbe Fläche teilen müssten, zu teureren, für viele unerschwinglichen Mieten. Der Kampf dieser Menschen um ihr Stückchen Heimat und sei sie auch in einem noch so desolaten Zustand, und die vielen Geschichten und Mythen, die sich in unseren Reihen um das angeblich freizügige Leben dort ranken, faszinieren mich auf eine Weise, die schwer zu erklären ist. Bei uns daheim kenne ich niemanden, der mit derartigem Verve um ein paar alte Bauten kämpfen und sich dafür auch noch mit der Staatsmacht anlegen würde. Denn das werden sie. Zunächst mit Erfolg.

Jahre später.

Die Neustadt wurde nicht abgerissen, stattdessen kam die Wiedervereinigung. Unsere Truppen jagten die Deutschen zum Teufel, gut, dass ich das nicht mehr miterleben musste. Aber im Prinzip fand ich es richtig so. Fast 50 Jahre waren doch wirklich genug. Zumal ich von Jaschka wusste, dass wir einfachen Jungs vielen Deutschen einfach nur leidtaten. Und nichts könnte schlimmer sein als bemitleidet zu werden. Dabei konnten einem eigentlich die Deutschen leidtun: zu Befehlsempfängern degradiert im eigenen Lande und der Willkür einer fremden Macht vollends ausgeliefert. Das änderte sich nun schlagartig. Und die logische Konsequenz für uns konnte nur lauten: Abzug. Und überhaupt hatten wir ja alsbald bei uns daheim mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen.

Aber was wurde aus der modrigen Neustadt, die mich so fasziniert hatte? Sie wurde zum Sanierungsgebiet. Es gab also erst mal kaum neue Häuser, sondern die alten, eigentlich so herrlichen Gründerzeitbauten wurden aufwendig saniert, manche abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Die Neustadt füllte sich langsam wieder mit Leben. In den folgenden 30 Jahren wird sich die Zahl ihrer Bewohner fast verdoppeln. Doch die Menschen, die damals so gekämpft haben, haben den Kampf trotzdem verloren. Sie kämpften ja nicht nur um den Erhalt der Bausubstanz, sondern vorrangig um ihre Lebensphilosophien und Träume, um das, was sie in all den Jahren der Nichtbeachtung durch den Staat mit eigenen Händen geschaffen hatten. Das waren vor allem soziale Errungenschaften: Arbeitslosentreffs, trockene Wohnungen für Familien und alte Menschen, Räume für Kunstschaffende, Kinderspielplätze, Straßenfeste – alles Dinge, die der Gemeinschaft dienten, nicht dem Einzelnen. Von alledem ist heute kaum etwas geblieben. Die Häuser sind neu und schick – aber sie gehören nicht mehr den Menschen, sondern raffgierigen Kapitalisten – so wie fast alles andere auch. Raum für freie Entfaltung gibt es kaum noch. Die Menschen treten sich gegenseitig auf die Füße, und der einstige Geist von Freiheitlichkeit, Aufmüpfigkeit und Solidargedanke ist im Grunde hinweggeblasen, niedergewalzt von der Planierraupe des Kapitalismus. Längst ist sich in der Neustadt jeder selbst der Nächste. Anders als damals hat das Viertel heute den Ruf eines Party- und Amüsierviertels weg. Die Straßen sind gesäumt von Kneipen, ein Club reiht sich an den nächsten, schließt der eine, öffnet ein anderer. Und die Betreiber rühmen sich gar des Monsters, das da erschaffen wurde, ja sie wetteifern förmlich um den Status des Wegbereiters dieser „neuen Neustadt“. Und sie sehen sich – und das ist das eigentlich Groteske dabei – in der Tradition ausgerechnet jener, für deren Träume sie im Grunde zum Totengräber wurden. Es ist ein seltsames Klima, wenn man durch die Straßen geht: ein Viertel, das in sich selbst verliebt ist für etwas, das es längst nicht mehr ist, das nur noch als Tagebucheintrag in den Aufzeichnungen der Altvorderen existiert, als gerahmtes Kalenderblatt in der Stadtteilchronik des hiesigen Museums.

Bei uns daheim gibt es ein schönes Sprichwort: „Alle sind Leute, doch längst nicht alle auch Menschen.“ Damals, als ich kurz vor meiner Entlassung aus der Armee im Herbst 1988 mit Jaschka durch die Neustadt lief, traf ich fast ausschließlich Menschen. Gute, herzliche Menschen, denen die Gemeinschaft am Herzen lag. Die meisten waren arme Künstler, Querdenker oder hart arbeitende Leute, aber alle anständig und ehrlich und tief mit ihrem Viertel verwurzelt. Mit dem wenigen, was sie hatten, versuchten sie es zu verschönern, bunt zu machen. Sie halfen einander gegenseitig dabei und versetzten auf diese Weise ganze Häuser wieder in einen bewohnbaren Zustand. Manchmal versteckten sie auch Unsere, wenn manche sich unerlaubt aus der Kaserne gestohlen hatten, um ein wenig Spaß zu haben, und ihnen die Schasskommandos auf den Fersen waren. Sie haben mein Bild von den Deutschen tiefgreifend verändert. Zum Positiven.

Wenn ich heute durch die Straßen der Neustadt gehe, ist nichts von der alten Faszination geblieben. Ich sehe ein Viertel wie so viele andere: protzig, geschäftig, übervölkert, eng, schmutzig und nur ganz vereinzelt noch trotzig – und wenn, dann an den falschen Stellen. Aufmüpfigkeit äußert sich allenfalls noch im Herumgelunger auf Straßen und Gehwegen, in den Grafitti an den Hauswänden, weniger in geistiger Beweglichkeit und solidarischer Initiative. Stattdessen hat der Profit das Ruder übernommen. Längst ist es wichtiger geworden, dass der eigene Laden läuft, sich selbst darzustellen, als dass die Nachbarn in ihren Wohnungen ruhig schlafen können. Schmutz und Lärm aus unzähligen Clubs und Restaurants verlangen den Bewohnern immer mehr Nervenstärke und Kompromissbereitschaft ab. Viele der Menschen, die damals für den Erhalt eines Gemeinwesens kämpften, sind lange schon fort. Geflohen vor dem Moloch, den die Entourage der Modernisierung und Erneuerung erschuf – auch gern als Gentrifizierung bezeichnet. Die alten Idealisten von damals – sie waren machtlos gegen die gewaltige Sogkraft des Geldes und gegen das Besitzdenken, sie passten sich an oder warfen schließlich ernüchtert das Handtuch.

„Auf der Wiese der Hoffnung weiden viele Narren“… noch so ein altes russisches Sprichwort. Sie haben wirklich geglaubt, sie könnten die Neustadt retten und die weitere Entwicklung des Viertels dauerhaft im Sinne des Gemeinwesens gestalten. Und scheiterten, nachdem die DDR Geschichte war und andere den neuen Zeitgeist für sich arbeiten ließen. Sie brauchten gar nicht viel dafür zu tun. Fast schon ein – wenn auch trauriges – Musterbeispiel für die Systematik des Kapitalismus, das jedem sowjetischen Sachbuch über den Marxismus-Leninismus zur Ehre gereicht hätte.

So viel dazu, wie der Lauf der Dinge sich manchmal auf unschöne Weise verselbständigt. Wirklich schändlich aber ist der teils schmutzige Kampf um die verbliebenen Ressourcen im fast totgespielten Viertel. Mit dem Tempo, mit dem die letzten Freiflächen mit Wohnhäusern vollgestopft werden, wächst auch das Gerangel um Vorrechte, Besitzansprüche und Deutungshoheiten. Wer war zuerst da? Bewohner oder Kneipen? Es ist verlockend, auf den Neustadt-Express aufzuspringen, der mit so originell klingenden Attributen wie „alternativ“ und „Szeneviertel“ mit Werten für sich wirbt, die längst an den Rand gedrängt wurden vom routinierten Alltag eines Handels- und Geschäftsviertels. Wohnungen werden immer teurer – und die Clubs immer lauter, um sich gegen die wachsende Konkurrenz durchzusetzen. Was ironischerweise immer seltener gelingt. Ihre Gäste kommen oft von außerhalb und treiben die Einheimischen nachts mit Gegröhle und Gelächter und am nächsten Morgen durch ihre zahlreichen Hinterlassenschaften in Straßen und Höfen in den Wahnsinn. Die Clubs selbst wiederum rauben den Anwohnern mit allnächtlichem Bass-Gedröhn den Schlaf. Es ist mir ein Rätsel, warum so viele Leute das mehr oder weniger klaglos über sich ergehen lassen. Zu Zeiten unseres guten alten Leonid Iljitsch wären solche Chaoten im Arbeitslager gelandet. Doch wer sich in der Neustadt beschwert, der sieht sich sofortigen Überprüfungen auf „Stallgeruch“ ausgesetzt: Wieso ziehst DU hierher, wenn’s dir hier bei UNS nicht gefällt? Wenn DIR egal ist, was WIR hier geschaffen haben? Da wird von „Kulturschutz“ gefaselt, wo eigentlich der Schutz der eigenen Geschäftsinteressen gemeint ist, die möglichst unbehelligt bleiben sollen von den berechtigten Interessen der Anwohner. Und wenn wir schon dabei sind: Ja, die Bewohner waren zuerst da! Als ich in die Neustadt kam 1988, da gab es eine Handvoll Kneipen, die ohne die Menschen im Viertel aufgeschmissen gewesen wären, und ansonsten einfach Menschen, die hier lebten und versuchten, das Beste draus zu machen. MITEINANDER, nicht gegeneinander. Heute dagegen sind den Kneipiers die Anwohner meist herzlich egal, interessant ist vielmehr, dass die hauptsächlich auswärtigen Gäste genug Platz zum Parken haben und die Musik möglichst bis fünf Uhr morgens auf voller Lautstärke laufen kann, damit die Bude voll bleibt und der Rubel rollt.

 

Um ehrlich zu sein: Die Leute, die hier heute wohnen, haben mein Deutschen-Bild erneut nachhaltig erschüttert. Diesmal zum Negativen Ich dachte immer, die Deutschen wären ein kluges, kultiviertes Volk. Aber das Geld und der Profit haben sie zu willenlosen Sklaven gemacht, die fast ausschließlich an sich selbst und das eigene Fortkommen denken. Kaum irgendwo lässt sich das anschaulicher beobachten wie in der Dresdner Neustadt.

Drei Jahre nachdem ich aus Deutschland nach Hause zurückkehrte, putschten die Reformisten um Boris Jelzin gegen die Kommunisten. Eines ihrer Hautquartiere lag nur ein paar Hundert Kilometer südlich von Sewerouralsk, in Swerdlowsk, dem heutigen Jekaterinburg. Vor sechs Jahren bin ich mit der Frau in einen Vorort Jekaterinburgs gezogen, um im Alter doch etwas näher an den medizinischen Versorgungszentren und bei den Kindern zu sein, von denen zwei schon seit Langem in Jekaterinburg leben. Sadovny hat etwas mehr als 3000 Einwohner. Es gibt im Zentrum einen kleinen Boulevard mit einigen netten Geschäften, Cafés. Wenn ich mit meiner Frau abends ausgehe, dann kehren wir in Ninotschkas kleiner Wirtschaft an der Baltym ein. Im Grunde ist hier auch 25 Jahre nach dem Ende des Kommunismus noch alles wie eh und je, nur die neuen Häuser hinter dem Teich zeugen von der Veränderung. Viele neureiche Jekaterinburger bauen sich hier draußen im Grünen ihre Wochenendsitze. Aber das ist nicht vergleichbar mit den Eintwicklungen in Dresden, der Stadt, in der ich zwei Jahre meiner Jugend zubrachte. Als ich nun von einem Besuch, auf den ich mich gefreut hatte wie ein kleines Kind und den ich im Großen und Ganzen auch sehr genossen habe, wurde mir eines klar: wie glücklich ich in meiner kleinen, dörflichen Welt doch bin, wo sich die Menschen gegenseitig achten, einander helfen und sich vor allem als Menschen betrachten, nicht als Kaufkraftfaktor.

Frantz – Ein Film. Ein Plädoyer gegen den Krieg. Und für die Menschlichkeit.

Gestern Abend traf ich den Tod. Und ich traf die Auferstehung. Die Auferstehung gewissermaßen des Menschlichen in einer Zeit, in der die Menschen unter dem grausamen Regiment des Todes standen, der Hass die Herzen vergiftete, weil Schmerz und Demütigung nichts anderes zuließen. Die Auferstehung des Menschlichen aber auch in einer Zeit, gut 100 Jahre später, in der Hass und Überlegenheitsdünkel erneut um sich greifen und vermeintlich Gedemütigte in den ach so warmen Schoß eines übersteigerten Nationalgefühls flüchten, nach Schuldigen suchen für vermeintliche Missstände und selbst richten wollen. Frantz – Ein Film. Ein Plädoyer gegen den Krieg. Und für die Menschlichkeit. weiterlesen

Unter Sängern.

Es war am vergangenen Wochenende, als ich fast schon eine – zumindest habe ich es so empfunden – spirituelle Erfahrung machen durfte. Ich war elf, als ich das letzte Mal die Aula des  Uniklinikums in Dresden (damals noch Medizinische Akademie) betrat und den schweren Duft der alten Holztäfelung dort einatmete. Dort probte damals einmal die Woche der Kinder- und Jugendchor der Singakademie Dresden, in dem ich seit 1986 Mitglied war. Ich ging im Zorn, denn das Chorleben glich damals aufgrund der Wende-Wirren nur noch einem einzigen Chaos, die Proben eher dem Drill auf dem Exerzierplatz.

Vor einem Monat, ein gutes Vierteljahrhundert später, habe ich diese verschütteten Fäden meiner Jugend wiederaufgenommen – und bin dem Neuen Chor Dresden beigetreten, der übrigens nach wie vor neue Mitglieder sucht. Wieder proben wir in einer herrlichen Aula, mit einer Decke, die mindestens fünf Meter hoch und mit prächtigen Stuckelementen verziert ist. Sogar eine kleine Orgel und einen Rang haben sie dort im Gymnasium Dresden Plauen. Jedoch: Mein Rückstand ist groß, es gilt, eine Menge bislang unbekanntes Repertoire einzustudieren, die Stimmbänder wieder zu schmieren. Also heißt es: üben, üben, üben. Täglich malträtiere ich nun die Nachbarn mit meinen Arien. Und weil ich deshalb schon ein schlechtes Gewissen habe, kam mir der Gedanke der Freiluft-Probe. So packte ich kurzentschlossen meine Noten und meine Stimme ein und zog hinaus in die fast menschenleeren Weiten der Königsbrücker Heide hinter Röhrsdorf.

Dort auf einem mit Birken und Kiefern bewachsenen Plateau, das der sowjetischen Armee einst als Übungsgelände gedient hatte, schlug ich meine Zelte auf. Um mich herum nichts als Stille. Nur ein paar Krähen und ein leises, undefinierbares Piepen waren ab und an zu hören, und das Knarzen der Bäume im schwachen Lüftchen. Von meinem Plateau schaute ich hinunter auf das wellige, karg bewachsene Land, auf dem hier und da noch verrostende Geschosshülsen aus alten Tagen liegen. Ein bisschen fühlte ich mich wie auf einer Bühne, und da vor mir der Saal… wie lange ist das alles her.

Ich fing an zu singen. Erst ziemlich leise, verschämt. Dann lauter, kräftiger, mit mehr Selbstvertrauen sang ich meine Lieblingslieder von Händel, Mendelssohn-Bartoldy und anderen hinaus in die Natur. Nur für sie sang ich an diesem Nachmittag. Auch Stücke aus dem aktuellen Chorrepertoire. Bei Orffs „In Trutina“ muss es gewesen sein, dass ich plötzlich innehielt, irritiert von etwas, das mir aufgefallen war: Ich sang nicht mehr allein.

Um mich herum war die Heide irgendwie zum Leben erwacht. Wo vorher die Krähen leichtes Spiel gehabt hatten und kaum ein Vogel sonst zu hören gewesen war, hatte mit einem Male ein zaghaftes Zwitschern und Tirilieren angehoben. Und ich fragte mich: Kann das sein, dass sie mich, dieses flügellose, dürre Ding auf zwei Beinen, mit seinem unspektakulären Stimmchen, als einen von ihresgleichen ansahen? Dass sie sich von mir auf- oder auch herausgefordert sahen, aus der spätwinterlichen Starre zu erwachen und ihre eigenen Werke vorzutragen? So viel kulturelle Toleranz im Reich der Flattermänner? Ich war überwältigt. Ein paar Minuten lang kam kein Laut über meine Lippen mehr. Ich setzte mich in diesem vernarbten Land im Schneidersitz auf das junge Gras, und lauschte dem zarten, um so viel schöneren Echo, das zurückkam, und wurde eins mit ihnen und der Natur. Ein Moment wahrhaftiger Magie, der Interaktion, ohne Macht auszuüben, wie es der Mensch sonst so häufig tut.

 

Zwischen Nostalgie und Demütigung: die ehemalige sowjetische Mittelschicht und die Wiedervereinigung

Wohnung für Fähnriche in Forst Zinna.
Wohnung für Fähnriche in Forst Zinna.
Zeigt man ehemaligen Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte, die einst in der DDR ihren Dienst versahen, Bilder vom heutigen Zustand der noch erhaltenen, aber vielfach dem Verfall preisgegebenen früheren Liegenschaften, ist die Reaktion häufig dieselbe: „Grausam!“ sagt Wladimir aus Polotzk (Weißrussland), als er die Ruinen der Kasernenanlage in Ribnitz-Damgarten sieht – und bedankt sich zynisch beim „Friedensnobelpreisträger“. Gemeint ist damit Michail Gorbatschow, der einst als KPdSU-Chef mit Hans-Dietrich-Genscher die Verträge zur deutschen Einheit aushandelte. Andere werden noch deutlicher und werfen den Deutschen vor, „keine Kultur“ zu haben. „In unseren Zeiten waren all diese Kasernen top gepflegt. Erst nahmen die Deutschen sie uns weg, und nun lassen sie sie einfach verfallen, dabei heißt es doch immer, sie seien so reich, gebildet und zivilisatorisch hoch stehend“, schimpft Zhanna, ebenfalls aus Weißrussland. Es schwingt Wut darin mit, und auch ein Hauch einer nie überwundenen Demütigung. Beide sind heute um die 60. Sie kennen die Sowjetunion noch zu Zeiten scheinbarer Blüte, weil ihnen die ersten Anzeichen des Zerfalls und seine strukturbedingten Hintergründe verschwiegen wurden – den Zusammenbruch 1991 erlebten sie entsprechend unvorbereitet, als einschneidende Zäsur. In den postsowjetischen Gebieten sind sie eine langsam aussterbende Generation. Und das scheinen sie auch genau zu wissen.

Auf Kriegsschuld und Pump gebautes Wirtschaftswunder

In den 60er- und 70er-Jahren befanden sich Gesellschaft und Wirtschaft in der sowjetischen Heimat bereits in einem Zustand tiefster Stagnation – das wohl herausragendste Merkmal der insgesamt 18 Jahre währenden Brezhnew-Ära. Zwar setzte „Väterchen Ljonja“ den unter Chruschtschow begonnenen Kurs der Entstalinisierung – wenn auch mit stark verminderter Intensität – fort. Doch vermochte er es eben nicht, Lösungen für eine Situation zu finden, in der das vor allem auf den Reparationsleistungen der DDR gebaute Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre aufgrund des ausbleibenden Nachschubs an moderner, zeitgemäßier Technik zu bröckeln begann. Denn diese Quelle versiegte mit den Jahren. Tausende hochspezialisierte ostdeutsche Wissenschaftler, die nach dem Kriegsende in die UdSSR zwangsdeportiert worden waren, kehrten im Zuge der proforma-Unabhängigkeit der DDR im Jahr 1954 in ihre Heimat zurück – und hinterließen im sowjetischen Kernland klaffende Lücken.
Es sind jene Jahre, in denen die gebürtige Russin Zhanna aus der Brjansker Region in die DDR kommt. Mit ihren Eltern zieht sie 1955 in eine Kaserne im anhaltinischen Hillersleben, besucht die dortige 45. sowjetische Grundschule. Vier Jahre später zieht die Familie weiter nach Oschatz, wo das Mädchen die sowjetische Mittelschule besucht. Fast ihre gesamte Jugend verbringt Zhanna in der DDR – bis es 1965 zurückgeht – zunächst ins russische Woronesch, wo sie die Schule abschließt und Forstwirtschaft studiert, später ins weißrussische Gomel. Bis heute glaubt sie an das fortschrittliche Leben in der Sowjetunion, die heldenhafte sowjetische Armee. Der Westen hat ihnen all das genommen, dessen ist sie sich sicher – und Michail Gorbatschow hat alles für ein paar Milliarden verraten und verkauft. Viele, die damals profitierten und wie Zhanna eine sorglose Jugend in schicken Neubauwohnungen verbrachten, die sich das Militär auf DDR-Rechnung bauen ließ, denken so. Für sie ging mit dem Zusammanbruch 1991 ein Traum kaputt – der Traum eines kommunistischen Lebensideals, das nur für eine verschwindend geringe Zahl von Sowjetbürgern tatsächlich Realität und das im Wesentlichen auf Pump und Kriegswirtschaft gebaut war. Von den Macken des Systems und deren Auswirkungen auf die Versorgungslage in der Gesellschaft waren sie am wenigstens betroffen. Folglich waren gerade von den in der DDR stationierten Armeeangehörigen überdurchschnittlich viele als linientreu und absolut loyal gegenüber der sowjetischen Ideologie einzustufen.

Wettrüsten und Propaganda statt sozialem Wohlstand

Die marxistisch-leninistische Staatsdoktrin mit dem Feindbild Westen, die Armee und mit ihr untrennbar verbunden der Kult um die Errettung der Welt aus dem Faschismus durch den sowjetischen Sieg im Großen Vaterländischen Krieg bildeten den Kitt, der Staat und Gesellschaft auch in wirtschaftlich schweren Zeiten zusammenhalten sollte. Von der Entspannung der außenpolitischen Krisen während der ersten Jahre unter Brezhnew kam beim kleinen Sowjetbürger fast nichts an, denn an der zentral geführten, konkurrenzunfähigen Wirtschaft änderte sich nichts, ebenso wenig wie an der auf ständige Wehrhaftigkeit ausgerichteten, durchmilitärisierten Gesellschaft. Wovon die kleine Zhanna in der DDR freilich nichts mitbekam: Mangel und Verfall machten sich in der UdSSR vor allem im sozialen sowie im Versorgungssektor breit. Während der Anteil der Ausgaben für Bildung und Erziehung am Bruttsozialprodukt in der UdSSR zu Zhannas Grundschulzeit 1956 noch bei fast konkurrenzlosen 4,4 Prozent gelegen hatte (USA: 2,4 Prozent, BRD: 2,2 Prozent, DDR: 3,8 Prozent), war er bereits 1962 auf knapp 3,8 Prozent gesunken. Andere Staaten, allen voran Schweden (6,0) und Norwegen (5,0), aber auch die DDR (4,3) und die CSSR (4,0), hatten die Sowjetunion da längst überflügelt (vergl.: Hedtkamp). Stattdessen waren die Rüstungs- und Militärausgaben auf konstant hohem Niveau geblieben. Auf der Höhe der Ära Brezhnew im Jahr 1979 gab die Sowjetunion immer noch 14 Prozent ihres Bruttosozialproduktes für Rüstung und Militär aus – um ein Drittel mehr als etwa die USA. Entziehen konnte sich dem kaum jemand, schon deshalb nicht, weil viele Millionen Sowjetbürger mittlbar oder unmittelbar in der Rüstungsindustrie oder beim Militär beschäftigt waren. Von klein auf wuchs jeder in seine Rolle als Diener seines Staates hinein. Schwach war der, der dies auch offen zeigte und eingestand – und genau da setzte auch die staatliche Propaganda an.

IMG_0094In den Kasernen in der DDR wurden ab den 60er-Jahren verstärkt bunte Plakate aufgehängt. Wer genau hinschaut, findet sie noch heute in großer Zahl in den Ruinen. Sie erzählten von den vermeintlich „großen Erfolgen“ der sowjetischen Wirtschaft: „2300 Kilometer neue Eisenbahnstrecken fertiggestellt“, oder auch „80-82 Milliarden Eier produziert“ stand darauf. Das alles sollte über einige unangenehme Wahrheiten hinwegtäuschen. Zum Beispiel darüber, dass Mitte der 70er-Jahre die Planungen der sowjetischen Ökonomen aufgrund des wachsenden Rückstandes gegenüber westlichen Industrienationen zunehmend bescheidener ausfielen. So peilte man im Fünfjahresplan von 1976 für das Jahr 1980 gerade einmal 85 Prozent des Nationaleinkommens der USA des Jahres 1975 an. Auch dieses Ziel wurde verfehlt. Den Vorsprung in Sachen Elektronik und Kommunikation hielten die USA 1976 gar für so groß, dass sie in Erwägung zogen, den Exportstopp für kommunistische Zielländer aufzuheben, den man für hochspezielle Computertechnik eingeführt hatte. So also waren die Zeiten, als Zhanna und Wladimir in der DDR lebten.

Die DDR – sowjetische Parallelwelt auf Staatskosten

Wer dazu die Gelegenheit erhielt, erfuhr in der Tat ein seltenes Privileg. In der Regel fand man in der DDR Verhältnisse vor, die oft Welten von dem entfernt waren, was die Sowjetunion an – häufig noch kriegsgeschädigter – Infrastruktur zu bieten hatte. Die solide Gebäudesubstanz der Kasernen aus der Kaiserzeit, die die sowjetischen Sieger 1945 übernommen hatten, war in den 50er- oder auch in den 70er-Jahren tatsächlich noch in gutem Zustand. Wenn Zhanna oder Wladimir dieselben Gebäude allerdings gegen 1992 noch einmal betreten hätten, wäre ihnen deutlich vor Augen geführt worden, dass der Verfallsprozess längst begonnen hatte, als die Okkupationstruppen noch anwesend waren. Wenngleich viele der Gebäude damals rein baulich gesehen tatsächlich noch zu retten gewesen wären. Investitionen in den Erhalt von Infrastruktur auf fremdem Boden schien im Kreml wenig zielführend angesichts einer Lage, in der selbst Bildungsausgaben gekürzt wurden, um die Rüstung weiter auf hohem Niveau zu halten. Diese Aufgaben betrachtete man vielmehr als Angelegenheit der DDR-Führung, die bis zur Wende für die Kosten der Besatzung aufkommen musste: jährlich zwischen zwei Milliarden zu Beginn und 800 Millionen Mark am Ende – was bis zu 9 Prozent des staatlichen Verteidigungshaushaltes entsprach. Insgesamt schätzen Ökonomen, dass die DDR ab Kriegsende 1945 bis zum Jahr 1953 allein knapp 100 Milliarden Mark (zu damaligen Preisen) und damit 98 Prozent aller gesamtdeutschen Reparationen an die Sowjetunion leistete – die milliardenschwere Truppenpräsenz bis zur Wende 1989/90 ist darin noch nicht abgebildet.

Konversion – Milliardenfass ohne Boden

IMG_5613-swAls die Truppen 1992-1994 aus Deutschland abzogen, ließen sie fast 800 Kasernenanlagen, 47 Flug- und 116 Truppenübungsplätze zurück. Fast alle waren toxisch kontaminiert und mit Munition belastet. Die Beseitigung all dieser überwältigenden Schäden hat den deutschen Steuerzahler in der Vergangenheit unzählige Summen gekostet. Nicht immer haben private Investoren diese Aufgabe dem Staat abgenommen. Allein die Umnutzung und Rekonstruktion der Kasernenanlagen in der Dresdner Albertstadt hat den Freistaat Sachsen und die Stadt Dresden in den vergangenen 20 Jahren mehrere Hundert Millionen Euro gekostet. Und noch immer ist nicht jede Brache verschwunden.
Noch viel stärker betroffen ist das Land Brandenburg, auf dessen Territorium sich ungleich mehr ehemalige sowjetische Liegenschaften sowie der Mammutanteil der Truppenübungsplätze befanden. 96000 Hektar Konversionsfläche (von ursprünglich 230000 Hektar militärisch genutzter Fläche) übernahm das Land 1992 aus dem Vermögen der Bundesregierung, darunter 80 Kasernenkomplexe rings um Berlin, 26 Wohngebiete, 19 Flug- und 60 (!) Truppenübungplätze. Erste Bestandsaufnahmen ergaben damals, dass schon die wichtigsten Maßnahmen zur unmittelbaren Gefahrenabwehr wie Dekontamination und Bestandssicherung 5,5 Milliarden D-Mark kosten würden. Angesichts dieser Summen musste die Umnutzung planvoll und unter den Maßgaben städtebaulicher Entwicklung erfolgen. Das hieß: Renoviert und zivil umgenutzt wurden vor allem jene Kasernenanlagen in attraktiver Lage im Einzugsgebiet Berlin, die ein Potenzial als Wohn- oder Gewerbestandort aufwiesen. Diese konnten zum Teil auch ohne Probleme an private Investoren veräußert werden. Was jedoch zu weit ab vom Schuss lag oder in zu schlechtem Zustand war, verfällt häufig bis heute oder wurde längst abgerissen.

Ehemaliger Luftwaffenstützpunkt Rangsdorf.
Ehemaliger Luftwaffenstützpunkt Rangsdorf.
Lenin vor dem Haus der Offiziere in Wünsdorf. Seit 1994 steht das prachtvolle Gebäude leer.
Lenin vor dem Haus der Offiziere in Wünsdorf. Seit 1994 steht das prachtvolle Gebäude leer.
Ein wahrhaft gigantisches Modellprojekt zur Entwicklung ehemaliger militärischer Liegenschaften ist bis heute die Waldstadt bei Wünsdorf. Seit 1953 abgeschirmtes Städtchen und Schaltzentrale der sowjetischen Besatzungstruppen in Ostdeutschland, lebten hier einst 30000 sowjetische Soldaten und Familien bei 5000 Einheimischen. Über 500 Hektar Fläche wollten hier von militärischer in zivile Infrastruktur umgewandelt werden. Bis heute haben Konversionsbemühungen und Bestandssicherung dort Hunderte Millionen Euro an Landesmitteln verschlungen, hinzu kommen ungezählte Millionen an Bundesmitteln für die Beseitigung von Altlasten. Doch gerade die Waldstadt zeigt, wie sehr man sich mit der zivilen Umnutzung auch verrechnen kann: Viel geringer fiel das Interesse am neu geschaffenen Wohnraum 50 Kilometer vor Berlin aus, als ursprünglich gedacht. 30 Prozent der Wohnungen im ehemaligen Oberkommando der Westgruppe blieben leer. Fehlinvestitionen in Höhe von einer halben Milliarde Euro ließen die federführende Landesentwicklungsgesellschaft (LEG) 2001 in die Liquidation taumeln.

Das Beispiel zeigt, wie kostenaufwendig und risikoreich die Umnutzung ehemaliger militärischer Liegenschaften gerade in weniger entwickelten Regionen war und ist. Nichtsdestotrotz zeigt es auch die zahlreichen Bemühungen von Staat, Ländern und Kommunen, die frei gewordene Bausubstanz einer sinnvollen Nachnutzung zuzuführen – und das, obwohl absehbar war, dass die halbe Million Menschen, die diese Gebäude zuvor bevölkert hatten, bei abnehmender Bevölkerungszahl unmöglich zu kompensieren sein würden. Wer sollte denn den Wohnraum beziehen, den sie hinterließen? Zumal gleichzeitig in den Städten und Gemeinden riesige Sanierungswellen zur Wiederherstellung der zu DDR-Zeiten häufig verfallenen Altbausubstanz anrollten.

Wie viel Geld genau seit 1994 in das Mammutprojekt Konversion geflossen ist, hat bislang niemand bilanziert. Allein das Land Brandenburg investierte bis heute mehr als zwei Milliarden Euro in die Entwicklung bzw. Revitalisierung ehemaliger Sowjetischer Liegenschaften. Ein Vielfaches wird nötig sein, um alle verbliebenen Schandflecken zu beseitigen. Im gesamten Osten dürften es viele viele Milliarden gewesen sein. Hinzu kommen die laufenden Kosten für Pflege und Erhalt sowjetischer Ehrenmale und Friedhöfe, auf denen seit der Wende der deutsche Staat sitzen bleibt. Die Regierungen der postsowjetischen Staaten fühlen sich oft selbst für solche Anlagen nicht zuständig, die nicht explizit unter das Gräbergesetz oder die Vereinbarungen der 2+4-Verträge fallen.

Entschädigungen und Aufbauhilfen in zweistelliger Milliardenhöhe

Nicht vergessen werden darf – und das konnte als absolutes Novum in der Geschichte gelten -, dass die Bundesrepublik die ehemalige Besatzungsmacht im Rahmen der 2+4-Verträge für die Aufgabe der seit dem Kriegsende beanspruchten Gebiete großzügig entschädigte. 15 Milliarden Mark flossen sofort. Wohnungsbauprogramme im Wert von weiteren 8,3 Milliarden Mark an mehr als 40 Standorten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sollten zudem helfen, die größte Not der schlagartig heimkehrenden Hunderttausenden Offiziere und Familienangehörigen zu lindern, die daheim nicht selten alle Zelte abgebrochen hatten und nun auf eine Situation trafen, in der die Lage auf dem Wohnungsmarkt auch so schon prekär genug war. Nach dem völligen Zusammenbruch 1991 hatte die Bundesregierung dem wirtschaftlich am Boden liegenden Russland zudem Kredite in Höhe von 24 Milliarden Mark gewährt. Mit 50 Milliarden stand das Land damals bereits allein aus Sowjetzeiten bei der BRD in der Kreide, 15 weitere schuldete es noch der untergegangenen DDR – und damit ebenfalls der BRD. Die Gesamtschuldenlast belief sich damit im Jahr 2001 auf rund 89 Milliarden D-Mark, von denen Deutschland der Russischen Föderation 12 Milliarden (7 Milliarden Euro) erließ.

Unterm Strich bleibt stehen: Die Wiedervereinigung war alles andere als eine „billige“ Angelegenheit für die Deutschen. Im Gegenteil: Sie wird teuer erkauft – und gerade Russland profitiert bis heute von den Folgen und den Kompensationsleistungen Deutschlands. Doch wie erklärt sich vor diesem Hintergrund die Wut von Wladimir, Zhanna und vielen anderen in den postsowjetischen Staaten? Woher kommt der Glaube, Gorbatschow habe das Sowjetimperium damals für „ein paar Milliarden“ zum Fliegenschiss schrumpfen lassen? Zum einen daher, dass die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung in vielen postsowjetischen Staaten bis heute keiner objektiven Betrachtung unterzogen wurde. Gerade Weißrussland ist als letzte Diktatur Europas berühmt-berüchtigt für seine geschlossene Gesellschaft. Die Intelligenz des Landes ist bereits zahlreich ins Ausland abgewandert, lebt in Deutschland, Frankreich oder der Tschechischen Republik. Dies ist besonders tragisch vor dem Hintergrund, dass das Land schon einmal fast seine gesamte Intelligenz verlor, als Stalin während des großen Terrors Tausende ermorden ließ, um auch letzte Widerstände gegen die kommunistische Ideologie auszurotten. Von denen, die bleiben, trauern heute nicht wenige dem untergegangenen Riesenreich nach – so wie Zhanna. Es sind vor allem Menschen, die nach 40 Jahren Sozialismus und dem unmittelbaren Erleben seines wenig rühmlichen Kollapses nach einfachen Erklärungen suchen, die möglichst nicht schmerzlich am eigenen Weltbild kratzen. Erklärungen, die ihnen die zentral gesteuerten heimischen Medien gerne liefern – allerdings in bewährter sowjetischer Tradition. Heute stärker denn je zuvor seit der Wende heißt das: Der Westen ist schuld. Denn dort toben Imperialismus und Faschismus. Das wirklich Erschreckende daran ist, dass viele Menschen wie Zhanna oder Wladimir die Zäsur 1991 lediglich als eine Art vorübergehenden Zustand begreifen. Und die jünsten Ereignisse rings um die Krise in der Ukraine hat diesen Semestern ungeahnten Auftrieb gegeben. Nicht wenige sehnen offen den Tag herbei, an dem das russische Militär die damals verlorenen Gebiete zurückholen und eine alte Stärke wiederhergestellt würde, die im Grunde nie mehr als eine Illusion war.

Bildrechte: J. Jannke

Der Freund aus einer anderen Zeit

Stellen Sie sich vor, da steht jemand unangekündigt in der Tür, den Sie vor langer Zeit flüchtig kannten und den Sie 35 Jahre lang nicht gesehen haben. Bei Heike Geißler stand niemand in der Tür. Von der Vergangenheit eingeholt wurde die 53-jährige Lausitzerin dennoch. Im Februar klingelt plötzlich daheim in einem Ort im Görlitzer Umland das Telefon. Freunde, Kollegen, Nachbarn bestürmen sie: „Du bist in der Zeitung! Ein Mann sucht nach dir!“ Für die seit 35 Jahren verheiratete Frau und zweifache Mutter erst mal ein Schreck.

Freundschaftstreffen auf dem Vorplatz des Hellerauer Festspielhauses, das damals sowjetische Kaserne war. Ganz links: Heike Michel (Geißler) und Michail Gordejew.
Freundschaftstreffen auf dem Vorplatz des Hellerauer Festspielhauses, das damals sowjetische Kaserne war. Ganz links: Heike Michel (Geißler) und Michail Gordejew.

Der Mann, der nach Heike Geißler sucht, heißt Michail Gordejew. Kurilka und auch die Sächsische Zeitung berichteten Ende Februar über das Anliegen des 56-jährigen Russen. Vor fast vier Jahrzehnten war Gordejew als 19-jähriger Wehrpflichtiger der Sowjetarmee nach Dresden gekommen – und dort Heike begegnet, die damals noch ihren Mädchennamen „Michel“ trug. Sein Appell löst eine Welle der Anteilnahme aus. Unzählige Anrufe und E-Mails gehen zum möglichen Verbleib von Heike ein. Der entscheidende Hinweis kommt nach drei Tagen: „Die gesuchte Heike Michel ist meine Frau“, schreibt Joachim Geißler.

Nach dem ersten Schrecken besinnt sich Heike Geißler, will erzählen, wie das damals war mit Mischa aus dem Ural. „Inzwischen weiß es ohnehin fast jeder bei uns, und die Reaktionen sind bislang fast durchweg positiv“, so die 53-Jährige mit einer Stimme, die durchs Telefon als fröhlicher Alt erschallt. Ihr Onkel habe sie angerufen. „Er sagte: Du wirst vom KGB gesucht. Kennst du einen Mischa? Ich wusste sofort, wer gemeint war.“

Noch heute arbeitet Heike Geißler als Physiotherapeutin – jenem Beruf, für den sie im Herbst 1977 ihre Görlitzer Heimat gegen das Schwesternwohnheim der Dresdner Medak eintauscht. 16 ist sie damals. „Dieser Beruf war etwas Besonderes, ganze zwei Stellen waren in Görlitz zu besetzen.“ Heike ist ehrgeizig, eine ausgezeichnete Schülerin. Nur die Besten dürfen Ausbilderin Rosemarie Köstler zu den Freundschaftsbesuchen beim in Hellerau stationierten Sanitätsbataillon der Sowjetarmee begleiten, in dem auch Mischa Gordejew dient und zu dem die Medak eine Patenschaft pflegt. Die sozialistische Welt um sie herum mit ihrer permanenten Wettkampfatmosphäre ist für Heike selbstverständlich. Mit ihren Kommilitoninnen bewirbt sie sich um den Titel „Sozialistisches Studentenkollektiv“. Der erste Preis: eine Fahrt nach Leningrad – für die 17-Jährige, die Russisch lernt, ein Traum. Ihre Gruppe gewinnt, die 500 Mark Fahrtkosten muss sie allerdings selbst zahlen. Sie geht Waggons putzen, um sich ihren Traum zu verwirklichen. „Ich war in der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, das waren alle bei uns“, erzählt sie unbefangen – die Eintrittskarte in die unbekannte Welt sowjetischer Soldaten, von denen es damals fast 10 000 in Dresden und über 500 000 in ganz Ostdeutschland gibt. Heute habe sie auf vieles natürlich eine ganz andere Perspektive. Damals aber sei das ihre Welt gewesen.

Eine aufregende Zeit. „Am spannendsten war der Eintritt in die Kaserne. Wir wurden gründlich gefilzt“, schildert sie jenen Tag im November 1978, als sie Mischa Gordejew in Hellerau das erste Mal auf dem Vorplatz des heutigen Festspielhauses trifft. „Wir gingen durch die Absperrung auf ein paar Soldaten zu, die da aufgereiht standen“, erinnert sie sich. Sie steuert Mischa direkt an, reicht ihm die Hand. „Es war gleich irgendwie Sympathie da, wir hatten Blickkontakt, lächelten uns zu.“

Von der Kaserne bekommt Heike damals nur Kultur- und Speisesaal zu sehen. Überall Flaggen und Banner. Alles läuft unter strenger Beobachtung der Offiziere ab. Trotz der Abschirmung fällt der Schwesternschülerin der wenig ansprechende Alltag der einfachen Soldaten auf. Die Unterbringung sei schlecht gewesen, die jungen Männer hätten keine Freiheiten gehabt. „Wir hatten unser Leben draußen, sie aber hatten nichts. Auch im Alltag ist die Armee stets präsent.“ Soldaten, die sich etwas zuschulden kommen ließen, hätten zur Strafe hart arbeiten müssen. „Bei Wind und Wetter trugen sie immer diese dünne Kleidung und mussten am Güterbahnhof in Klotzsche Kohlen schaufeln.“ Dagegen sei die Teilnahme an Freundschaftsbesuchen Auszeichnung und Höhepunkt gewesen.

Unteroffizier Michail Gordejew mit Garnisonskindern und Kameraden auf dem Exerzierplatz der Hellerauer Kaserne (heute Festspielhaus-Areal).
Unteroffizier Michail Gordejew mit Garnisonskindern und Kameraden auf dem Exerzierplatz der Hellerauer Kaserne (heute Festspielhaus-Areal).
Beim gemeinsamen Essen im Speisesaal nähern sich Heike und Mischa an. „Wir verständigten uns mit Händen und Füßen. Ich konnte ein wenig Russisch, so klappte es.“ Ein paarmal schreiben sie sich und sehen sich bei Freundschaftsbesuchen. „Und“ – fügt die 53-Jährige lebhaft hinzu – „wir haben uns sogar einmal heimlich in der Stadt getroffen, gingen ein wenig spazieren, unterhielten uns.“ Mischa sei höflich gewesen, habe von Dresden geschwärmt, aber nie etwas über seinen Armeealltag erzählt. „Die Russen waren einfach anders als wir, viel disziplinierter, duldsamer.“ Irgendwann aber seien die Besuche weniger geworden, brachen schließlich ganz ab. „Mischa war zuletzt nicht mehr dabei gewesen“, so Geißler.

Damals habe sie nichts hinterfragt, sagt die Görlitzerin. Dass ihre Briefe damals – wie von Mischa vermutet – der Zensur zum Opfer fielen, hält sie für wahrscheinlich, von Mischas vorzeitiger Entlassung erfährt sie damals nicht. Die geplante Reise nach Leningrad ist das Letzte, von dem sie ihrem sowjetischen Freund berichten kann. Dann reißt der Kontakt ab. Als sie 1980 an die Newa reist, öffnet ihr das so manches Auge über das Verhältnis zwischen Deutschen und Sowjets. „Kaum einer kannte dort die DDR oder die Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Damals fing ich an, mir über einiges Gedanken zu machen.“ Von Michail Gordejew sieht und hört Heike nie wieder etwas – bis zum Februar 2015.

Als der 56-Jährige erfährt, dass Heike gefunden ist, ist er überwältigt. So sehr, dass er zunächst tagelang abtaucht. „Ich brauchte erst einmal ein wenig Zeit, um das zu verkraften, hatte nicht und schon gar nicht so schnell damit gerechnet“, entschuldigt sich Gordejew kurz darauf, der mit Frau, zwei Töchtern und den beiden Enkeln nahe der Millionenstadt Jekaterinburg im Ural lebt. Inzwischen haben er und die Freundin von damals Kontaktdaten ausgetauscht. Ob sich 35 Jahre Entfremdung und mehr als 4 000 Kilometer Distanz überbrücken lassen, wird sich zeigen.

Nachtrag der Autorin:
Der Artikel erschien beinahe wortgleich am 29. Mai 2015 in der Lokalausgabe Görlitz der Sächsischen Zeitung. Nach Veröffentlichung des ersten Artikels am 17. Februar 2015 dauerte es keine Woche, bis Heike „Michel“ gefunden war. Die Geschwindigkeit der sich überschlagenden Ereignisse und die Vielzahl an Rückmeldungen waren schier überwältigend. Ein Dankeschön geht an Heike Geißler, der es zunächst schwer fiel, sich noch einmal öffentlich zu jener Episode ihrer Vergangenheit zu äußern. Sie selbst stehe zu diesem Teil ihres Lebens. Die Leute aber, die das Leben damals in der DDR nicht kennenlernten, zeigten bisweilen heute wenig Verständnis dafür. Leute, die die selbständige Physiotherapeutin zu ihren Kunden zählt. Für Geißler – wie für so viele andere – war die sozialistische Lebenswelt in der DDR Alltag, in den sie hineingeboren wurden und den sie verinnerlicht hatten. Leider wird das häufig vergessen in einem Staat, der die DDR 1989/90 förmlich verschluckte und zunächst über Jahre rigoros gegen alles vorging, das irgendwie mit ihren Werten, Kulturgütern und Symbolen zusammenhing und damit ein Klima der Stigmatisierung schuf gegenüber jenen, die einst gelernt hatten, mit dem System zu leben, statt es zu verachten und dagegen aufzubegehren.

Friedhof zu verschenken

Offiziersgräber auf dem Sowjetischen Garnisonfriedhof Dresden. Der Freistaat möchte ihn lieber heute als morgen loswerden. Foto: J. Jannke
Offiziersgräber auf dem Sowjetischen Garnisonfriedhof Dresden. Der Freistaat möchte ihn lieber heute als morgen loswerden. Foto: J. Jannke
Quo vadis, Sowjetischer Garnisonfriedhof? Der Begräbnisort für 2300 sowjetische Bürger an der Marienallee in Dresden kommt nicht aus den Schlagzeilen. Nun will der Freistaat ihn an die Stadt abtreten. Doch die will ihn gar nicht haben.

Seit Jahren schwelt der Streit um den Nordflügel des Friedhofes. 2010 hatte der Eigentümer, das Sächsische Immobilien- und Baumanagement (SIB), Umgestaltungspläne für die rund 0,8 Hektar große Erweiterung mit Gräbern aus den Besatzungsjahren vorgelegt, die die Beseitigung der historischen Friedhofsarchitektur zugunsten einer schlichten Grünanlage mit Gedenkbereichen vorsehen. Dresdner Bürger liefen Sturm – und erhielten Unterstützung vom „Who is Who“ der Dresdner Gedenkkultur. Seit Juli 2013 beschäftigt nun schon ein vom SIB eingelegter Widerspruch die Landesdirektion Sachsen, da auch die Denkmalbehörden dem rund 350 000 Euro teuren Vorhaben die Zustimmung verweigerten. „Das Verfahren läuft noch“, so SIB-Sprecherin Andrea Krieger.

Das SIB stellte dies abermals vor die Frage, mit der man dort bereits seit mehr als zehn Jahren befasst ist: Was soll denn nun werden mit dem Nordflügel? Das veranlasste die Behörde im Frühjahr 2014, ein Forum auszurichten. Gemeinsam mit der Stadt, den Denkmalbehörden und den bürgerschaftlichen Initiativen, die den Nordflügel mittels ehrenamtlichem Engagement in historischer Form bewahren wollen, sollte unter Moderation der Landeszentrale für politische Bildung ein möglicher Kompromiss ausgelotet werden. Gegenstand der Debatten war längst nicht mehr nur der künftige Umgang mit dem Nordflügel. Initiativen wie das Deutsch-Russische Kulturinstitut, die jüdische Gemeinde und der DenkMalFort! – Die Erinnerungswerkstatt Dresden e.V. forderten seit längerem die Rückführung des gesamten Friedhofes in die Trägerschaft der Stadt Dresden, die ihn 1996 an das SIB abgegeben hatte. In dessen Verwaltung war vor allem der Nordflügel mehr und mehr verwahrlost.

Nach nur vier Runden hatte es sich im Juli allerdings schon wieder ausdebattiert. „Die Beteiligten sind sich einig, dass auch der nördliche Flügel des Friedhofs ein würdevoller Gedenkort ist und auch in Zukunft sein soll. Das ‚Wie‘ steht im Fokus der Diskussion“, konstatierte man im August in einer vorläufigen Erklärung. Das Konzept des SIB stoße nicht auf die Zustimmung aller Beteiligten, man wolle die Gespräche daher im Herbst fortführen, hieß es weiter. Seither aber herrscht offenbar Funkstille.

„Bis jetzt erfolgte keine erneute Einladung“, antwortete Oberbürgermeisterin Helma Orosz (CDU) dem anfragenden Grünen-Stadtrat Torsten Schulze vor Weihnachten – und spielte den Ball damit dem SIB zu. Dort jedoch macht man den Fortgang der Gespräche offenbar von der Klärung der künftigen Trägerschaft für den Garnisonfriedhof abhängig. „Das SIB strebt die Übertragung des gesamten Friedhofes an die Landeshauptstadt an“, ließ man auf Nachfrage ausrichten. Bereits „vor geraumer Zeit“ will man dazu auf Kulturbürgermeister Ralf Lunau (parteilos) zugekommen sein. Doch für den Beigeordneten ist eine Übernahme derzeit kein Thema. Aus Sicht der Stadt spricht vor allem der Kostenfaktor dagegen. Man würde „ohne gesetzliche Verpflichtung die finanzielle Last von Pflege und Instandhaltung“ übernehmen. Wie groß die tatsächlich wäre, wurde bislang allerdings nicht geprüft.

„Kosten allein dürfen kein Argument sein“, mahnt Torsten Schulze, der alsbald die Aufnahme von Verhandlungen zwischen Stadt und SIB fordert, damit es auch in der Frage des Nordflügels irgendwann vorangeht. „Die derzeitige Situation ist untragbar und eines historisch derart relevanten Ortes unwürdig.“ Schulze meint damit, dass das SIB in Ermangelung des Zuspruches für die Umgestaltungspläne die Pflegeaktivitäten auf dem Nordflügel vor eineinhalb Jahren einstellte. Ehrenamtliche halten die Anlage seither halbwegs in Schuss. „Nach den Querelen der letzten Jahre muss genau geprüft werden, ob ein Verbleib des Friedhofes in Händen des Freistaates sinnvoll ist“, so Schulze. Notfalls müssten Wege ausgelotet werden, die Finanzierung auf mehrere Schultern zu verteilen. „Der Friedhof braucht eine Perspektive, die den Erhalt der Biografien und Schicksale gewährleistet.“ Kaum einer der unter 40-Jährigen wisse noch, wie es war, als die Armee hier war.

Damit rennt Schulze bei Holger Hase von der Erinnerungswerkstatt offene Türen ein. Der 38-Jährige kämpft seit Jahren gegen den Verlust der denkmalgeschützten Friedhofssubstanz. „Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. Beim SIB scheint man sich vom Abrissbagger verabschiedet zu haben“, zeigt sich der FDP-Mann optimistisch. Die Rückkehr zur Stadt sieht Hase als zukunftsfähigste Lösung für den Garnisonfriedhof. Wie Schulze fordert auch er ein klares Bekenntnis zum „historischen Lernort“ und will das notfalls mittels eines Antrages im Stadtrat auf den Weg bringen.

Anmerkungen der Autorin: Der Artikel entspricht bis auf einige kleine Änderungen dem, der am 23. Februar 2015 in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschien.

Der Soldat und das Mädchen – aus den Erinnerungen sowjetischer Soldaten in Ostdeutschland.

Michail Gordejew und Heike Michel. Das Foto entstand 1978 auf dem damaligen Kasernengelände, dem heutigen Festpielhaus-Areal in Hellerau.
Michail Gordejew und Heike Michel. Das Foto entstand 1978 auf dem damaligen Kasernengelände, dem heutigen Festpielhaus-Areal in Hellerau.
Fast ein halbes Menschenleben muss Michail Gordejew zurückgehen, will er sich die Stadt vor Augen rufen, in der er einst eineinhalb Jahres seines Lebens verbrachte. Die Stadt ist nicht mehr dieselbe, Gordejew längst kein junger Mann mehr. Seine Haare sind ergraut, daheim, in der russischen Kleinstadt Poljewskoi, 40 Kilometer südwestlich der Millionenstadt Jekaterinburg, spielen die beiden Enkel im Garten. Auch die Welt ist mittlerweile eine andere geworden. Als Gordejew im Mai 1978 als 19-Jähriger nach Dresden kommt, stehen sich Ost und West unversöhnlich im Kalten Krieg gegenüber. Der Junge aus dem Ural wird in die DDR geschickt, um in Dresden seinen Wehrdienst in der Sowjetarmee abzuleisten. 35 Jahre nach seiner Heimkehr existieren weder die DDR noch die Sowjetunion. Dresden hat Mischa, wie ihn Freunde nennen, seit damals nicht wiedergesehen, die Erinnerung verblasst langsam. Doch etwas hat er bis heute nicht vergessen: Locken, ein gewinnendes Lächeln, ein Name: Heike.

KaserneLinksHeuteEZKEs ist Frühling, als Gordejew in Dresden ankommt. Viel sieht er nicht von der Stadt. Vom Bahnhof geht es direkt in die Kaserne in Hellerau. Auf dem Territorium des heutigen Festspielhauses ist damals das 189. Sanitätsbataillon der 11. Gardepanzerdivision stationiert, die Spielstätte selbst eine Mischung aus Lazarett, Kaserne und Sporthalle, Deutsche haben hier nur mit Passierschein Zutritt. Riesige Siegesikonen an den Wänden im Treppenhaus erinnern bis heute an die militärische Nutzung. Ein Soldat schuf sie just 1979, in Mischas letztem Jahr.

Mischa dient in der Nachrichtenkompanie des Bataillons. Es sei eine anständige Einheit gewesen, sagt er. „Insgesamt habe ich gute Erinnerungen. Fast jeden Tag habe ich aus dem Stab die Post für die Einheit geholt“, erinnert sich der 56-Jährige. Der Stab liegt in Klotzsche, im heutigen Akademiegelände der DGUV. Der junge Soldat geht die Strecke zu Fuß oder nimmt die Straßenbahn – ein kleiner Fetzen Freiheit im ansonsten von Restriktionen und bedingungsloser Unterordnung geprägten Militäralltag.
Im November 1978 kündigt sich eine deutsche Delegation in Hellerau an. „Das war der Tag, an dem ich Heike zum ersten Mal traf.“ Die Delegation besteht aus Studentinnen der Medizinischen Akademie, einer Lehrkraft sowie deren Ehemann – dem Kommandeur einer Dresdner Sanitätskompanie der NVA, der gute Beziehungen zu Gordejews Bataillonschef pflegt. Heike, die mit Nachnamen damals vermutlich Michel hieß, ist eine der Studentinnen. Solche Besuche sind nicht unüblich. Von oben verordnet und feierlich inszeniert, sollen sie die deutsch-sowjetische Freundschaft als Eckpfeiler des sozialistischen Selbstverständnisses demonstrieren.
Mischa darf die Delegation begleiten, man besichtigt die Kaserne, isst gemeinsam im Speisesaal, der heute ein frisch saniertes Mehrfamilienhaus ist. „Es ist schwer zu erklären, aber irgendwie fanden Heike und ich auf Anhieb eine gemeinsame Sprache.“ Zwischen beiden entwickelt sich ein Briefwechsel. „Ich schrieb ihr auf Deutsch, sie antwortete auf Russisch.“ Als er ihr ein Treffen außerhalb der Kaserne vorschlägt, wird die Abteilung für Inneres hellhörig. „Viel später sagte man mir, dass der Brief nicht durch die Zensur gelassen wurde.“

Michail Gordejew mit Heike Michel, Kameraden und den Studentinnen der Medak gegenüber dem Kasernengelände in der Karl-Liebknecht-Straße in Hellerau. Foto: Privatarchiv W. Zhirnow
Michail Gordejew mit Heike Michel, Kameraden und den Studentinnen der Medak gegenüber dem Kasernengelände in der Karl-Liebknecht-Straße in Hellerau. Foto: Privatarchiv W. Zhirnow

Ein sowjetischer Soldat und ein deutsches Mädchen – angesichts rund zehntausend sowjetischer Militärangehöriger, die in der Dresden quasi Tür an Tür mit den Einheimischen leben, keineswegs ausgeschlossen. Offiziell aber sind auch rein freundschaftliche Kontakte unerwünscht. Einfachen Soldaten wie Mischa sind sie strengstens untersagt. Wer sich dem Diktat widersetzt, riskiert Arrest oder in die Heimat versetzt zu werden. Die beiden jungen Leute schreiben sich dennoch weiter. „Heike gab Briefe ihrer Lehrerin, diese wiederum gab sie ihrem Mann, dem Major. Der brachte sie uns dann zu Freundschaftsbesuchen mit.“ Insgesamt drei Mal trifft Mischa Heike zu solchen Gelegenheiten persönlich. „Bei unserem letzten Treffen sagte sie mir, dass sie nach Leningrad reisen würde.“ Sie habe ihm mehr dazu schreiben wollen. Doch die Zensur ist gnadenlos: „Alle ‚kritischen‘ Passagen wurden stets herausgestrichen. Sie wollten einfach nicht, dass wir uns weiterhin treffen. Deshalb hat man dann wohl auch veranlasst, dass ich vorzeitig entlassen wurde.“ Im Oktober 1979 wird der inzwischen zum Unteroffizier aufgestiegene Mischa plötzlich demobilisiert. „Ich hatte Heike noch ein Foto von mir mit der Wohnadresse meiner Eltern auf der Rückseite geschickt“, aber dort hört man nie von ihr. Vermutlich habe auch das die Zensur kassiert.

Eigentlich, so Gordejew, der seit vielen Jahren glücklich verheiratet ist, zwei erwachsene Töchter hat, habe er nie ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, Heike ausfindig zu machen. „Erinnert habe ich mich aber all die Jahre an sie. Es drängt mich, zu erfahren, wie ihr Leben verlaufen ist.“ Er ist unsicher, den Weg der Medienöffentlichkeit zu gehen, in einem Land, dessen gesellschaftliche Gepflogenheiten ihm fremd sind. „Vielleicht will sie das ja gar nicht?“
Von Heike weiß er nur den Namen, dass sie ursprünglich aus Görlitz stammte, an der Medak lernte oder studierte und im dortigen Wohnheim lebte. „Gewiss hat sie geheiratet, heißt heute anders. Aber vielleicht erkennt sie sich ja und meldet sich“, hofft der ehemalige Soldat. Ein Ex-Kamerad entdeckt in der alten Divisionszeitung einen Artikel über die Freundschaftstreffen mit den Namen von Heikes Ausbilderin und deren Mann, des NVA-Majors. „Es handelt sich um das Ehepaar Rosemarie und Wolfgang Kestler. Sie hatten zwei Söhne namens Thomas und Jens. Thomas muss damals ungefähr 10 bis 12 Jahre alt gewesen sein und begleitete seine Mutter zu den Freundschaftstreffen“, erklärt Gordejew. Er hofft, damit den Kreis möglicher Hinweisgeber zu erweitern. Der 56-jährige Russe hofft auf ein Lebenszeichen. Ein Versuch, ein Kapitel seines Lebens zu schließen, das im Herbst 1979 abrupt endete.

Anmerkung der Autorin: Der Artikel erschien am 17. Februar 2014 in der Sächsischen Zeitung unter dem Titel „Der Soldat und das Mädchen“.

„Stas stirbt als Erstes.“

Eine betroffen machende Reportage von vorderster Front nahe Lugansk veröffentlichte das Wallstreet Journal vor zwei Wochen.  Es ist schade, dass sie so wenig öffentliche Beachtung erfahren hat, denn hier waren Journalisten – sozusagen „embedded“ – wohl erstmals direkt am Puls des Kampfgeschehens, als ukrainische Einheiten versuchten, die Kleinstadt Nowodruschesk nahe Lugansk wieder unter Kontrolle zu bringen. Separatisten hatten sie im April in ihre Gewalt gebracht, die örtlichen Behörden gestürmt, Arsenale geplündert und die Waffen an ihre Kämpfer und Unterstützter verteilt. Und das „Heer“ dieser Kämpfer und Unterstützer wächst täglich. Reporter James Marson berichtet, dass sich zusehends auch russische Freischärler unter die „Landwehr“ mischen, die über die nahe gelegene Grenze einsickern. Auch Tschetschenen sollen darunter sein – die sogenannten „Kadyrowzy“ (nach dem von Wladimir Putin eingesetzten „Präsidenten“ Ramzan Kadyrow). Meist sind es aber einfache Anwohner, die – aufgehetzt durch russische Medienpropaganda – die Waffen ergreifen. Ihre Gründe sind meist allzu menschlich: Sie wähnen sich einer faschistischen Junta und ihrem militärischen Arm gegenüber, sehen ihre Frauen und Kinder in Gefahr. Und doch ist all das aus westlicher, europäischer Sicht vollkommen unbegreiflich. Was bringt bisweilen bislang völlig unpolitische Menschen dazu, die Truppen der eigenen Regierung, deren Ziel nicht friedliebende Menschen, sondern Rebellen sind, die versuchen, das Land zu zerreißen, als Feinde zu betrachten? Warum bringt man den Rebellen, die zuvor Rathaus und Sicherheitsdienstzentrale stürmten und den Ort somit überhaupt erst in den Konflikt zogen, nicht dasselbe Misstrauen, denselben Hass entgegen?

„Wir wussten, dass wir sie nicht über die Brücke und in die Stadt kommen lassen konnten. Meine Frau und meine Töchter sind hier“

Der Mann, der so spricht, heißt Andrej Scharenko, 42, Bergmann aus Nowodruschesk. Viel gesehen hat Scharenko wohl nicht von der Welt, denn seine spielte sich vorrangig unter Tage ab. Was er von der realen Welt da draußen weiß, weiß er aus dem russischen Staatsfernsehen. Und das trichtert sowohl Russen als auch Ostukrainern und jenen, die es hören wollen, seit Monaten nur eines ein: Im Westen lauert der Faschismus. Fast schon beschwörend werden in nach außen hin stets den Anschein größtmöglicher Seriosität wahrenden Medienbeiträgen die Phrasen von der „Kiewer Junta“, von den „Faschisten in Kiew“, von den „Banderowzy“ (vermeintliche Anhänger des ukrainischen Untergrundkämpfers Stepan Bandera, dem sowjetische und bis heute russische Kreise eine Kooperation mit den Nazis während des Zweiten Weltkrieges vorwerfen) gestreut. In einer derartigen Intsensität und Dichte, dass diese Phrasen in Diskussionen zum Ukraine-Konflikt gerade bei den einfachen Leuten wie aus der Pistole geschossen kommen. Medienberichte kritisch zu hinterfragen, selbst zu recherchieren, nachzuforschen, die staatlich erzeugten Deutungsmuster an der Realität abgleichen zu wollen – es sind Dinge, die die Menschen im Osten der Ukraine nie gelernt haben. Andrej Scharenko gehört zu jener letzten Generation, die noch vollends in der Sowjetunion groß wurde, wo ein kritischer Verstand bestenfalls zu gesellschaftlicher Ächtung, schlimmstenfalls aber ins Straflager führte.

Getötete prorussische Separatisten werden in Donetzk in Särgen auf den Abtransport in die Heimat vorbereitet. Ein Anblick, der auf beiden Seiten immer häufiger wird. Foto: Associated Press
Getötete prorussische Separatisten werden in Donetzk in Särgen auf den Abtransport in die Heimat vorbereitet. Ein Anblick, der auf beiden Seiten immer häufiger wird. Foto: Associated Press

Spätestens hier wird offenbar, wie stark der Einfluss Moskaus im Osten der Ukraine bis heute ist – von Kiew anscheinend katastrophal unterschätzt. So etwas wie echte Integrationspolitik im Osten scheint es nie – weder unter Timoschenko und Juschtschenko noch unter Janukowitsch – gegeben zu haben. Stattdessen werden wir nun Zeugen der Folgen einer jahrelangen „eine-Hand-wäscht-die-andere“-Politik von halbherzig und oft unter fragwürdigen Methoden ausgehandelten Abkommen und Deals, um das Volk ruhig zu halten. Im nun eingetretenen Ernstfall bekommt Kiew die Quittung: Die Menschen im Osten hören  lieber auf die haarsträubende Propaganda aus Moskau statt auf die eigene Regierung. Kein Wunder, wenn Moskau blühende Landschaften verspricht, während nach 20 Jahren Kiewer Politik immer noch das Abwasser in offenen Gräben durch die Straßen des 9000-Einwohner-Städtchens Nowodruschesk fließt. Dessen Einwohner sind in großer Zahl in den Krieg gezogen – dass sie dabei auf ihre eigenen Landsleute schießen, scheint ihnen gleichgültig. Sie sehen in den ukrainischen Soldaten nicht die Brüder, die sie von marodierenden Rebellen befreien wollen, sondern blutrünstige Faschisten. In Russland und der Ostukraine hat sich längst ein geflügeltes Wort breit gemacht, das die Geschehnisse sowohl politisch als auch historisch einordnet: „Russischer Frühling“ – in der Ukraine wohlgemerkt. Es verzerrt einen nach innen terroristischen Akt – nämlich die gewaltsame Abspaltung von Staatsgebiet mit Unterstützung ausländischer Kräfte – zu einem revolutionären Befreiungsakt von ukrainischer Besatzung.

„Hungrige, ausgezehrte Soldaten in klapprigen Panzerfahrzeugen“

Auf der anderen Seite wirft die Reportage ernüchternde Schlaglichter auf den katastrophalen Ernährungs- und Ausrüstungsstand und somit Motivationsgrad innerhalb der ukrainischen Armee. Wobei „Armee“ eigentlich zu viel der Ehre ist für eine Truppe, die offenbar schlechter versorgt ist, als die Dorfrebellen, denen Frauen und Kinder mit Feldküchen an die Front folgen. Eigentlich sollte die ukrainische Armee in diesem Jahr von einer Wehrpflichtigen- in eine Berufsarmee umgewandelt, die Wehrpflicht – ähnlich wie in Deutschland – abgeschafft werden. Seit dem Ausbruch der Krise jedoch ist das zurückgestellt. Stattdessen müssen nun alle 18- bis 25-Jährigen wieder ihren Wehrdienst leisten. Zusätzlich hatte der damalige Übergangspräsident Alexander Turtschynow Anfang März aufgrund der russischen Aggression auf der Krim 40000 der rund 1 Million ukrainischen Reservisten mobilisiert. Allein – womit diese kämpfen, wo sie schlafen, wie sie eingekleidet und ausgerüstet und nicht zuletzt versorgt werden sollen – dafür gibt es anscheinend bis heute keinen handfesten Plan. Auch ein Grund, warum so viele ukrainische Soldaten die Flinte buchstäblich ins Korn werfen und sich den Rebellen ergeben. Warum sollten sie auch kämpfen, ihr Leben riskieren für eine Regierung, denen ihre Versorgung bislang egal war? Für Landsleute, die sie als Feinde erachten?

So lief es denn schließlich auch am 22. Mai bei Nowodruschesk, als etwa 100 von ihnen nach mehrstündigem Gefecht entnervt aufgaben und sich zurückzogen. Gewonnen hat an diesem Tage keiner – wie wahrscheinlich oft in diesen Tagen. Am Abend wird zur grausamen Routine des Krieges übergegangen: Totenzahlen vermelden -möglichst zu eigenen Gunsten. Ein ganzer Landstrich versinkt im Chaos. Die Menschlichkeit bleibt da zuerst auf der Strecke. Zwischen alledem leben Menschen. Menschen, die in ständiger Angst verharren. Jede alltägliche Verrichtung kann in einer Katastrophe enden. Wer sich ein wenig Klarsicht und Neutralität in diesem Krieg, der auch ein Krieg der Informationen ist, bewahrt hat, der sieht die Verfahrenheit der Situation, sieht, dass es keine Mordlust ist, die das ukrainische Militär treibt. Mancher macht die Einmischung Russlands für die Eskalation verantwortlich. Auch hier im Osten. Tatsächlich tun sich hier Gräben auf, die nur die Ukraine selbst wieder zuschütten kann. Weil sie sie selbst öffnete und Moskau somit einen idealen Einfallspunkt schuf. Doch was soll die Regierung tun, wenn die Separatisten nicht verhandeln wollen? Es gab eine Zeit, da stand die Tür in Kiew offen. Doch besoffen vom Adrenalin des sich abzeichnenden Krieges, von dem Gefühl des Großen, zu dem man sich berufen fühlte, lehnten die Rebellenführer jedwedes Angebot zum Dialog ab und peitschen ihre Referenden durch. Bis heute wollen sie mit Kiew nicht verhandeln – weshalb die gebetsmühlenartigen Forderungen Moskaus, die Separatisten an den Verhandlungstisch zu holen, schon beinahe zynisch anmuten. Es ist eine Situation daraus erwachsen, die keiner Seite noch viel Raum für ein Zurück lässt, ohne dabei vollständig das Gesicht zu verlieren.

 

Geschichte wird gefälscht, nicht geschrieben…

Der Konflikt in der Ukraine könnte weiter von einem Ende entfernt nicht sein, da ist er in Russland bereits „Geschichte“. Zumindest hat Präsident Wladimir Putin keine Zeit verloren, den Ablauf der Ereignisse aus seiner Perspektive in den Lehrplan an russischen Schulen aufzunehmen. Und so liest sich die Genese des Krieges im neuen Geschichtslehrbuch der Klasse 9 nun so:

Das neue Geschichtsbuch Klasse 9 an russischen Schulen weist die völkerrechtswidrige Annexion der Krim als Resultat einer angeblichen Diskriminierung der russischen Sprache durch die ukrainische Übergangsregierung aus. Quelle: www.stopfake.org
Das neue Geschichtsbuch Klasse 9 an russischen Schulen weist die völkerrechtswidrige Annexion der Krim als Resultat einer angeblichen Diskriminierung der russischen Sprache durch die ukrainische Übergangsregierung aus. Quelle: www.stopfake.org

„Um den Jahreswechsel 2013/14 wurde die Lage in der Ukraine angespannt. Im Februar wurde der legitime Präsident des Landes, V. Janukowitsch, gestürzt und die Opposition ergriff die Macht. Eine ihrer ersten Entscheidungen war die Abschaffung des Status der russischen Sprache und das Verbot ihrer Benutzung auf dem selben Level wie der ukrainischen. Der Oberste Soviet der autonomen Republik Krim, die Teil der Ukraine war, weigerte sich, der Kiewer Regierung Folge zu leisten.“

 

Des Weiteren ist zu lesen, dass am 16. März „96,77 Prozent der Krim-Bewohner“ und „95,6 Prozent der Bürger Sewastopols“ in einem Referendum für die Wiedervereinigung mit Russland stimmten.Auf der nächsten Seite wird die „Wiedervereinigung der Krim mit Russland“ als Meilenstein im Zahlenstrahl der russischen Geschichte gleich hinter den „Wahlen“ der Präsidenten Medwedjew (2008) und Putin (2012) genannt.

 

Dass diese Passage in einem Geschichtsbuch der 9. Klasse (!!) mit einer infamen Lüge beginnt – kaum einer der heute 15-Jährigen wird in 20 Jahren noch danach fragen, so viel ist sicher. Tatsächlich hat die Übergangsregierung lediglich laut darüber nachgedacht, das von Viktor Janukowitsch im Sommer 2012 in zwei umstrittenen Lesungen regelrecht durch das Parlament gepeitschte Sprachengesetz wieder rückgängig zu machen, das Russisch zur zweiten Amtssprache neben dem Ukrainischen erhoben hatte. Für das Gesetz, das Janukowitsch seinen hauptsächlich russischsprachigen Wählern zur Wahl versprochen hatte, hatten nach hitzigen Debatten und handgreiflichen Auseinandersetzungen schließlich doch noch 248 der 450 Abgeordneten votiert. Ein politik- und gesellschaftsübergreifender Dialog zum Thema Sprachen war der Entscheidung nicht vorausgegangen. Zahlreiche Ukrainer, die mit rund 75 Prozent die übergroße Mehrheit der Bevölkerungstellen, hatten gegen das Gesetz protestiert. Sie sahen die Anreize für die russischstämmige Bevölkerungsminderheit gekappt, sich in die ukrainische Gesellschaft zu integrieren und Ukrainisch zu lernen. Die Übergangsregierung in Kiew hat niemals ein Verbot der Gleichwertikeit der russischen Sprache beschlossen. Sie nahm von einer Wandelung des umstrittenen Gesetzes von 2012 aus Rücksicht auf die russischstämmige Bevölkerung der Ukraine ausrücklich Abstand und sagte im April der russischen Sprache gar einen Sonderstatus zu und versprach überdies, den Regionen mehr Autonomie einräumen zu wollen.

Kein Wort in dem gesamten Themenkomplex darüber, wie es überhaupt zum Referendum auf der Krim kam. Kein Wort über die 15000 russischen Soldaten, die das Referendum auf der Insel durchsetzen mussten.

Russische Soldaten im Februar 2014 auf der Krim. Foto: AFP
Russische Soldaten im Februar 2014 auf der Krim. Foto: AFP

Kein Wort über die Sturzflut an antiukrainischer und prorussischer Propaganda, die dem sogenannten Referendum wochenlang vorausging. Kein Wort über die Übergriffe prorussischer Aktivisten gegen Gegner des Referendums und des Anschlusses an Russland, über antisemitische Übergriffe auf Juden, die sich als Ukrainer und nicht als Russen betrachteten. Kein Wort darüber, dass die Krim seit 1992 zwar eine autonome Republik, qua ihrer Verfassung allerdings ein Teil der Ukraine ist. Kein Wort auch darüber, dass sich die Autonome Republik Krim nach wiederholten Anschlussbemühungen an Russland durch illegal gewählte „Präsidenten“ 1994 dazu verpflichtete, keinerlei Entscheidungen mehr zu treffen, die im Widerspruch zur ukrainischen Verfassung stehen. Nicht erwähnenswert auch der Umstand, dass die ukrainische Verfassung die Abspaltung einzelner Staatsgebiete – auch per Referendum – ausdrücklich verbietet und die Entscheidungsgewalt über eine solche ausschließlich dem ukrainischen Parlament bzw. einer landesweiten Volksabstimmung überträgt. Die Auflösung des Krim’schen Parlaments bzw. eine Absetzung dessen Präsidenten kann einzig und allein die Oberste Rada der Ukraine verfügen – am 27. Februar 2014 übernahm Letzteres unrechtmäßig das Parlament der Krim selbst – nachdem schwer bewaffnete prorussische Kämpfer das Parlamentsgebäude und mehrere andere öffentliche Gebäude besetzt hatten. Kein Wort auch darüber, dass diese Männer russische Uniformen und russische Waffen trugen und „die russische Bevölkerung der Krim schützen“ wollten. Kein Wort insbesondere auch davon, dass 158 von 169 Staaten der UN-Generalversammlung dem Anschluss der Krim durch Russland die Gefolgschaft verwehrten, 100 erklärten ihn zum Völkerrechtsbruch. Lediglich elf Staaten (darunter die autoritären Regime in Nordkorea, Syrien, Kuba, Venezuela, Bolivien, Sudan, Afghanistan, Weißrussland und Kasachstan) hießen die Annexion richtig.

Insgesamt entsetzt es, zu sehen, mit welcher Geschwindigkeit Präsident Wladimir Putin dazu übergegangen ist, die eigene Version der Ereignisse als unheilvolle Saat in die Köpfe der nachwachsenden Generation zu pflanzen. Aber dahingehend befindet sich die Ukraine-Krise fraglos in guter Tradition. Denn auf derselben Seite des Geschichtsbuches wird etwa Abchasien als „Staat“ ausgegeben, der infolge des Zerfalls der Sowjetunion entstand. Genannt wird die eigentlich völkerrechtlich zu Georgien gehörende, von Russland allerdings in ihrer Abtrünnigkeit unterstützte autonome Teilrepublik im Lehrbuch unter anderem in einem Atemzug mit „Usbekistan“, „Weißrussland“, „Kasachstan“, „Armenien“ und „Litauen“.

Und so arbeitet Wladimir Putin verbissen an der Ausbildung des regimetreuen Nachwuchses, indem er ihm ein Geschichtsverständnis anträgt, das frei von Selbstkritik und dafür umso erfüllter von Halb- und Unwahrheiten, gezielten Auslassungen und bisweilen hanebüchenen Deutungen ist.

Назад в Сталинград? – Zurück zu Stalingrad?

Ob Wowka weiß, wo er sich da reinmanövriert hat? In den letzten Monaten hat Russlands Präsident Wladimir Putin Nägel mit Köpfen gemacht. Den Kampf um die Ukraine hatte er gegen die EU verloren, die Umfragewerte seiner Partei bröckelten und so wirklich beliebt war der Vater der russischen Marktwirtschaft nie im Volk. Doch dann haute der, der sich so gern nackt reitend oder mit hübschen Frauen in der Presse porträtiert sieht, den entscheidenden Satz raus: „Der Zusammenbruch der Sowjetunion war die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts.“ Was Putin auch gesagt haben soll, aber von westlichen Medien meist vernachlässigt wird: Man solle möglichst viel davon wieder aufbauen. Damit traf der Präsident einen Nerv im Volk, den er eigentlich lange Zeit mühsam und gegen seine eigene Überzeugung abgeklemmt hatte: Die weit verbreitete Sowjetnostalgie durfte viele Jahre nicht zu hoch kochen, denn das hätte die florierenden wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Westen womöglich gefährdet, mit denen Putin in den letzten 20 Jahren nach dem Kollaps des sowjetischen Planwirtschaftssystems die russische Wirtschaft sanierte und  seine neue Mittelschicht aus der Taufe hob.

Jener Ausspruch jedenfalls löste einen Erdrutsch im Lande aus, der das Volk mit einem Schlag zu großen Teilen hinter seinen eigentlich verhassten – da als zu prowestlich verschrieenen – Präsidenten brachte. Endlich haute er mal auf den Tisch! Die Ukraine, dieses undankbare, seit 20 Jahren abspenstige Kind, wurde endlich gebührlich gemaßregelt, mit der Inaussichtstellung von „Novorossija“ – dem Neurussland – stehen endlich mal wieder Landgewinne auf dem Fünfjahresplan, und mit dem ständigen kritischen Rumgebohre in der eigenen Vergangenheit ist nun auch endlich Schluss. Im Gegenteil: Tscheka und KGB erleben ein nie geahntes Revival als heldenhafte Schutzpatronen des Vaterlandes und Väterchen Stalin – den Wowkas Opa einst bekochte – darf das Büßergewand nun offiziell ablegen. Und das Volk – es seufzt erleichtert auf: Endlich Schluss mit der nationalen Lethargie! Endlich gelten die alten Helden wieder was! Dass in Russland ein Kapitalismus herrscht, der selbst die Wirtschaftssysteme in den USA und in Europa wie ein laues Lüftchen aussehen lässt, dass weite Teile der Wirtschaft vollkommen abhängig von der Kooperation mit dem so verhassten Westen sind, dass der Computer, mit dem man den lieben langen Tag lang antiwestliche Propaganda ins westlichen Thinktanks entsprungene Internet hackt, aus amerikanischer und europäischer Produktion stammt, ebenso wie das Autor vor der Tür, das Mobiltelefon, die Kreditkarte und sogar das Leuchten aus der Lampe  – darüber sieht man dann schon mal getrost hinweg. Was sind elektrisches Licht und Skype gegen die Wiedergeburt der national-bolschewistischen Identität eines geschundenen Weltreiches?

Nun, so beliebt Wowka nun endlich beim Volke ist, so schwer lastet die Bürde des Erwartungsdrucks auf ihm. Um die nationale Hysterie der Massen (–> vergleiche dazu auch Gustave LeBons „Psychologie der Massen“, die schon Adolf Hitler inspirierte) Köcheln zu halten braucht es immer neuen Lockstoff, damit die Flamme der nationalen Erneuerung nicht ausgeht. Wie gut er die geschürt hat, zeigte sich nun letzte Woche. Da erreichte ihn im Kreml ein Ruf. Ob man die südrussische Stadt Wolgograd  nicht wieder in Stalingrad rückbenennen sollte, schlug unter anderem Vizeministerpräsident Dmitri Rogozhin vor. Natürlich nicht zu Ehren des GröSoFaz – des Größten sowjetischen Führeres aller Zeiten!! Sondern zu Ehren der Bürger der Stadt. Ach sooo… die freuen sich bestimmt. Besonders die Waisen, deren Eltern in Stalins Folterknästen umkamen… und genau deshalb kam der Vorschlag auch nicht von Bürgern oder Politikern der Stadt, sondern von Veteranenverbänden (die derzeit massiven Zulauf erhalten) und eben von (dritt-)höchster Stelle. Dmitri Rogozhin war übrigens in den 80er-Jahren Kommandeur des 40. Gardepanzerregiments, das in Königsbrück bei Dresden disloziert war, und brachte es in den 90ern auch zum Chef der 11. Gardepanzerdivision (Dresden).

Der Vorschlag, ausgerechnet jenen Namen, der 1925 in einem Akt des Größenwahns des GröSoFaz den ursprünglichen Namen Zarizyn (nach dem dort in die Wolga mündenden Fluss Zariza) ablöste, wiedereinzuführen, überrascht niemanden, der abgehärtet genug von den Entwicklungen der letzten Zeit ist. Er scheint vielmehr als logische Konsequenz. Der große militärische Sieg im Großen Vaterländischen Krieg 1945 strahlte fast 50 Jahre lang in sämtliche Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens in der Sowjetunion. Doch mit dem Zusammenbruch des Systems 1991 sollte all das plötzlich nichts mehr wert sein – für viele Russen eine ungeheuerliche Demütigung, die nicht hinnehmbar war.  Und nun die Wende! Nun gilt all das wieder was.  Und die schrittweise Rehabilitierung eines der größten Massenmörder der letzten 1000 Jahre würde mit der Revitalisierung des Symbols seiner Macht und Herrlichkeit eine ultimative Krönung erfahren. Krönung deshalb, weil Wolgograd bereits seit dem letzten Jahr an einschlägigen Gedenktagen, wie etwa dem zum Gedenken für die Befreiung der Stadt im Februar 1943, wieder zu „Stalingrad“ wird.

Nu, Wowka, was kommt denn aber nach „Stalingrad“? Die Ausrufung der Einheitspartei? Die Verankerung des Putinismus in der Verfassung? Mal sehen wie lange die Taktik aufgeht und das Volk nicht stutzig wird, weil du doch seit Neuestem lieber Benz und Porsche fährst statt GAZ und ZIL, während du gleichzeitig den Westen als „Satansland“ verteufelst, in dem ein homosexuelles Paar einer kinderreichen Familie gleichgestellt sei. Aber vielleicht stehen deine Chancen gar nicht so schlecht, denn du arbeitest ja mit Hochdruck daran, die Schicht der Klugen und Intelligenten aus dem Land zu jagen. Wer braucht schon Leute, die des kritischen und selbständigen Denkens fähig sind? Die machen doch nur Ärger, stellen unbequeme Fragen. Heil den simpel Gestrickten und den Proleten. Die sind für dumpfe, leicht verständliche und durch ständige Wiederholung gut auswendig zu lernende Phrasen immer zu haben.