Analysen dessen, was in den vergangenen Tagen geschehen ist, fallen schwer. Sie sollten zumindest schwerfallen, angesichts der Erschütterungen, die die Welt zuletzt erfahren hat. Vielleicht wäre kollektives Schweigen, eine heilsame Stille, jetzt am angebrachtesten. Doch die Welt schweigt nicht. Sie heilt nicht. Sie wütet. Sie hasst. Sie lächzt nach Rache. Statt um Fassung ringt sie um einen undefinierbaren Sieg. Statt Trauer, Innehalten, Reflexion – Jetzt erst recht.
In dem Aufruhr nach dem Anschlag geht die Sehschärfe verloren, Konturen verwischen und damit auch der Blick auf das Ganze, über den eigenen Tellerrand hinaus. Dorthin, wo Leid und Tod Alltag sind und nicht nur alle paar Jahre auf verstörende Weise über friedens- und wohlstandsverwöhnte Gesellschaften hereinbrechen.
2000 Menschen sind in Nigeria in der letzten Woche bei einem Terroranschlag der Boko-Haram niedergemetzelt worden. Deren Divisionen des Schreckens rekrutieren sich aus Muslimen. Aber auch aus Tausenden erwachsen gewordener Kindersoldaten, die in den Bürgerkriegen Afrikas ihre Familien und ihre Kindheit verloren und zu seelenlosen Zombies wurden. Kriege, die von europäischen Mächten häufig indirekt befeuert oder mit Waffen unterstützt wurden. Was tut Europa angesichts Tausender, ausgelöscht an einem Tag? Es bringt Millionen auf die Straße – aber ihre Trauer, ihre Wut und ihr Entsetzen bleiben den 16 französischen Terroropfern vorbehalten. Man braucht die Kraft. Zum Beispiel, um die Millionenauflage jenes Blattes am heutigen Tag zu preisen, das mit seinen unappetitlichen Karikaturen keine Gelegenheit auslässt, Hass zu schüren, Konflikte zu vertiefen, ohne Blick für die wahren Probleme, die wahren Ursachen bestimmter Phänomene – eigentlich ein unverkennbares Markenzeichen seriöser, konstruktiver Satire. Jetzt erst recht. Statt mutiger Ausbrecher – nur Lemminge, die sich in die Masse flüchten und nicht sehen, dass sie gemeinsam auf den Abgrund zusteuern.
Das Hemd ist dem Menschen i. a. nun mal näher als der Rock, Paris ist näher als das nigerianische Baga. Und ob es 200 oder 2.000 Menschen waren, die dort Opfer der islamistischen Terrormiliz wurden, ist längst noch nicht klar. Dennoch nimmt der aufgeklärte und am Zeitgeschehen interessierte Mitteleuropäer es wahr – und findet es schrecklich.
Was tut Europa dagegen? Gegenfrage: Was tun die geistlichen Autoritäten des Islam dagegen, dass hasserfüllte Fanatiker andere Menschen umbringen und sich dabei subjektiv reinen Gewissens auf ihre Religion berufen dürfen? Hat denn in den vergangenen Tagen auch nur einer von Allahs Vertretern auf Erden das Wort ergriffen, um die Opfer des feigen Terroranschlags auf „Charlie Hebdo“ oder deren Hinterbliebene im Namen dieser Religion um Entschuldigung zu bitten? Mir ist davon jedenfalls nichts zur Kenntnis gelangt.
Nicht von ungefähr hat auch die Bundeskanzlerin in ihrer heutigen Erklärung vor dem Bundestag den Islam aufgefordert, „sein Verhältnis zu islamistischen Extremisten zu klären. Die Frage, warum radikale islamistische Terroristen ‚ihre Untaten stets mit ihrem Glauben verbinden‘, müsse durch die ‚Geistlichkeit des Islam‘ untersucht werden“.
Da besteht Handlungsbedarf – im Orient wie im Okzident, auf deren wie auf unserer Seite. Und ich glaube nicht, dass „kollektives Schweigen“ oder ein Standby-Modus uns einer Lösung näher bringen würde.
Man kann die Karikaturen der Pariser Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ intelligent oder auch „unappetitlich“ finden. Aber du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass damit „Hass geschürt“ oder „Konflikte vertieft“ werden? Ein hasserfüllter Mensch (und das waren die Attentäter von Paris offenbar, u. a. weil sie von Konflikten zerfressen waren zwischen dem, was ihre Religion ihnen vorgab, und dem, was ihr Alltagserleben war) wird immer einen Anlass und ein Ventil für seine Destruktivität suchen und finden. Heute waren es Karikaturisten, morgen werden es wieder die Passagiere eines Reisebusses oder die Teilnehmer einer Sportveranstaltung oder die Bewohner eines afrikanischen Dorfes sein, weil sie die vermeintlich falsche Religion oder gar keine Religion haben.
Religion ist immer in geistiger Hinsicht beschränkt, weil sie dem, der an sie glaubt, nicht zugesteht, des eigenständigen Denkens willens und fähig zu sein. Weil sie ihren Adepten nicht ermöglicht, „hinter die Fassade“ der Dinge und Menschen zu blicken und ihn stattdessen mit „einfachen Wahrheiten“ abzuspeisen versucht. Da sind andere Religionen wohl nicht besser als der Islam. Nur werden im Namen dieser anderen Religionen heutzutage nicht mal annähernd mehr so viele Menschen umgebracht wie in dem des Islam (dennoch würde ich niemals für „Pegida“ oder gegen Muslime auf die Straße gehen).
Und ja, lasst uns auch für die unschuldigen Opfer des Terrors in Nigeria aufstehen!
Hallo Peter,
Die Frage muss meiner Ansicht nach weniger heißen, was Europa gegen den Terror tut, sondern vielmehr: Wie konnte es zu der massiven Radikalisierung von Muslimen in Europa überhaupt kommen? Schau doch hin: Die Leute, die diese Anschläge verüben, die kommen längst nicht mehr aus Afghanistan oder Pakistan oder dem Jemen, die früher als Horte des Terrorismus galten. Sie kommen aus Frankreich, Deutschland, Italien, Großbritannien, sind vielfach sogar hier aufgewachsen. Die Frage muss lauten, warum sich diese Parameter derart ins Gegenteil verkehrt haben, warum islamistische Attentäter, die es ja auch früher schon gab, heute nicht mehr aus dem Nahen und Mittleren Osten kommen und ihre Anschläge im Dunstkreis des Nahostkonfliktes auch dort verüben, sondern warum sie heute aus den europäischen Staaten kommen und sich der Terror schrittweise hierher in unsere behüteten Wohlstandsgesellschaften verlagert hat. Wir haben hier mittlerweile eine Situation, die es vor dem 11. September 2001 und der massiven islamfeindlichen Welle, die daraufhin durch die westliche Welt ging, nie in diesem Maße hatten. Warum ist das so, und wie hängt das möglicherweise zusammen? Nur, wenn man eine Antwort auf diese Fragen findet, wird man auch wissen, was man gegen den Terror tun kann. Und das wird ohne kritische Selbstreflexion nicht auskommen.
Übrigens fängt kritische Selbstreflexion dort an, wo man von Muslimen in unserem Land etwas verlangt, das man von anderen Religionsegemeinschaften nicht fordert. Wer hat zum Beispiel vom Papst oder von den christlichen Kirchen gefordert, dass sie sich ganz klar von den barbarischen Kriegen in Vietnam oder Irak distanzieren, die im Namen Gottes geführt wurden, oder von fundamentalistischen christlichen Sekten wie den Organischen Christusgeneration? Wer fordert von der jüdischen Gemeinde in Deutschland, dass sie sich deutlich vom Vorgehen Israels im Nahostkonflikt distanziert? Niemand. Das wirft schon ein Schlaglicht darauf, dass es ein notorisches Ungleichgewicht in unserem Land gibt, was die Wahrnehmung dessen betrifft, was wir als moralische Pflicht der einzelnen religiösen Gemeinschaften in unserem Land begreifen – und das geht in allen Belangen klar zulasten des Islam. Dass das Folgen hat, darauf hätte eigentlich jeder auch ganz alleine kommen können.
Hallo Jane,
Vietnam- und Irak-Krieg waren sicher nicht in dem Maße religiös motiviert, wie es die Terroranschläge von „Nine-Eleven“ und nachfolgend in Europa waren und sind. Insofern sehe ich bezüglich der ersteren eher Staatschefs und die Bosse von Rüstungs- und anderen Konzernen in der Pflicht als den Papst oder andere Kirchenvertreter.
Auch fordert niemand, der halbwegs bei Sinnen ist, (heute noch) eine katholische, buddhistische, jüdische … Weltherrschaft. Wohingegen sich Terrororganisationen wie al-Qaida oder „Islamischer Staat“, von denen Attentäter, wie zuletzt die von Paris, indoktriniert werden, in ihrem Größenwahn und der damit verbundenen Wiederbelebung des mittelalterlichen Strebens nach einem Islamischen Weltreich auf den Totalitarismus ihrer Religion, die keine Trennung von Staat und Kirche, von „Diesseits“ und „Jenseits“ (wie in anderen Religionen und modernen Staatsgebilden üblich) kennt, berufen.
Dennoch wäre es sicher viel zu kurz gedacht, das Phänomen des Terrorismus (in Europa) ausschließlich auf religiösen Fanatismus zurück führen zu wollen. Taten wie die Morde von Paris sind wohl immer auch ein Aufschrei der Entrechteten. Derer, die permanent das Gefühl haben, nicht dazu zu gehören, nicht mithalten zu können, dem Irrsinn des sich zunehmend ungehemmt entfesselnden und globalisierenden Kapitalismus nichts (außer ihrem Glauben an einen allmächtigen Gott) entgegen zu setzen zu haben. Dumm (und tragisch) nur, dass es in Paris mit den Karikaturisten von „Charlie Hebdo“ die Falschen getroffen hat: nicht die, die das zu verantworten haben, sondern gewissermaßen die „Überbringer der Botschaft“.
Solange wir z.B. zigtausendfach Arbeitsmigranten (früher so euphemistisch wie zynisch als „Gastarbeiter“ bezeichnet) aus ärmeren und vermeintlich weniger entwickelten Ländern in unsere westlichen Wohlstandsgesellschaften holen und sie hier als „Lumpenproletariat“ Scheißhäuser putzen oder den Müll entsorgen lassen (falls wir ihnen überhaupt eine Chance geben, sich irgendwie nützlich zu fühlen), wird wohl auch künftig ab und zu einer mit der Kalaschnikow in der Hand dagegen aufbegehren.
Der Terrorismus hat sicher auch viel damit zu tun, wie unsere Welt strukturiert und aufgeteilt ist, dass sie nun mal keine gerechte ist und sich die Schere zwischen Arm und Reich tagtäglich ein bisschen weiter auftut (ca. die Hälfte der Menschheit lebt von weniger als 2 $ pro Tag, während andere in Palästen hausen). Und ich fürchte, da werden auch 150 weitere Forschungsprojekte und soziologische Studien, um den Zusammenhang zwischen Islam (-feindlichkeit) und Terrorismus in der westlichen Welt zu untersuchen, nichts dran ändern.
Hallo Peter,
ich darf Sie an ein Zitat George W. Bushs erinnern, mit dem er den Krieg im Irak rechtfertigte:
Er sagte damals: „God told me to end the tyranny in Iraq“
http://www.theguardian.com/world/2005/oct/07/iraq.usa
Besser könnten es muslimische Terroristen vermutlich nicht ausdrücken. Religiös motiviert sein können keinesfalls nur Geistliche. So, wie der Irakfeldzug Bush eine sicherlich politisch und wirtschaftlich, aber eben auch ganz klar religiös motivierter Akt war, so sind es auch die Terrorakte des politisierten, radikalisierten Islam.
Und was ist eigentlich der Unterschied, ob ich aus religiösen oder strategischen Motiven heraus die Weltherrschaft anstrebe? Warum sollte das eine weniger verwerflich sein als das andere? Letzteres ist seit Jahren Kernelement westlicher Politik. Warum, glauben Sie, sollten andere da zurückstehen müssen? Der Westen muss sich vielmehr fragen, ob ihm sein grenzenloses Vormachtstreben, das kaum je vor Menschenleben haltmachte, jetzt nicht vielleicht auf die Füße fällt.
Was Sie da schreiben, vom „islamischen Weltreich“, glauben Sie das eigentlich selbst? Wenn überhaupt, dann strebt das eine verschwindend kleine, radikale Gruppe von Muslimen an. Auf die absolute Mehrzahl der Muslime ist das in keinster Weise anwendbar. Und viel zu selten wird immer noch danach gefragt, WARUM für Menschen, die eigentlich in einem säkularen und demokratischen Land aufgewachsen sind, plötzlich religiöse Hassprediger zu Identitätsstiftern werden? Warum gab es das vor 15 Jahren in diesem Maße noch nicht?
Ob nun Weltreich oder nicht: Überall dort, wo sie für wegbrechende soziale Bindungen einspringt, erreicht Religion Macht. Das kann man nicht zuletzt seit Jahren in Russland beobachten, wo die orthodoxe Kirche seit Kurzem zum Krieg gegen die Ukraine aufruft, Freiwillige und Kriegsmaterial segnet. Man kann das Gleiche im Nahen Osten erleben, wo es gerade die religiösen Juden sind, die die Besatzung immer wieder rechtfertigen und sogar eine Ausdehnung der Landnahme fordern. Der Staat Israel steht symbolisch für die maximale Verschmelzung für Staat und Religion, denn ohne Religion gäbe es ihn gar nicht.
Im Übrigen kennt keine der Weltreligionen eine Trennung von Kirche und Staat. Diese wurde in blutigen Revolutionen vom Bürgertum erstritten.
Hallo Jane,
haben Sie Dank für die ausführliche Entgegnung meiner Gedanken.
Religionskritik ist nicht mein zentrales Anliegen. Dennoch denke ich, dass, wenn man den Ursachen des islamistischen Terrors auf den Grund zu gehen sucht, diese nicht nur, aber auch im Islam selbst suchen muss – und dabei nicht umhin kommt, die Sonderstellung, die der Islam unter den Weltreligionen inne hat, etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
Sie haben Recht: Auch andere Religionen kennen von Hause aus keine Trennung zwischen geistlich und weltlich, Kirche und Staat. Während diese sich aber weiter entwickelt und den Gegebenheiten ihrer Umwelt angepasst haben (Beispiel: Reformationsbewegung im Christentum), scheinen historische Umwälzungen und veränderte Moralvorstellungen der Neuzeit am Islam scheinbar spurlos vorbei gegangen zu sein. Auch gebart sich keine andere Religion heute mehr in dem Maße als „Gesetzesreligion“, wie es beim Islam der Fall ist, Stichwort „Scharia“.
Der Ratifizierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO haben sich 1990 anlässlich der Außenministerkonferenz der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) 57 (in Worten: siebenundfünfzig) islamische Staaten entgegen gesetzt und statt dessen die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ beschlossen, die ihnen formal ermöglicht, die Scharia als Grundlage der Gerichtsbarkeit und Rechtssprechung heranzuziehen.
Nun schafft es zwar nur alle paar Monate eine entsprechende Meldung in unsere Medienlandschaft. Aber es gibt durchaus islamische Staaten, in denen es nicht unüblich ist, einem ertappten Ladendieb (heute wie vor hunderten Jahren) Finger oder die ganze Hand abzuhacken oder eine des Ehebruchs bezichtigte Frau bis zum Hals in den Sand einzugraben, wonach die Sippe des „gehörnten“ Ehemanns sie zu einem qualvollen und grausamen Tod steinigt. Oder nehmen Sie nur beispielhaft die vieltausendfache Genitalverstümmelung von Mädchen und jungen Frauen, die auch heute noch im Jemen und in vielen afrikanischen Staaten im Namen der Religion und der „Tradition“ gängige Praxis ist.
Oder das „Bildnisverbot“. Das gibt es außer im Islam auch in anderen Religionen, die einen singulären Gott anbeten. Aber vermutlich muss jemand, der einen alten Mann mit Zottelbart zeichnet und drunter schreibt: „Das ist der Gott der Christen“ nicht damit rechnen, mit Maschinengewehrsalven niedergestreckt zu werden. Oder dass Kirchen in Brand gesetzt werden wie dieser Tage in Niger als „Protest“ gegen die „Charlie Hebdo“-Karikaturen, oder dass eine Zeitung nach dem Abdruck des Slogans „Je suis Charlie“ verboten wird, wie im Iran geschehen.
Sie wissen das bestimmt, vielleicht aber nicht alle Ihrer Leser. Was mich betrifft, so bin ich weder islamophob noch islamophil, so wie ich auch mit keiner anderen Religion etwas „am Hut“ habe. Aber ich halte auch nichts davon, die Welt durch eine „rosarote Brille“ zu betrachten. Und dass eine Religion, die einen so grausamen, unbarmherzigen und humorlosen Gott anbetet wie den des Islam, durchaus auch Gefühle wie Hass und Todessehnsucht bei ihren Anhängern hervorzurufen vermag, erscheint mir nicht gänzlich unplausibel.
Was Sie über das Expansionsstreben „des Westens“ (ich nenne es schlicht „Kapitalismus“) und die zunehmende soziale Kälte und Bindungslosigkeit in unserer Gesellschaft schreiben, sehe ich ganz ähnlich. Allerdings lassen Sie, wenn ich in Ihrem Weblog etwas weiter zurück gehe, aber auch nicht wirklich ein „gutes Haar“ an der DDR und dem Sozialismus, wo es möglicherweise nicht ganz so sozial kalt war und wo mehr staatliche Kontrolle und Einflussnahme die schlimmsten Auswüchse menschlicher Niedertracht verhinderten.
Verraten Sie mir (und anderen Lesern) doch mal, wofür Sie stehen und wie eine Welt und ein menschliches Gemeinwesen aussähe, das in Ihren Augen Bestand hätte. Wenn das für die Mehrzahl aller Menschen besser ist als das, was wir jetzt haben und überdies auch noch realistisch und machbar ist, schließe ich mich Ihnen gerne an.
Mit freundlichen Grüßen
Peter Müller
Zitat: „Religionskritik ist nicht mein zentrales Anliegen. Dennoch denke ich, dass, wenn man den Ursachen des islamistischen Terrors auf den Grund zu gehen sucht, diese nicht nur, aber auch im Islam selbst suchen muss“
Das habe ich auch nicht bestritten. Doch verursacht einem die derzeitige Situation das Gefühl, dass dieses „auch“ die zentrale Rolle spielt, und das „nicht nur“ eher außer Acht bleibt.
Ich denke auch, dass es nur mit Ursachensuche nicht getan ist, sondern dass man auch einen kritischen Abgleich bei der Wahrnehmung von islamistischem und Terror durch andere fundamentalistische religiöse Strömungen vornehmen muss.
Damit könnte man zum Beispiel konkret den Nahostkonflikt ansprechen. Die gesamte Situation, die wir heute dort haben, ist auf religiös-fundamentalistisch gerechtfertigte territoriale Ansprüche zurückzuführen.
„Während diese sich aber weiter entwickelt und den Gegebenheiten ihrer Umwelt angepasst haben (Beispiel: Reformationsbewegung im Christentum),“
Schon diesen Gedankenansatz halte ich ehrlich gesagt für einen Irrweg, denn er postuliert, dass sich Christentum (und Judentum?) gleichsam „weiterentwickelt“ haben, während der Islam dies als Religion nicht getan habe. Das ist aber nicht richtig. Der Islam hat zahlreiche Wandlungen durchlaufen, sonst gäbe es heute keine Schiiten, Sunniten, Wahabiten oder Aleviten. Sie alle deuten den Koran vollkommen verschieden, bisweilen sind die Unterschiede sogar riesig. Wenn der Islam nicht fähig zur Säkularisierung wäre, könnten Muslime in christlich geprägten Mehrheitsgesellschaften nicht leben, ohne ständig an gesetzliche Grenzen zu stoßen. Die große Mehrzahl der Muslime in modernen westlichen Gesellschaften haben ihren Glauben hingegen sehr wohl an die dortigen Lebensumstände angepasst – und das trifft ebenso auf die dortigen muslimischen Gemeinden zu.
Andersherum gibt es aber auch immer wieder christlich- und jüdisch-fundamentalistische Gruppierungen in westlichen Ländern, die sich NICHT anpassen wollen, und die teils mit Gewalt ihre eigenen Ziele vorantreiben. Ich erinnere nur an David Koresh, die christlich-fundamentalistische Aum-Sekte in Japan, Timothy McVeigh, Zeev Jabotinski, die Aparthaid-Mönche von Burma oder Jigal Amir. Nur weil alle diese Leute meinten, aus der Bibel bzw. dem Talmud eine Berechtigung für ihre furchtbaren Taten herauszulesen, würde man wohl kaum meinen, dass Christen- und Judentum von Grund auf gewalttätig seien.
Dass in einigen muslimischen Ländern immer noch drakonische Strafen aus mohammedanischen Zeiten an der Tagesordnung sind, halte ich übrigens weniger für einen Beweis für die Blutrünstigkeit der Religion, sondern vielmehr für ein Indiz für eine grundlegende wirtschaftliche und zivilisatorische Rückständigkeit der dortigen Gesellschaften und politischen Systemen.
Den Nahostkonflikt auf „Terror durch andere fundamentalistische religiöse Strömungen“ (wobei mit „anderen“ vermutlich die jüdische Religion gemeint ist) zurückführen zu wollen, halte ich für kontraproduktiv. Konkret sieht dieser „Terror“ so aus, dass sich mit Israel ein Volk von ca. 8 Mio. Einwohnern (wobei 75% Juden sind) mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln (ja, auch mit militärischen) gegen die Forderungen des sich konstituierenden Staates Palästina und der PLO nach Rückführung von 6 – 8 Mio. Menschen (in der übergroßen Mehrzahl der islamischen Religion zugehörend) auf rechtmäßiges israelisches Staatsgebiet sowie in von Israel völkerrechtswidrig besetztes Westjordanland und Gazastreifen widersetzt. Dabei geht es um eine Fläche von zusammen knapp 30.000 km² (so groß wie das Bundesland Brandenburg bei einer Einwohnerzahl von 2,5 Mio.).
Wobei, als das Territorium den Holocaustüberlebenden nach dem II. Weltkrieg für die Gründung eines eigenen Staates zugesprochen wurde, gerade mal einige Hunderttausend Palästinenser ihre Heimat verlassen mussten. Auch aufgrund der exorbitanten Geburtenraten in den Flüchtlingslagern in Jordanien, Libanon und anderswo (Soziologen bezeichnen das Phänomen und die daraus resultierenden Probleme als „Youth Bulge“, das nur nebenbei bemerkt) und weil das Rückkehrrecht auch für die Nachkommen der damals Vertriebenen gelten soll, kommt die o. g. Zahl zustande.
Gäbe Israel den Forderungen der Palästinenser nach, kann niemand dafür garantieren, dass die Staaten der Arabischen Liga (deren Mitglied Palästina bzw. in dessen Vertretung als nicht voll anerkannter Staat die PLO ist) Palästina nicht als „Speerspitze“ für eine „ethnische Säuberung“ einsetzen würden. Was für die jüdische Bevölkerung bestenfalls eine Vertreibung, schlimmstenfalls einen erneuten Genozid bedeuten würde. Deshalb übt die Bundesrepublik Zurückhaltung bei der Anerkennung der Souveränität Palästinas. Und deshalb kämpfen die Israelis so verbissen – und nicht aus religiösem Fanatismus.
Was die „Fähigkeit des Islam zur Säkularisierung“ anbelangt, spricht die Realität in den meisten Islamischen Ländern eine andere Sprache. Derzeit gibt es sieben Länder, die in ihrer Staatsbezeichnung den Titel „Islamische Republik“ führen. In diesen, aber auch in vielen anderen Staaten, ist der Islam „Staatsreligion“. Das heißt, es gibt keine Religionsfreiheit (wie in allen Demokratien der westlich Welt seit langem üblich). Stattdessen gibt es ein Religionsministerium, eine Religionspolizei und andere Instanzen, die darüber wachen, dass alles, was geschieht, „in Allahs Namen“ ist. Der „Abfall vom Glauben“, sprich, das öffentliche Bekenntnis, sich keiner oder einer anderen Religion zugehörig zu fühlen, wird mit dem Tode bestraft.
Und dass es heute Schiiten, Sunniten und andere Strömungen im Islam gibt (die sich teilweise erbittert einander bekämpfen) hat nichts mit „Weiterentwicklung“ oder „Wandlungen“ zu tun. Zumindest nicht mit einer Wandlung, wie sie die beiden anderen monotheistischen Weltreligionen seit dem 18. Jh. im Zuge der Aufklärung erfahren haben.
Dem Islam steht diese Wandlung noch bevor. Und ob die Wandlung von einer „Religion des Gehorsams“ (als die er heute überwiegend in Erscheinung tritt) zu einer „Religion der Vernunft“ gelingt, davon hängt neben dem Weltfrieden wohl nicht zuletzt auch der innere soziale Frieden der Staaten ab, die in wachsender Zahl Flüchtlinge aus islamischen Ländern aufzunehmen bereit sind.
Wir (und die uns Regierenden) sollten uns (und sich), nachdem der Flash des Terrors von Paris vorüber ist und langsam wieder Normalität einkehrt, fragen, ob Sätze wie „der Islam gehört zu Deutschland“ – vor einiger Zeit einem Bundespräsidenten von dessen Referenten in den Mund geschrieben und von unserer Bundeskanzlerin erst kürzlich wieder neu aufgefrischt – wirklich richtig und hilfreich sind; oder ob da vielleicht nicht doch eine etwas differenziertere Betrachtung Not täte. Und ob man weiterhin jeden Montag akribisch die Zahl der PEGIDA-Demonstranten mit der der Gegendemonstranten verrechnen sollte, um sich dann beruhigt zurückzulehnen und zu sagen: „Okay, bundesweit mehr Gegendemonstranten, alles ‚im grünen Bereich‘, kein Handlungsbedarf“.
Ich spreche von einem Islam, in dem ein in breitem schwäbischen Dialekt sprechender Imam namens Husamuddin Meyer der Frage der Moderatorin, ob denn im Islam tatsächlich Ungläubige in der Hierarchie tiefer angesiedelt sind als Tiere, nicht viel mehr als ein süffisantes Grinsen entgegen zu setzen hat. So geschehen in der ZDF-Talkshow „Maybrit Illner“ am vergangenen Donnerstag.
Von einem Islam, in dem sich in unserem Land junge Frauen in die Illegalität begeben oder von den Behörden mit neuer Identität ausgestattet werden müssen, weil sie sich weigern, den Mann zu ehelichen, den die Familie für sie ausgesucht hat und der älteste Bruder deshalb den Auftrag hat, sie zu ermorden.
Ich meine einen Islam, in dem das Schulversagen und die daraus resultierende Chancenlosigkeit von Kindern und Jugendlichen auch darauf zurück zu führen ist, dass sie zuhause gesagt bekommen: „Die Lehrerin hat dir nichts zu sagen, weil sie eine Frau ist, und was der Lehrer sagt, ist falsch, weil er ein Ungläubiger ist“.
Einen Islam, der es bis heute (in D) nicht geschafft hat, sich im Namen der Religion und der muslimischen Verbände und Gemeinden klar, eindeutig und nachvollziehbar von den feigen Morden von Paris zu distanzieren und kund zu tun, was man zu machen gedenke, um derartigem künftig entgegen zu wirken. Und das sicher nicht aus „Mangel an Gelegenheit“, sondern weil man es „billigend in Kauf nimmt“.
Und nicht zuletzt einen Islam, in dem Kritiker aus den eigenen Reihen eingeschüchtert und mundtot zu machen versucht werden. In D aktuell z.B. der an der Uni Münster lehrende Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide wegen seines 2012 erschienen Buches „Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion“ sowie der Politologe Hamed Abdel-Samad für sein 2014 erschienenes Buch „Der islamische Faschismus. Eine Analyse“. Über beide wurde offiziell die Todes-Fatwa verhängt. Was soviel bedeutet, wie dass jeder, der „des rechten Glaubens ist“, also jeder Moslem, sie auf der Stelle und ohne Gerichtsverfahren töten darf und weshalb beide unter Polizeischutz stehen.
Die Liste ließe sich beliebig erweitern, z.B. hinsichtlich dessen, was die Rechte von Frauen oder den Umgang mit Homosexualität im Islam anbelangt. Und ziemlich sicher ließen sich zur Rechtfertigung der o. g. Handlungen auch Belege in Bibel oder Tora finden. Nur scheint es sich bei deren Gläubigen im Laufe der Jahrhunderte herumgesprochen zu haben, dass das alles nicht so ganz wörtlich zu nehmen ist.
Ich will auch gar nicht verschweigen oder kleinreden, dass wir in D auch unter Einheimischen (also auch unter Menschen christlichen oder gar keines Glaubens) ein Riesenproblem mit Ausländerfeindlichkeit, Intoleranz, Rechtsradikalismus, bis hin zu offen faschistoiden Gedankenguts in den Köpfen vieler Menschen haben. Aber wir haben eben auch ein nicht wegzudiskutierendes Problem mit dem Islam. Und vor allem hat dieser eines mit sich selbst.
In der Frage des Nahostkonfliktes geht es gar nicht um konkrete Forderungen, sondern zunächst erst mal um die Frage, wie alles begann, auf welcher Grundlage der Staat Israel legitimiert wurde. Warum stellen die arabisch-islamischen Nachbarn den Staat so sehr infrage? Weil sie von Grund auf antisemitisch sind? Sicher nicht. Vor der zionistischen Besiedelung Palästinas lebten Juden und Araber vergleichsweise friedlich und einträchtigt miteinander in dieser Gegend. Der Nahostkonflikt begann, als europäische Zionisten in all ihrem chauvinistischem Hochmut daherkamen und dieses Land als historische Heimstatt des jüdischen Volkes für sich reklamierten. Durch gezielt gesteuerte Einwanderung wurde anschließend versucht, so schnell wie möglich eine jüdische Bevölkerungsmehrheit in Palästine zu kreieren – und das ging zunehmen zulasten der Einheimischen. Um den Nahostkonflikt lösen zu können, muss man seine Wirkweise verstehen. Und um die zu verstehen, muss man seine Genese kennen.
Im Übrigen finde ich deine Formulierung bemerkenswert, gerade vor dem Hintergrund, dass in Deutschland sich gerade Bewegungen formieren, die nach Möglichkeit eine schnellere Abschiebung unerwünschter Flüchtlinge fordert, die man hier nicht haben will. Was, wenn der Libanon, Jordnien oder Ägypten, die den größten Teil jener übrigens fünf, nicht 6-8 Millionen Vertriebenen aus Palästina aufgenommen haben, das Gleiche machen würden? Was denn dann? Unabhängig davon wird man sich der Frage der Rechte dieser Menschen auf eine Rückkehr in ihre angestammte Heimat annehmen müssen. Alles andere wäre ein Skandal, denn es wäre wohl das erste Mal in Zeiten der international institutionalisierten Menschenrechte, dass ein Staat Menschen vertreiben darf und dies auch noch international anerkannt würde.
Du persönlich musst dich zudem fragen lassen, wie es sein kann, dass du über „einige Hunderttausende“ Vertriebene sprichst, als handele es sich um einen Klacks. Wer Landnahme unter Vertreibung und Tötung von Menschen rechtfertigt, der redet Totalitarismus und Willkür das Wort.
Was den Islam anbelangt, kommen wir hier wohl kaum weiter. Wir reden im Prinzip aneinander vorbei. Du möchtest in den Zuständen in „den meisten islamischen Ländern“ eine konkrete Unfähigkeit des Islam zur Reform ablesen, ignorierst aber geflissentlich die äußeren Bedingungen, die eine Reform in Richtung Säkularisierung erfordert, und die im arabischen Kulturkreis fast nirgends gegeben sind. Asien und der Orient sind einige der ganz wenigen Gebiete, die zu erobern die Europäer nie wirklich geschafft haben. Dort, wo sie es schafften, wird man auch Staaten finden, die stark von europäischen Werten geprägt sind. Dort wird auch der Islam eine wesentlich geringere Rolle in der Politik spielen als in Gegenden, in denen sich westliche Einflüsse nie durchsetzen konnten. Beste Beispiele dafür sind Syrien, der Libanon, aber auch Tunesien, Algerien usw. Dort wird man einen ganz anderen Islam vorfinden als in Saudi-Arabien oder im Iran. Diese beiden Länder haben nie unter europäischem Einfluss gestanden, die Werte und Strukturen dort unterscheiden sich fundamental von denen etwa in Syrien oder im Libanon, wo es konkordanzdemokratische Systeme (wenngleich mit ziemlichen Defekten) gibt. Wenn der Islam nicht reformfähig wäre, dann würde es solche Systeme nicht geben. In Syrien mag es derzeit viele Probleme geben. Aber unter Baschar al Asad wurde keinem Dieb die Hand abgeschlagen, und Frauen durften unverschleiert herumlaufen und studieren.