Wolf in freier Wildbahn. Quelle: Flickr/Barnaby_S cc

Aus einer wolfslosen Zeit.

Gestern herrschte große Aufregung in unserem Dresdner Städtchen (so nennen wir unsere Kasernen) – die erste große Übung des Jahres! Die Schlange der LKW, die uns abholten, war so lang, dass sogar die breite Straße vor der Kaserne, die Fischer-Allee heißt, stundenlang gesperrt werden musste. Wird die Deutschen geärgert haben, weil das hier oben die Hauptverbindung zur Autobahn ist. Naja, neu war das nicht. Wir kennen das schon aus dem letzten Jahr. Dafür konnten unsere Grünschnäbel vor lauter Aufregung nachts kaum schlafen. Obwohl das wahrscheinlich auch Korsakows Sonderbehandlung zu verdanken war: Zwei der „balkenlosen“ ließ er die ganze Nacht Wache stehen – zur Vorbereitung, wie er sagt.  Fünf andere mussten unsere Stiefel, Kragen und Koppel auf Hochglanz bringen. Am Morgen hatten sie blaue Ringe unter den blutunterlaufenen Augen, und Korsakow kassierte auch noch ihre Marschverpflegung ein – zur Abhärtung, wie er sagt. Mir tun sie leid, obwohl ich das auch alles durchhabe.

Zur Übung ging es aufs Poligon, ungefähr 30 Kilometer nördlich von Dresden. Das Poligon ist ein trostloses Stück Mondlandschaft, bestehend aus Sand, Kratern, verrostenden Ausrüstungsteilen, Geschosshülsen und noch mal Sand bis zum Horizont. Auch Blindgänger liegen jede Menge da rum. Letzten Herbst hatte es zwei Offiziere erwischt, die abends betrunken mit dem GAZ-Kübelwagen rausgefahren und auf ein vergessenes Minenfeld geraten waren. In der Truppe erzählt man sich, die Deutschen hätten sie gelegt.

Truppenübungsplatz Königsbrücker Heide nahe Röhrsdorf, 80er-Jahre. Quelle: Odnoklassniki.

Die Mondlandschaft beginnt direkt hinter der Basis des Regiments, das nahe einem kleinen Dorf liegt. Rings um das Städtchen herum erkennt man, wie die Mondlandschaft vermutlich früher mal ausgesehen hat, ehe das Militär kam: eine satte, gründe Heidelandschaft mit Birken, Kiefern, flachen Sträuchern und Stauden, die im Frühjahr und Sommer in prachtvoller Blüte stehen, umsurrt von gold-schwarzen Bienen und Hummeln. Im Städtchen erzählen sie, dass es in der Mondlandschaft früher sogar Dörfer gegeben haben soll. Die sind längst nicht mehr. Aber draußen, nicht weit vom Territorium, gibt es eine Stelle, an der ragen seltsame Steinwälle wie Fundamente aus dem Boden.

Heide. Am linken Bildrand begann der Truppenübungsplatz. Quelle: Odnoklassniki
Territorium des Panzerausbildungszentrums Krakau der Sowjetischen Armee bei Röhrsdorf am Rande der Königsbrücker Heide, 1969. Blick über den Platz und in Richtung Heide. Etwa einen Kilometer hinter dem linken oberen Bildrand begann der Truppenübungsplatz. Quelle: Odnoklassniki

Nun sitzen wir hier den zweiten Tag in Folge. Wir hausen in Zelten hinter dem Territorium, weil das Städtchen überfüllt ist mit Artilleristen und Luftsturmtruppen – bei sechs Grad Außentemperatur kein Vergnügen. Aber nichts gegen das, was die Großväter einst an der Front aushalten mussten. Wir haben Zelte und warme Schlafsäcke, sie hausten in Erdlöchern auf Stroh, die in den Permafrostboden getrieben wurden. Tritt man hinaus fällt der Blick auf das tote Ödland zu unseren Füßen, auf dem nur vereinzelt ein einsamer Baum überlebt hat. Bei diesem Anblick fällt es schwer, zu glauben, dass die nächste Stadt nur wenige Kilometer entfernt ist. Im Wald, das das Städtchen umgibt, gibt es ein wenig Wild. Die Jungs streuen Mais, um es anzulocken und die kärgliche Verpflegung etwas aufzubessern. Aber da vorne, wo Panzer und Geschosse den Boden in einen benzin- und ölgetränkten Schweizer Käse verwandelt haben, existiert nichts mehr. Eine unheimliche Stille liegt nachts über der schwarzen Fläche, als wäre hier die Welt zu Ende. Schon im letzten Jahr hatte ich das mit einiger Bestürzung registriert.

Wolf in freier Wildbahn. Quelle: Flickr/Barnaby_S cc
Wolf in freier Wildbahn. Quelle: Flickr/Barnaby_S cc

Daheim reichen die Wälder fast bis an die Stadt. Dicht und weit sind sie – und voller Leben. Wild gibt es dort reichlich. Und Bären und Wölfe natürlich. Keiner der Offiziere und Ausbilder hier, die schon länger da sind, kann sich erinnern, jemals ein solches Tier hier erblickt zu haben. Daheim fürchten sich die Menschen vor ihnen. Hier aber fehlen sie, man vermisst sie regelrecht. Heute morgen sind wir acht Kilometer zum zentralen Manövergefechtsstand marschiert, um vom Regimentskommandeur unsere Aufgaben für die anstehende Übung entgegenzunehmen. Acht Kilometer nichts als aufgewühlte Erde und Totholz. Acht Kilometer nicht ein Lebewesen. In dem grauen Sande links und rechts von der Marschroute suchte ich nach Spuren von Tieren, wie wir es daheim häufig tun, wenn wir auf die Jagd gehen. Doch da war nichts. Aber wie sollten etwa Bären oder Wölfe hier auch überleben? Das bisschen Wild, das im Wäldchen lebt, und sonst keinerlei Nahrungsquellen. Sie würden ins Vieh der Kolchosen ringsum gehen – und die Menschen würden sie bekämpfen, bis sie sie ausgerottet hätten. Hier ist kein Raum für sie.

Ach wie vermisse ich meine Wälder! Die stillen, dunklen, undurchdringbaren der Heimat, rings um Sewerouralsk. Allen geht es hier so. Lutikow, wie ich aus dem Ural, oder Pjatnitzkij und Derkasch aus Karelien, Baityrin aus dem Altai. Die Jagd liegt uns im Blut, auch mir, der ich eigentlich ein Stadtkind bin. Aber mein liebstes Tier ist und war schon immer der Wolf, den man nachts in der Ferne heulen hören konnte. Der Wolf ist kein Beutetier, er ist der ungekrönte König der Berge, Wälder und Steppen. Wie kein anderer versteht er es, sich anzupassen. Er ist zäh, widerstandsfähig und ausdauernd. Selbst lange Zeit kann er unter widrigesten Umständen überleben. Und doch ist er irgendwo auch stets unser Feind, weil er in den harten Zeiten unsere wehrlosen Schafe reißt, weil sie eine leichte Beute sind. Nicht meine, wir haben keine. Aber die der Schäfer in den umliegenden Gebirgsdörfern. Die Menschen im Ural hassen den Wolf dafür, aber sie haben auch Respekt vor ihm, weil er die Wälder von krankem Wild säubert und somit auch das Vieh der Bauern vor Krankheit schützt. Sie jagen ihn, weil es ihn dort in Populationen gibt, die ihnen aber auch großen Schaden zufügen. Und dennoch – ich könnte keinen Wolf töten, dieses edle, stolze Tier. Es kämpft um seinen Lebensraum, um seine Existenz, zeigt einem übermächtigen Feind die Zähne: dem Menschen. Nun sitze ich vor dem Zelt im Dunkel am Rande des Mondes und lausche auf das vertraute Heulen. Vergeblich. Es gibt nicht mal Gras, das im Winde rascheln könnte.

wolf
Wolf mit Welpen in freier Wildbahn. Quelle: Flickr/Golo cc

Ich sah meinen ersten Wolf, als ich sieben war. Der Großvater und der Vater hatten mich das erste Mal mit auf die Jagd genommen. Als wir zu einem Platz zurückkehrten, an dem wir Stunden zuvor einen prächtigen Hirsch geschossen hatten, stießen wir auf ein einzelnes Tier, das vom blutigen Gras angelockt worden war. Es war mager und hatte ein struppiges, graues Fell. Es schien hungrig. Als es uns bemerkte, schien es mir, als ob es mir für Sekunden direkt ins Gesicht sah, mit seinen gelben, weisen Augen. Es erinnerte mich an Lirka, unseren Hund, der im Vorjahr gestorben war. Er war genauso mager gewesen, als er starb. Vater und Großvater legten ihre Flinten an, und der Wolf schien genau zu spüren, dass dies sein Ende sein würde. Aber er rührte sich nicht und sah mich unverwandt an. Vielleicht starrte er aber auch nur hungrig auf den Karren mit dem Hirsch, hinter dem ich in Deckung gegangen war, Kinn und Mund in das raue Fell gepresst. Dennoch konnte ich den Blick nicht abwenden. Und in dem Moment durchfuhr mich ein Gedanke: Hatte nicht auch er ein Recht, zu leben? Sein Tod würde uns nicht ernähren. Er nahm niemandem etwas weg, bedrohte niemanden. War nur hier, um sich die blutigen Reste unserer Jagd zu holen. „Nein!!“, schrie ich gellend, noch ehe die Alten abdrücken konnten. Der Wolf zuckte zusammen und stob im nächsten Augenblick davon. Die Salven verzogen und knatterten wirkungslos ins Unterholz. Trotz der wütenden Standpauke, die ich mir anhören durfte, war ich erleichtert und wie berauscht: Er würde leben. Vorerst. Wie gut es sich anfühlte, Leben zu retten, statt es auszulöschen!

Nun bin ich hier, um das Töten zu üben. Und ich vermisse den Wolf.
Deitsch, unser Polit, sagt, dass es in der gesamten DDR keine Wölfe gebe, und in den Wäldern rings um Dresden schon vor 200 Jahren der letzte Wolf getötet wurde. Deitsch liest und weiß viel. Von dem ideologischen Kram, den er uns einimpfen soll, glaubt ihm heute kaum ein Mensch mehr irgendetwas. Aber das mit den ausgerotteten Wölfen glaube ich ihm aufs Wort, nach dem, was ich hier gesehen habe.

Wolfsspur Königsbrücker Heide, ehemaliger Flugübungsplatz der Sowjetarmee. Foto: J. Jannke
Wolfsspur Königsbrücker Heide, ehemaliger Flugübungsplatz der Sowjetarmee, 2014. Foto: J. Jannke

Doch der Wolf bleibt kein Relikt. In einem Vierteljahrhundert wird es ihn hier wieder geben. Die trostlosen Schneisen des Todes und der Verwüstung, die die Armee geschaffen hat, werden verschwunden sein. Die Natur holt sich das vernarbte Land zurück. Und mit ihr kehrt auch der stille Jäger zurück, der jedes ihrer Geheimnisse kennt, weil er ein Teil von ihr ist und – anders als wir – im Einklang mit ihr lebt. Aber auch die alten Ängste, die alten Vorurteile. Der Mensch ist gnadenlos.

Diese Wolfsfährte verrät sich als solche durch die tiefen Pfotenabdrücke, die sich in fast schnurgerader Reihe ziehen. Hier war nicht ein Wolf, sondern mehrere am Werke. Quelle: J. Jannke
Diese Wolfsfährte verrät sich als solche durch die tiefen Pfotenabdrücke, die sich in fast schnurgerader Reihe ziehen. Hier war nicht ein Wolf, sondern mehrere am Werke. Quelle: J. Jannke

Er unterwirft sich die Erde und vernichtet rücksichtslos, was ihm im Wege ist. Auch der Versuch, sich selbst durch Gesetze zum Schutz der Natur und der Tiere Grenzen aufzuerlegen, ändert daran wenig. In Sewerouralsk, wo ich seit zehn Jahren wieder lebe, versteht niemand das Verhalten der Deutschen im 21. Jahrhundert. Sie holen sich den Wolf freiwillig zurück – und schimpfen dann darüber, dass er ihre Tiere reißt. In Sibirien werden sie sogar großangelegt zum Abschuss freigegeben, um ihren Bestand um über 80 Prozent zu senken.

Doch sie sehen die Welt aus anderer Perspektive: Für sie ist der Wolf ein Tier, das ihnen in der Menge seiner Vorkommen großen Schaden zufügen kann, den ihnen niemand ersetzt. Im modernen wiedervereinten Deutschland aber ist der Wolf eine bedrohte Art. Der Staat zahlt den Bauern Geld, damit sie ihre Weiden und Ställe sichern können. Und er zahlt Entschädigungen für jedes gerissene Tier. Noch nie habe ich zudem gehört, dass dort oder bei uns jemals ein Wolf einen Menschen angegriffen hätte. Trotzdem hängen die Menschen an ihren Ängsten, an ihrem Bild vom Wolf als grausamem kinderfressendem Monstrum. Und so blasen sie auch in Sachsen wieder zur Jagd – weil ein Wolf Menschen gefährlich werden KÖNNTE.

Dabei wird sich der Wolf ausgerechnet dort wieder ansiedeln, wo wir gerade unsere Bomben werfen. Genau hier, wo im Moment, im Frühjahr 1987, nichts als toter Sand ist. Er wird sich die abgelegensten Gebiete suchen, um dem Menschen aus dem Wege zu gehen. Und doch wird er mit ihnen stets im Spannungsfeld leben, denn ihre Reviere werden sich immer kreuzen. Es wird Wolfsspuren geben, wo jetzt nur die tiefen Furchen der Panzerketten sind. Und die Menschen werden sich wieder mit der Frage plagen: Wird der Wolf meine Kinder fressen, wenn sie in abgelegenen Dörfern im Wolfsgebiet zur Schule gehen? Der Mensch giert nach Macht und Sicherheit wie nach nichts anderem. Nur klüger wird er nicht. Diese Gier ist es, die die Menschheit immer wieder in Kriege treibt, wegen der wir letztlich hier sind und Krieg üben. Die bloße Möglichkeit, dass etwas passieren könnte, sorgt dafür, dass der Wunsch nach der Beseitigung einer Gefahr laut wird, noch ehe sie sich überhaupt als solche erwiesen hat. Dabei sollten die Menschen hier froh sein, dass sie mittlerweile wieder in einer Umgebung leben, die Leben hervorzubringen in der Lage und damit ein Lebensraum ist.

 

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